Efeu - Die Kulturrundschau

Poetik des Brechens

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2016. In der NZZ macht sich Georg Klein mit seinem künftigen Pflegeroboter vertraut. Im Logbuch Suhrkamp analysiert Marie Luise Knott die Wespe in Marcel Beyers Mund. Im Freitext-Blog stellt Senthuran Varatharajah den Dichter Ocean Vuong vor. Der Musikexpress unterhält sich mit Christoph Hochhäusler über das Genrekino in Deutschland. In Spon schildert die Fotografin Regine Schmeken ihre Arbeit über die Tatorte der NSU-Morde. Die nachtkritik applaudiert Laura Linnenbaums Stück "Beate Uwe Uwe Selfie Klick".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.11.2016 finden Sie hier

Kunst




Die Fotografin Regine Schmeken legt eine Arbeit über die Tatorte der NSU-Morde vor - dass an den Orten nichts zu "erkennen" ist, sagt sie im Gespräch mit  Anne Haeming von Spiegel online selbst. Und doch: "Nehmen Sie den Tatort in Rostock, wo Mehmet Turgut ermordet wurde. Eine trostlose Gegend, die ich zwei Mal besuchte. Dennoch blieb der Gedanke: Zufällig wäre ich hier nie vorbeigekommen. Der Ort ist so abgelegen, wirkt willkürlich ausgewählt, dass man sich fragen muss: Wieso ausgerechnet dieser Mann - und zwar an dieser Stelle?" Die Fotos werden zur Zeit in Dresden ausgestellt.

Konrad Litschko zieht in der taz die These in Zweifel, dass die NSU-Mörder isoliert agiert hätten und spricht auch vom Rostocker Tatort, mehr in 9punkt.

Besprochen werden Ralph Loops Dokumentarfilm "Das Botticelli-Inferno" (Tagesspiegel), die Schau "You Say You Want a Revolution?" über die Umwälzungen in Musik, Design, Gesellschaft und Technik während der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre im Londoner Victoria and Albert Museum (Standard), die Ausstellung "Hinter dem Vorhang" im Museum Kunstpalast in Düsseldorf (NZZ) und die Ausstellung "Abstract Expressionism" in der Royal Academy of Arts in London, die FAZler Georg Imdahl zufolge sehr "opulent" und "muskulös" ausgefallen ist.
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Bühne


Szene aus "Beate Uwe Uwe Selfie Klick" in Chemnitz. Foto: © Dieter Wuschanski

In der nachtkritik applaudiert Lukas Pohlmann der Uraufführung von Laura Linnenbaums, nach einem Text von Gerhild Steinbuch entstandenen Stück "Beate Uwe Uwe Selfie Klick" am Theater Chemnitz. Fünf Gestalten sitzen auf ein paar Paletten am "Kulturhauptstrand Europa" und diskutieren die NSU-Morde. Mit dabei: eine Zschäpe-Puppe. "Die Puppe ist schon ein toller Kniff von Laura Linnenbaum. Wär käme denn auf die Idee, schon jetzt, noch während des Prozesses, eine Beate Zschäpe-Bühnenfigur 'in real' zu verkörpern? Im Fernsehen schon längst geschehen. Wie eine weitere großartige Szene schmerzlich erinnert: Schiller und Eisenkrämer beschreiben mikrofonbewehrt und effekthaschend den Biopic-Stil von Fernsehbildern, die statt einem Opfer ein Gesicht zu geben, der Täterin Zschäpe folgen. Auf den Hinweis, wie schmal und gefährlich der Grad zur Ikonisierung ist, können sie nach der Nummer getrost verzichten."

François Hollandes Vorhaben, bei Wiederwahl das schon seit längerem in Aussicht gestellte Theaterviertel in den Berthier-Werkhallen am Rande von Paris endlich in die Tat umzusetzen, hält Joseph Hanimann von der SZ für eine gute Idee. Der Situation des Pariser Betriebs käme ein solches Viertel gleich in mehrerlei Hinsicht entgegen: "Die Bastille-Oper käme zu ihrem geplanten, aber nie ausgeführten kleinen Saal sowie zu eigenen Kulissenwerkstätten. Die Comédie Française bekäme endlich eine Werkstattbühne. Das Odéon-Theater wäre mit seiner Zweitbühne am Stadtrand nicht mehr so allein und das staatliche Schauspielkonservatorium fände einen neuen, besser geeigneten Standort."

Besprochen werden Peter Michalziks "Spiel ohne Grenzen" am Nationaltheater Mannheim (FR), Toshiki Okadas "Time's Journey Through a Room" im Berliner HAU (Tagesspiegel), Özen Yulas Stück "Du schaust, und die Wolken ziehen" im Wiener Werk X  (nachtkritik) und Barrie Koskys Londoner Inszenierung von Schostakowitschs Oper "Die Nase" (SZ).
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Architektur



In der NZZ ist Jürgen Tietz eher enttäuscht vom Versuch, an der Spree eine Werkbundstadt zu bauen, ein neues, urbanes Quartier. Mit der Moderne, wie der Werkbund sie einst verkörperte, habe das Vorhaben jedenfalls nichts zu tun: "Das Ergebnis der baulichen Bemühungen dürften gut tausend recht solide Wohnungen sein, viele davon mit Fassaden im gängigen Berliner Retro-Chic, die auf dem ausgedörrten Wohnungsmarkt reissenden Absatz finden sollten. Unter den Projektbeteiligten finden sich auch Schweizer Architekten, unter ihnen die im Wohnungsbau erfahrenen Piet und Wim Eckert (E2A) und Max Dudler. Ob das geplante 'dichte urbane' Quartier, dessen Städtebau trotz einigen Höhepunkten letztlich im Berliner-Block-Dogmatismus hängenbleibt, jedoch einen substanziellen Beitrag zur Zukunft der Städte insgesamt liefert, erscheint fraglich."

Der Internationale Hochhauspreis 2016 geht an das von der dänischen Bjarke Ingels Gruppe konzipierte Wohnhaus VIA 57 West in New York, an dem sich studieren lasse, "wie sehr das Hochhaus ein urbanes Etwas aus dem Geist des Hybriden ist", wie Christian Thomas in der FR beteuert.
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Literatur

In der NZZ blickt Georg Klein in die Zukunft und macht sich schon mal mit seinem Pflegeroboter vertraut. Wie der aussehen soll, weiß er auch schon: "Die eine oder andere Schramme, die er sich beim Rangieren um frühere Betten zugezogen hat, soll mich nicht stören. Was seine kommende Gestalt angeht, will ich nur eine utopische Hoffnung hegen: Ich wäre heilfroh, wenn er dereinst nicht wie eine menschliche Pflegekraft, wenn er vor allem nicht wie eine heutige Krankenschwester aussähe. Ein gedrungener, nahezu kugeliger Rumpf wäre mir hingegen willkommen. Bei den kräftigen Greifarmen lässt sich eine primatenartige Anmutung natürlich nicht vermeiden. Und sein gummigedämpftes Fahrwerk wird nicht völlig lautlos, sondern mit einem beruhigend technischen Schnurren über das Laminat meiner letzten Gegenwart rollen."

Im Suhrkamp-Logbuch erklärt (an sich Perlentaucherin) Marie Luise Knott, was die Wespe in Marcel Beyers Mund macht: "In der frühen Kindheit ist der Mund jenes Organ, durch das wir die Welt unmittelbar und unvermittelt in uns aufnehmen und erkunden. Uns einverleiben: Wir essen Gras oder Sand, wir heben zärtlich ein Insekt vom Boden und stecken es erkenntnishungrig in den Mund, nicht anders als ein Stück Banane. Nichts weisen wir ab, alle Sinne sind mit von der Partie: Wir schmecken, tasten, riechen mit Zunge, Gaumen, Nase. Die Außenwelt tendiert dazu, uns nach und nach von dieser ursprünglichen Neugier zu trennen, nicht selten mit Gewalt." Und außerdem plädiert Knott dringendst dafür, das Thomas Klings gesammelte Gedichte wieder lieferabr gemacht werden.

In einem schönen, langen Essay im Freitext-Blog auf ZeitOnline umkreist der Schriftsteller Senthuran Varatharajah die Gedichte von Ocean Vuong, der Kriegserfahrungen und -verheerungen aufarbeitet: "Vielleicht kann nur so von Körpern und einem Krieg, der alles ordnet, weil er allem immer vorausgegangen sein wird, gesprochen werden; auch die Gestalt der Texte erhält von ihm ihre Bedeutung. Mit einem begrenzten Register an Motiven und Metaphern, aber mit einem ungewöhnlichen Gespür für kompositorische Strenge, unerwartete Assoziationen und Variationen, erzählt Vuong davon. ... [Vuongs] Poetik des Brechens - des Abbrechens, Zusammenbrechens und Knochenbrechens - widerspricht nicht der Zartheit seiner Sprache: Sie ist zerbrechlich genug, um nicht zu brechen. Und um von diesen Enjambements gebrochen zu werden, muss der Vers erst geschrieben worden sein."

In der FAZ meldet Jürg Altwegg die Gewinner der wichtigsten französischen Literaturpreise: Der Prix Goncourt geht an Leïla Slimani für "Chanson douce", der Prix Renaudot an Yasmina Reza für "Babylone", der Prix Fémina - nicht unumstritten - an Ivan Jablonkas literarisiertes Sachbuch "Laëtitia ou la fin des hommes" und der Essaypreis des Prix Renaudot an Aude Lancelin für ihre Abrechnung "Le Monde libre".

Weitere Artikel: In der NZZ wünscht sich Björn Hayer eine Literaturkritik, die der Form wieder mehr Beachtung schenkt. In Berlin eröffneten Etgar Keret und Daniel Kehlmann die Deutsch-Israelischen Literaturtage, berichtet Katharina Schantz in der taz. Im Forum des SWR2 diskutieren die Kritikerin Katrin Hillgruber und Schriftsteller Ingo Schulze über Peter Weiss. Für die FAZ hat Claudius Crönert das Storytelling-Festival in Edinburgh besucht. Hans Jürgen Balmes gratuliert in der SZ John Berger zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden eine Bilderbuchversion des Zeichentrickklassikers "Asterix erobert Rom" (Tagesspiegel), Bruce Springsteens Autobiografie (NZZ), Mahi Binebines Roman "Der Himmel gibt, der Himmel nimmt" (NZZ)  und Terézia Moras "Die Liebe unter Aliens" (ZeitOnline).

Mehr aus dem literarischen Leben auf: 


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Film

Im Interview mit dem Musikexpress erklärt Regisseur Christoph Hochhäusler, warum das Genrekino - abseits von Schweiger/Schweighöfer-Komödien - so wenig Interesse in Deutschland findet: Schwerwiegend ist für ihn "die Gewissheit, dass es kein hungriges Publikum gibt in Deutschland. Nur wenige Leute gehen ins Kino. Und die wenigsten gehen ins Kino, um einen deutschen Film zu sehen. Und die allerwenigsten gehen ins Kino, um einen anderen deutschen Film zu sehen außer den paar Erfolgsgaranten."

Daniel Kothenschulte ärgert sich in der FR über Simon Verhoevens Komödie "Willkommen bei den Hartmanns", in dem sich eine deutsche Familie dazu entschließt, einen Geflüchteten aufzunehmen: "Seit Günter Wallraff zu einem amerikanischen Talkshow-Thema wurde, weil er sich für eine Undercover-Doku das Gesicht schwarz schminkte, hat es keine so peinliche Darstellung eines Afrikaners mehr im deutschen Film gegeben."

Pünktlich zu Halloween kommt der Horrorfilm "Das Haus an der Friedhofsmauer" des lange Zeit als Trashfilmer legendär übel beleumundeten Regisseurs Lucio Fulci wieder in die Kinos. Unter Cinephilen genießt Fulcis Film allerdings inzwischen einen hervorragenden Ruf: "'Das Haus an der Fried­hofs­mauer' ist die perfekte Synthese aus Bild, Klang und Atmo­s­phäre zu einem meis­ter­li­chen Horror­film", schreibt Gregor Torinus auf Artechock.

Weitere Artikel: Elcke Eckert empfiehlt auf Artechock eine Münchner Hommage an Ettore Scola. Bei der Viennale standen in diesem Jahr Analogvorführungen alter Filmkopien im Vordergrund, berichtet Silvia Hallensleben in der taz (mehr dazu hier). Critic.de bringt Lukas Sterns Notizen vom DOK Leipzig und Sonja M. Schultz berichtet für critic.de weiterhin von den Hofer Filmtagen.

Besprochen werden Joachim Lafosses "Die Ökonomie der Liebe" (Tagesspiegel, SZ, FAZ), Natalie Portmans Verfilmung von Amos Oz' Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" (Artechock ZeitOnline).
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Musik

"Was für ein Geschenk", jubelt Jens Balzer von der Berliner Zeitung nach Durchhören von "Lodestar", dem ersten neuen Studioalbum der englischen Folksängerin Shirley Collins seit nahezu 40 Jahren. In ihrem Fach ist die Sängerin unbestritten "die größte", schwärmt der Popkritiker. "Von allen hatte sie fraglos die schönste Stimme, und das, weil diese von allen zugleich die schroffste und wundeste war. Kein idyllischer Wohlklang, kein Trugbild einer harmonisch-behaglichen Natur sprach aus ihrem Gesang, sondern das reife, gegerbte Timbre lebenslanger Mühsal und Last." Hier ein Video:



Schwer genervt ist Balzer von den jüngsten anti-israelischen Eskapaden von Roger Waters, dem früheren Frontmann der Pink Floyd: Den könne man mittlerweile wirklich mit Fug und Recht einen Antisemiten nennen. Weshalb "sich in Deutschland und anderswo auch jeder Musikmanager und Konzertagent fragen lassen [muss], ob er mit ihm zusammenarbeiten will. Wann kommt der totale Roger-Waters-Boykott? Die Menschheit hat dabei nichts zu verlieren außer schlechter Musik."

Für die taz hört Jens Uthoff neue Musik aus der bayerischen Kleinstadt Weilheim, der heimlichen Indie-Hauptstadt Deutschlands: Auf dem Livealbum "Superheroes, Ghostvillains + Stuff" von The Notwist zeigt sich der neu zur Band gestoßene Elektro-Frickelmeister Cico Beck von seiner glänzendsten Seite. Und Markus Achers Soloprojekt Rayon bietet auf "A Beat of Silence" von traditioneller indonesischer Musik inspirierte Schlummer-Drones: Prägnant für die Platte ist das "Zusammenwirken von Xylofonen und Glockenspiel auf der einen und dem Klavier und dem Harmonium auf der anderen Seite, manchmal unterlegt von einem meditativen Rauschen. Rayon verlangt aufmerksames Zuhören vom Rezipienten; belohnt wird dieser mit Klanglandschaften, die im hiesigen Kulturraum selten zu hören sind." Hier eine Klangprobe.

Eine sehr eigene Spielweise plegt der morgen beim Jazzfest Berlin auftretende Schlagzeuger Jack DeJohnette, wie wir aus dem taz-Interview erfahren, das Franziska Buhre mit ihm geführt hat: Er versteht sich als "Farbenkünstler. Ich trommle wie ein Maler, der Pastelle, Öl- und Wasserfarben aufträgt. ... Menschen in der westlichen Welt hören Drums nicht als melodisches Instrument, sondern als Begleitung. Ich spiele aber damit Melodien, gleichzeitig interagiere ich mit den anderen Musikern. Es ist ein Dialog, der innerhalb von Nanosekunden vor sich geht."

Weiteres: Für den Aufmacher der FAZ hat Philipp Krohn sich mit Marius Müller-Westernhagen unterhalten, der dieser Tage ein Unplugged-Album veröffentlicht.

Besprochen werden Andrew Peklers "Triste Tropiques" (Spex), das Berliner Konzert von Kate Tempest (taz), das neue Album von Robbie Williams (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, ZeitOnline) und ein Konzert von Warpaint (Tagesspiegel, die Spex bringt Fotos).
Archiv: Musik