Efeu - Die Kulturrundschau

Völlig postideologische Sprachliebe

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2016. Einfach großartig fanden die Kritiker Marcel Beyers Büchnerpreisrede - vom Ferkeldeutsch bis zum patzergesprenkelten Dünkeldeutsch. Die taz porträtiert den Berlin feiernden amerikanischen Regisseur Yony Leyser. In Hard Sensations spricht Dominik Graf über seinen neuen, vom Gurlitt-Fall inspirierten Film "Am Abend aller Tage". Die NZZ besucht die Ausstellung Roni Horns in der Fondation Beyeler, die Berliner Zeitung fröstelt im Rijksmuseum vor den Un-Orten des Hercules Seghers.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.11.2016 finden Sie hier

Literatur

Joachim Güntner kommt beschwingt aus Darmstadt zurück, wo am Wochenende die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung tagte. Schon die erste Veranstaltung - ein Gespräch des Ägyptologen Jan Assmann mit der Kulturwissenschafterin Almút Sh. Bruckstein und dem Historiker Dan Diner über Religion und Toleranz - war ein Highlight, berichtet er in der NZZ. Und dann erst Marcel Beyers Dankesrede für den Büchnerpreis! "Großartig der Einstieg, den Beyer von einem Hundebiss über den in Holland stationierten Vater Büchners, einen Regiments-Chirurgen, nahm und der ihn dann zu einer unzüchtigen Hundeszene im 'Woyzeck' brachte, zu Büchners Drastik, seinem 'Ferkeldeutsch', ihn mitten hineintrieb in den welthaltigen Sprachleib von Büchners Werk. Beyer verbiss sich in diesen Leib, wurde selber zum Hund, kaute Sprachbrocken durch und gab uns die Aromen zu kosten."

Beyer gelang in seiner Rede, was andere Redner vor ihm nur behaupteten, lobt Mara Delius in der Welt: eine Brücke zu schlagen zwischen denen da drinnen in der Akademie und dem Volk da draußen. "Es brauchte schon den Büchner-Preisträger selbst, Marcel Beyer, den Kittler-geprägten, Spex-Terminologie-verständigen, Mayröcker-geschulten Sprachweltendurchsteiger, um die Verbindungen dieser Gegenwarten klarzuziehen. Beyer führte, über die poetische Ausdeutung des Büchnerschen als 'hochartifiziell und zugleich hingeferkelt wie die Manuskriptblätter, auf denen Woyzeck überliefert ist', seine völlig postideologische Sprachliebe aus. Er, Beyer, brauche 'Kalbsdeutsch und Erbsenfresserdeutsch so dringend wie das Hammelfleischdeutsch, das Leoprintdeutsch der Krawallfernsehfamilien, das patzergesprenkelte Dünkeldeutsch, das dampfende Kartoffelsuppendeutsch'."

Ganz nachlesen kann man das in der FAZ, die die Rede heute abdruckt. Judith von Sternburg berichtet in der FR. Und in der Frankfurter Anthologie schreibt Gisela Trahms über Beyers Gedicht "Der letzte Schlurf".

Weitere Artikel: Nora Bossong schickt der Berliner Zeitung eine Reportage über illegale Immigranten in New York. Bei der Ermittlung der Identität Elena Ferrantes kam auch ein Algorithmus aus den Digital Humanities zum Einsatz, der einen sprachlichen Fingerabdruck ermitteln und Autoren zuordnen kann, erklärt Lukas Latz in der SZ. Die Zeit hat Daniel Haas' Gespräch mit Don DeLillo online nachgereicht. Heinz Strunk gewinnt in diesem Jahr den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, meldet die NZZ.

Besprochen werden Louis-Philippe Dalemberts "Die Götter reisen in der Nacht" (taz), Amanda Lee Koes "Ministerium für öffentliche Erregung" (Spex), Elena Ferrantes auf Englisch veröffentlichte, vorgebliche Autobiografie "La Frantumaglia" (SZ) und neue Hörbucher, darunter das zu Philipp Felschs und Frank Witzels Gesprächsband "BRD Noir" (FAZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf: 


Archiv: Literatur

Architektur

In der NZZ feiert Roman Hollenstein die von Herzog & de Meuron entworfene Hamburger Elbphilharmonie und sucht nach Bezügen zu anderen Werken der Basler Architekten.
Archiv: Architektur

Kunst


Roni Horn, Th Rose Prblm, 2015/16 (Details). Courtesy die Künstlerin und Hauser & Wirth. Fotos: Tom Powel Imaging

Maria Becker besucht für die NZZ eine Ausstellung Roni Horns in der Fondation Beyeler und ist beeindruckt von der Ernsthaftigkeit der amerikanischen Künstlerin: "Es sind Kartografien des Selbst und Kartografien der Elemente, die Horn in ihrem Werk entwickelt. Ein großer Teil der Ausstellung ist dem wichtigsten Medium der Künstlerin, der Zeichnung, gewidmet. Die teilweise monumentalen Blätter sind diffizile Patchwork-Arbeiten, die sie mit Pigment und Stift zunächst zeichnet, um sie dann zu zerschneiden und neu zusammenzusetzen. Von fern wirken sie wie abstrakte Muster. Aus der Nähe gewinnt man den Eindruck von architektonischen Anlagen, die etwas freizulegen scheinen. Die Blätter sind wie Palimpseste, die immer wieder neu beschrieben werden."


Hercules Seghers, Woodland Path, ca. 1618-20. Private Collection

Mitten in diesem stürmischen Herbst schaudert es Ingeborg Ruthe beim Besuch der "sensationellen Ausstellung" des niederländischen Malers Hercules Seghers (ca. 1589 - ca. 1639) im Rijksmuseum Amsterdam: Dieser Kunst-Kosmos biete "gespenstische Idyllen, Einsamkeit, Fremdheit, reizbeladene Innenschau, Abenteuer im Abgründigen", so Ruthe in der Berliner Zeitung. "Da ragen abgestorbene Baumstämme und Äste ins Bild, schroffe, karstige, wie zerbröselnde Felsen. Da quellen Laubbäume und Gräser auf wie zu einer wabernden, dann lavaähnlich erstarrten Masse. Unvermittelt dringt die Takelage eines Schiffs durchs Himmelsblaugrau über einer Landschaft am Amstelfluss. Bizarre Orte, Un-Orte sind das eigentlich."

Der Kunsthistoriker Beat Wyss denkt in der NZZ über die Bedeutung der Avantgarde für die Kunst nach, die nach den Eskapaden im 20. Jahrhundert in Gestalt von Olafur Eliasson eine Rolle rückwärts zur Auftragskunst des Barock gemacht habe. So richtig vorwerfen kann Wyss dem dänischen Künstler nichts - außer, dass er niemandem wehtut, "sozial verträglich" ist und die sozialen Medien nutzt: "Nach seinem Entwurf entsteht Kunst, wunderbar organisch, aus einer Mischung von physikalischem Schulexperiment und dänischem Möbeldesign. Die Produktionen sind, piktoralistisch perfekt fotografiert, im Netz präsent. Noch abrufbar sind dort die Bilder zur Schau im Park von Versailles, die im Oktober zu Ende ging."

Weiteres: In der NZZ porträtiert Daniele Muscionico den Zürcher Luftbildfotografen Georg Gerster, dessen Arbeiten im Iran besonders beliebt sind. Besprochen werden die Ausstellung über britische Pop-Art im Kunstmuseum in Wolfsburg (Tagesspiegel), eine Ausstellung von Stefan Moses' Fotografien in der Galerie Johanna Breede in Berlin (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Ancien Regime" von Markus Lüpertz und Andreas Mühe in der Kunsthalle Rostock (FR).
Archiv: Kunst

Film

Timo Lehmann porträtiert in der taz den Regisseur Yony Leyser, der aus den Staaten Reißaus genommen und sich in die linke, queere Szene Berlins verliebt hat, wo er auch untergekommen ist. Sein neuer, jetzt auf Heimmedien veröffentlichter und heute Abend im ZDF gezeigter Film "Desire will set you free" ist eine Liebeserklärung an sowie "eine Zeitkapsel des Jetzt - gezeigt wird Berlin als Treffpunkt der Feiernden, Berlin als Brücke zwischen Ost und West, klassenlos, als queere Lebenswelt, bestehend aus bunten Rauschbildern mit Drogen und nackter Haut. Eine Projektion Yony Leysers auf Berlin, die aus der queeren Nische der Stadt schöpft, mit allem, was ein Amerikaner am neuen Sehnsuchtsort Berlin vermutet. Umgesetzt ist der Film fast ausschließlich mit anderen immigrierten Ausländern." Unter anderem sind Nina Hagen und Peaches mit von der Partie. Letztere gibt dabei eine Coverversion des 20er-Jahre-Kabarettklassikers "Hannelore" zum Besten:



Für Hard Sensations hat Heiko Hanel ein großes Gespräch mit Dominik Graf geführt. Unter anderem geht es um seinen gerade abgedrehten Film "Am Abend aller Tage", der lose vom Gurlitt-Fall inspiriert ist: Redakteurin "Claudia Simionescu (...) stellte mir mitten im Hype der Gurlitt-Affäre vor drei Jahren die Frage, ob ich darüber etwas machen wolle. Ich fand die Situation um den Kunsthändler mit seinem verborgenen Schatz extrem inspirierend. Mir kam die Henry-James-Novelle 'The Aspern Papers' in den Sinn, wo sich ein junger Kunstliebhaber in Venedig auf die Suche nach den Liebesbriefen in der Hinterlassenschaft eines großen englischen Dichters macht. James spinnt daraus wie immer eine psychologisch tiefe Geschichte, eine Reflektion über Liebe und Kunst. Markus Busch hat dann das Umschreiben auf Heute und auf München übernommen."

Weiteres: Eine Stinkwut hat tazler Toby Ashraf auf den Verleih der deutschen Geflüchtetenkomödie "Willkommen bei den Hartmanns", der es zugunsten der deutschen Hauptdarsteller versäumt hat, den Namen des Schauspielers Eric Kabongo, der im Film den Geflüchteten spielt, aufs Plakat zu setzen: "Ein mittlerer Shitstorm regnet seitdem und vollkommen gerechtfertigt auf die Hartmanns nieder." Gunda Bartels hat für den Tagesspiegel das Dokfilmfestival in Leipzig besucht. Die romantische Komödie ist vom Kino ins Fernsehen abgewandert, stellt Barbara Schweizerhof auf ZeitOnline fest.

Besprochen wird der auf DVD veröffentlichte Science-Fiction-Film "Equals" mit Kristen Stewart (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Bevor Michael Thalheimer sich mit Intendant Oliver Reese vom Schauspiel Frankfurt in Richtung Berliner Ensemble verabschiedet, lässt er es am Main nochmal ordentlich krachen und knüpft dabei kurzerhand Schauspieler Felix Rech als "Prinz von Homburg" auf. Wie dieser unter allerlei Getöse auf der Bühne baumelt, beeindruckt die versammelte Kritik im Saal. Nur der Rest des Abends hat ihnen nicht gefallen: Esther Bolds schnelle Nachtkritik dazu hatten wir bereits am Samstag resümiert. Die Feuilleton-Nachzügler schließen sich Bold im wesentlichen an: Der Regisseur kriegt den Stoff "nicht wirklich zu fassen", konzediert Christine Dössel in der SZ: "Der Abend könnte auch 'Sleepy Hollow' heißen oder 'The Walking Dead': Zombiehafte Figuren, die sich im Krieg selbst verloren gegangen sind, führen sich noch einmal auf oder spuken vielleicht auch nur im Traum des anderen herum." FAZler Simon Strauss sah "nichts als ein Stillleben", das Stück wirke "nur wie ausgestattet, nicht wie aufgeführt", für eine Messe fehle "das heilige Zentrum." Welt-Kritiker Alexander Jürgs sah immerhin "mächtige Bilder".

Besprochen werden außerdem Christiane Mudras in München gezeigtes  NSU-Stück "Off the Record - die Mauer des Schweigens" ("Informations-Overkill", stöhnt Annette Walter in der taz), eine Weimarer "Meistersinger"-Inszenierung (FAZ), Stéphanie Di Gustos Film "Die Tänzerin" über Loïe Fuller (SZ), Alexander Giesches an den Münchner Kammerspielen gezeigte Bühnenbearbeitung von Tom McCarthys Roman "Achteinhalb Millionen", die SZler Egbert Tholl mit ihrem "bisschen virtuellen Peng Peng" enttäuscht zurückließ.
Archiv: Bühne

Musik

Rückblickend eigentlich kaum begreiflich, dass man gerade Ennio Morricone die Geräusch-Experimente und Flirts mit der Avantgarde untersagen wollte. Dennoch wurde dem Maestro häufig nahegelegt, doch bitte anschmiegsamer an gängigen Konventionen entlang zu komponieren, wie man im nachträglich online gestellten Zeit-Interview erfährt, das Christoph Dallach geführt hat. Ausnahmen gab es aber auch, nämlich "die Filme des Horror-Regisseurs Dario Argento. Die waren immer voll von Blut, Monstern und roher Gewalt, da habe ich mich an entsprechend unkonventioneller Musik versucht. ... Je drastischer, blutiger und brutaler die Bilder sind, desto mehr verlangen sie nach einer dissonanten Musik. Da akzeptieren die Zuschauer ausnahmsweise auch mal unbequeme Klänge." Wir erinnern uns:



Weiteres: Für die taz hat sich Jens Uthoff mit Kurt Wagner von Lambchop zusammengesetzt und mit ihm über die bevorstehenden US-Wahlen und den Einfluss afroamerikanischer Gegenwartsmusik auf dessen neues Album gesprochen. In der SZ plaudert Tim Neshitov mit Nick Mason von Pink Floyd, der gerade die Archive der Band für sündhaft teure DVD-Editionen durchsieht.

Besprochen werden Michael Rauhuts und Tom Frankes morgen im RBB gezeigter Dokumentarfilm "Die Stimme Amerikas" über Jazz in der DDR (taz), die Auftritte von Angelika Niescier und Wadada Leo Smith beim Jazzfest Berlin (taz) und das neue, auf Sun-Ra-Samples basierende Noise-Album von Merzbow (Pitchfork).
Archiv: Musik