05.11.2016. Die SZ bewundert den Drive-by-Architekturparcours in Westmanhattan. Die Berliner Zeitung möchte die "NSU Monologe" lieber nicht als emotionale Privatereignisse serviert bekommen. Die nachtkritik verweigert das Knien in Frankfurt Michael Thalheimers Theatergottesdienst um den Prinzen von Homburg. Die taz feiert den 100. von Peter Weiss mit einem Schwerpunkt. Endlich mal Gegenwart im deutschen Kino, applaudiert der Freitag Simon Verhoevens Komödie "Willkommen bei den Hartmanns".
Film, 05.11.2016
Herr Diallo (Eric Kabongo) bei den HartmannsDass
Eric Kabongo, der in
Simon Verhoevens Komödie "Willkommen bei den Hartmanns" einen Geflüchteten spielt, der bei einer deutschen Familie unterkommt, auf dem Kinoplakat zugunsten des deutschen Casts namentlich ungenannt bleibt,
bereitet Matthias Dell vom
Freitag zwar einiges Magenzwicken. Doch grundverkehrt findet er den Film nicht: Verhoevens Idee, die einzige in Deutschland populäre Komödien-Unterart - die männliche Regresskomödie - "mit großen politischen Fragen zu
belästigen", findet er sogar recht clever. "Kabongos Herr Diallo ist in dieser Anordnung zwar einerseits nur der Spiegel, in dem sich die Familie wieder versöhnen kann. ... Aber anders als in Bodo Kirchhoffs
Buchpreisgewinnernovelle, in der 'Flüchtlinge' dem westlichen Leben wieder Sinn geben, darf Diallo andererseits sprechen. Dem Film
tut die Gegenwart gut, wenngleich sie weirde Passagen komponiert." Auch Welt-Kritikerin Barbara Möller
lobt den Film.
Beim Zappen
ist tazler Christian Werthschule eine neue Tendenz aufgefallen: Amerikanische
Fernsehserien wenden sich vermehrt schwarzen Figuren und Facetten jüngerer
afroamerikanischer Geschichte zu: "Verhandelt wird darin nicht nur der US-Alltagsrassismus, sondern auch, wie man ein guter Vater wird oder was überhaupt
das Gemeinsame einer
afrodiasporischen Community sein könnte. Neu ist die Zeichensprache, in der diese Themen verhandelt werden: Alle bedienen sich des ausdifferenzierten Vokabulars von
HipHop." Dazu passend
schreibt Georg Seeßlen in
epdFilm über "
Popmythen im Fernsehen".
Besprochen werden
Chad Hartigans "Morris aus Amerika" (
Tagesspiegel, unsere Kritik
hier) und die neue
Netflix-Serie "The Crown" über
Elizabeth II. (
ZeitOnline).
Bühne, 05.11.2016
Für die am
Heimathafen Neukölln gezeigten "NSU Monologe" konnten erstmals auch Hinterbliebene der Opfer zur Mitarbeit an einem Stück über die NSU-Terroristen bewegt werden, wie Autor und Regisseur
Michael Ruf im Vorfeld vollmundig verkündete. Der Erkenntnisgewinn, den Doris Meierhenrich in der
Berliner Zeitung aus dem Abend zieht, bleibt angesichts der Fülle an Sachbüchern zum Thema allerdings überschaubar. Überhaupt
ist sie sehr skeptisch, was das Gestaltungskonzept dieses betont kunstlosen Theaters angeht: "Vier Schauspieler stehen wie bei einer heiligen Zeremonie an Standmikrofonen und bemühen sich,
mitfühlende Sprachrohre zu sein. ... Die Bekenntnisse, die sie 'authentisch' vortragen wollen, schrumpfen dadurch zu
bloßen emotionalen Privatereignissen." Weitere Besprechungen in
taz und
Nachtkritik.
Viel Form, wenig Ideen
bemerkte nachtkritikerin Esther Boldt in
Michael Thalheimers Inszenierung von Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" am
Schauspiel Frankfurt: "Was erzählt uns der 'Prinz Friedrich von Homburg', diese Geschichte einer Unterwerfung, in der die Staatsmacht einem Eigensinnigen mit brutalen Erziehungsmaßnahmen die Flausen austreibt, über
unsere Gegenwart? Thalheimer übergeht diese Frage elegant, indem er sich formbewusst auf sein Handwerk verlässt und seine Inszenierung in einen
Theatergottesdienst verwandelt."
Weitere Artikel: In der
SZ überlegt Christopher Schmidt, ob die
jüngsten Kündigungen von Theaterschauspielern an Münchner Bühnen einen Paradigmenwechsel im Theater ankündigen. Die
FAZ hat Christoph Menkes philosophisch-ästhetisches Plädoyer für den Fortbestand der Volksbühne im Castorf'schen Sinn
online nachgereicht.
Besprochen werden eine Choreografie von
Akram Khan für das English National Ballet, der "Giselle" unter bengalischen Textilarbeiterinnen ansiedelt (
NZZ),
Oliver Frljićs "Requiem für Europa" am Staatsschauspiel Dresden ("erschütternd" billiges Europa-Bashing, findet
nachtkritiker Wolfgang Behrens),
Alexander Giesches Adaption von Tom McCarthys Roman "8 ½ Millionen" an den Münchner Kammerspielen ("sterbensfad", seufzt
nachtkritikerin Sabine Leucht) und
Christopher Rüpings "Lolita"-Montage am Schauspiel Stuttgart (
nachtkritik,
FAZ).
Kunst, 05.11.2016
Keine geförderte Ausstellung mehr
ohne politisches Statement. Dabei geht das so oft schief,
seufzt in einem online nachgereichten
Zeit-Artikel Thomas E. Schmidt und sieht sich von der Ausstellung "Uncertain States" in der Berliner
Akademie der Künste bestätigt. Eva-Christina Meier
stellt in der
taz die
Pläne des Goethe-Instituts für das
Deutschlandjahr in Mexiko vor.
Tazler Roland Berg
gratuliert dem
Hamburger Bahnhof in Berlin zum 20jährigen Bestehen. In der
NZZ berichtet Eva Clausen von der
Artissima in Turin.
Besprochen werden ein Kino-Dokumentarfilm über
Robert Mapplethorpe (
FR, mehr dazu
hier),
die Ausstellung "
Hinter dem Vorhang - Verhüllung und Enthüllung seit der Renaissance" im
Museum Kunstpalast in Düsseldorf (
SZ), die Ausstellung "Blutiger Boden - Die
Tatorte der NSU" im
Militärhistorischen Museum in Dresden (
Tagesspiegel) und die Ausstellung "Scores" im
Hamburger Bahnhof in Berlin (
Tagesspiegel).
Literatur, 05.11.2016
Am 08. November wäre
Peter Weiss 100 Jahre alt geworden. Die
taz-Redakteure widmen dem Schriftsteller daher den Schwerpunkt ihrer Wochenendausgabe: Andreas Fanizadeh
führt durch Leben und Werk des
Autors der "Ästhetik des Widerstands". An diesem Hauptwerk ganz besonders bemerkenswert
findet Julian Weber, "wie sie Kunst und Kultur im Spiegel der sozialen und gesellschaftlichen Kämpfe nach 1918 darstellt und diese in den
Niederlagen der Arbeiterbewegung und dem Scheitern der Linken unter der Knute des Faschismus beschreibt." Brigitte Werneburg
empfiehlt Weiss' Experimentalfilm "Hinter den Fassaden" faszinieren. Rudolf Walther
erzählt noch einmal die Geschichte um Weiss'
Drama "Die Ermittlung". Und Dirk Knipphals
liest nochmal "Der Schatten des Körpers des Kutschers", für ihn "wohl eines der seltsamsten literarischen Debüts, die es je gegeben hat."
Besprochen werden u.a.
Aravind Adigas "Golden Boy" (
FR), der von
Reinhard Klimmt und
Patrick Rössler herausgegebene Katalog "Reihenweise - Die Taschenbücher der 1950er Jahre und ihre Gestalter" (
SZ) und
Stephen Kings "Mind Control" (
FAZ).
Und
Kopfhörer aufsetzen: Bei der
BBC kann man die im binauralen Verfahren erstellten Hörspieladaptionen zwei erKurzgeschichten von
J.
G.
Ballard nachhören.
Architektur, 05.11.2016
Manhattans Ufer zum Hudson River hat sich "zu einem
Drive-
by-
Architekturparcours entwickelt", staunt Peter Richter in der
SZ nach dem Internationalen Hochhauspreis für den neuen dreieckigen Skyscraper
VIA 57 West (
mehr dazu im gestrigen Efeu), der sich in guter Nachbarschaft zu einer ganzen Reihe atemberaubernder Gebäude befindet, die dort in den vergangenen Jahren entstanden oder im Enstehen gerade begriffen sind. "Es ist kaum noch zu glauben, dass das hier mal die
dreckige Rückseite der Stadt war, der Wirtschaftshof zum Wasser hin. Erst wenn die nächste Sturmflut drübergeleckt hat, werden sich wieder alle an die Gründe erinnern. Aber der Expansionsdruck der City ist zu groß: Der Westrand ist zum neuen,
boomenden Zentrum Manhattans geworden."
Auch Tobias Ochsenbein
besucht für die
NZZ den
VIA-57-West-Tower in Manhattan.
Musik, 05.11.2016
Sollten sich auch Schlagerstars wie
Helene Fischer gegen Rechtspopulismus positionieren? In der
Rheinischen Post hat Udo Lindenberg dies vor kurzem unter Verweis auf die eigene Zivilcourage und die einiger Kollegen gefordert. Jan Feddersen
nimmt das in der
taz nur müde zur Kenntnis: Das sei vor allem Gratismut "vor ohnehin schon Bekehrten" und im Endeffekt bloß ein ertragreiches Geschäftsmodell. Respekt fordert ihm allerdings
Roland Kaisers Engagement gegen Pegida ab, das diesen tatsächlich etwas kostet: "Kaiser, der wirklich tief im Segment des Schlagers segelt, erntete von einigen seiner Fans
heftige Missbilligung. Nun wolle man nicht mehr in seine Konzerte gehen."
Weiteres: In der
Berliner Zeitung berichtet Markus Schneider von seinen Konzertbesuchen beim
Jazzfest Berlin.
SZler David Steinitz unterhält sich mit
Liam Gallagher von Oasis über die Band-Doku "Supersonic".
Besprochen werden das Berliner Konzert von
The Fall ("desaströs",
ächzt Jörg Wunder im
Tagesspiegel),
Shirley Collins' erstes Soloalbum seit rund 40 Jahren (
The Quietus,
mehr im gestrigen Efeu) und die neue EP von
Pussy Riot (
Pitchfork).