16.11.2016. Die SZ erlebt in der Münchner Pinakothek den Architekten Francis Kéré als Großmeister einer existenzieller Kunst. Die NZZ sieht in den Holzschnitten Hans Baldung Griens die ungebremste Kraft künstlerischer Innovation. Die Welt fragt, warum Max Liebermann eigentlich keine weiblichen Akte gemalt hat. Die FAZ erlebt auf dem "Enjoy Jazz" Festival die Troika pianistischer Meisterschaft. Einfach hingerissen sind die Kritiker von Jim Jarmuschs Film "Paterson", der von einem dichtenden Busfahrer erzählt.
Film, 16.11.2016
Die Filmkritik liegt JimJarmuschs neuem Film "Paterson" zu Füßen. Dabei zeigt der Film vor allem die Alltagsroutine eines Busfahrers im Hinterland von New Jersey, der allerdings nebenbei noch Dichter ist und sich dichtend die Welt anverwandelt. "Für diese Gleichförmigkeit eine Filmsprache zu finden und ihr damit selbst poetische Qualitäten zuzuschreiben, ist keine kleine Aufgabe", schreibt Tim Caspar Boehme in der taz. "Jarmusch löst sie auf so naheliegende wie elegante Weise durch das Prinzip der Variation in der Wiederholung. ... Der alternde Punk, der immer mit großer Ruhe und Perfektion seine Filme dreht, ist noch eine Spur ruhiger geworden. Das ist auch eine Form von Radikalität." Jan Schulz-Ojala vom Tagesspiegelsah in dieser sanften Alltagspoesie einen der besten Filme des Jahres: "Wer will, mag diese Feier des Schönen eskapistisch nennen. Immer aber lässt sich feiner Schmerz mitlesen, jener Schmerz, der umso wacher macht für die Wirklichkeit." Auch FAZler Andreas Platthaus ist von diesem "leisen Meisterwerk" schlichtweg hingerissen: "Emphatischer kann man über Dichtkunst kaum erzählen, als Jarmusch es hier tut." Für epdFilmporträtiert Birgit Roschy Hauptdarsteller AdamDriver.
Besprochen werden HeidiSpecognas Dokumentarfilm "Cahier Africain" (Tagesspiegel) sowie MoritzSieberts und EstephanWagners Dokumentarfilm "Those Who Jump" über die Flüchtlinge am Grenzzaun von Melilla (ZeitOnline).
Architektur, 16.11.2016
Francis Kérés Erweiterungsbau der Schule in Gando, Burkina Faso, 2016. Foto: Daniel Schwartz/Gran Horizonte Media
"Radically simple" lautet der Titel der FrancisKéré gewidmeten Ausstellung in der Münchner Pinakothek, doch davon solle man sich nicht in die Irre führen lassen, mahnt Gerhard Matzig in der SZ. Denn der in Berlin lebende Architekt aus Burkina Faso gehört zu den wichtigsten Vertretern der sozial engagierten Architektur und für Matzig zählt die Ausstellung zu den "wichtigsten, grundlegendsten" Ausstellungen des Jahres: "Die gar nicht mal große, aber bedeutende, gewissermaßen sogar zeichenhafte Schau führt die Architektur auf eine elegant durchdachte wie sinnlich erlebbare Weise zu ihrem Ursprung zurück: zum Dasein als existenzieller Kunst. Allein für diese Erkenntnis, wie einfach und zugleich substanziell das Bauen doch ist, wie lokal und wie global, wie oberflächlich simpel und wie tiefgründig in einem, lohnt sich der Besuch."
Für die Weltbesucht nun auch Dankwart Guratzsch die Ausstellung, die das Altonaer Museum dem umstrittenen Architekten Cäsar Pinnau widmet (siehe unser gestriges Efeu). Dessen Wandlungsfähigkeit war monströs: "Immer stilsicher, immer eigenständig, immer detailversessen, meist gefällig. Pinnau war ein Tausendsassa der Verwandlungskunst - oder auch der Verstellung? Er war ein Clown, ein Seiltänzer, ein Charmeur - oder war er nichts davon, nur ein Glücksritter? Auf Porträts zeigt sich ein fast spöttischer Zug um den Mund.
Bühne, 16.11.2016
Besprochen werden DavidAldens Inszenierung von GiacomoMeyerbeers "Die Hugenotten" an der Deutschen Oper Berlin (Tagesspiegel, mehr dazu im gestrigen Efeu), TomKühnels und JürgenKuttners Inszenierung von Brechts "Untergang des Egoisten Johann Fatzer", bei dem sich Christine Wahl vom Tagesspiegel "in einer Art Brecht-Disneyland" wähnt, ein Wiesbadener "Rheingold" (FR) und DmitriTcherniakovs Inszenierung von PéterEötvös' "Senza sangue" und BélaBartóks "Herzog Blaubarts Burg" in Hamburg (SZ).
Literatur, 16.11.2016
"Wer über die Buchmesse in Istanbul schlenderte, konnte auf den ersten Blick glauben, in einem demokratischen Land mit freier Literaturszene gelandet zu sein", schreibt Jürgen Gottschlich in seinem Messebericht für die taz.
Besprochen werden PeterHenischs "Suchbild mit Katze" (FR), WilliamShaws im Swinging London angesiedelter Krimi "History of Murder" (Tagesspiegel), ChristaWolfs Briefsammlung "Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten" (FR), AkosDomas "Weg der Wünsche" (online nachgereicht von der Zeit), HermannBausingers "Schwäbische Literaturgeschichte" (SZ) und zwei neue Bücher von YokoTawada, die am kommenden Sonntag mit dem Kleistpreis ausgezeichnet wird (FAZ). Außerdem ist eine neue Ausgabe des CrimeMag erschienen - hier das Editorial mit Hinweisen zu allen Besprechungen und Essays.
Design, 16.11.2016
Für die SZ besucht Alexander Menden die Ausstellung "The Vulgar - Fashion Redefined" in der Barbican Art Gallery in London.
Kunst, 16.11.2016
Hans Baldung Grien: "Wildpferde mit kämpfenden Hengsten". Holzschnitt aus dem Jahr 1534
Verstörend und bewegend zugleich findet Jürgen Müller in der NZZHans Baldung Griens berühmte Wildpferde, mit deren Schau das Freiburger Augustinermuseum seinen Erweiterungsbau eröffnet. Die Holzschnittfolge zeigt den Paarungsversuch, der in Frustration und Chaos endet: "Statt der gezähmten Idealtiere, wie sie künstlerische Abhandlungen zur richtigen Gestaltung eines Pferdekörpers vorführen, lässt Baldung Wildpferde übereinander herfallen. Wir haben zu verstehen, dass Innovation keinen Regelwerken entspringt, sondern dem ungebremsten Walten ursprünglicher Triebkräfte."
In der Bremer Max-Liebermann-Ausstellung "Reiten, Tennis, Polo" fällt Hans-Joachim Müller auf, dass der Künstler so gut wie nie einen weiblichen Akt gemalt hat dafür etliche halbwüchsige Knaben: "Muss ja nichts heißen. Aber das Unerotische oder verklemmt Erotische dieses Werks könnte im Zusammenhang mit dem Sport eine Spur sein."
Das StädtischeMuseumAbteibergin Mönchengladbach ist von den Kritikern zum Museum des Jahres gewählt worden, meldet der Tagesspiegel per dpa.
Besprochen werden die Ausstellung "HieronymusBosch und seine Bilderwelt im 16. und 17. Jahrhundert" in der Gemäldegalerie in Berlin (FAZ).
Musik, 16.11.2016
Der "Zukunft des Jazz" kann man gelassen entgegen sehen, meldet Wolfgang Sandner in der FAZ nach Besuch des "Enjoy Jazz"-Festivals in Baden-Württemberg, wo die Nachwuchs-Pianisten BradMehldau, JasonMoran und MichaelWollny ihm mehr als bloß imponierten. Bei letzterem etwa wurden "unterschiedlichste Spieltechniken vom Griff in die Saiten des präparierten Klaviers über wundersame Klopfzeichen auf dem Korpus, schwierigste Salti mortale der Finger bis zu sensibel ausgehorchten Lyrismen des Zusammenspiels mit geradezu demonstrativer Leichtigkeit ausgebreitet." Die drei bilden seiner Ansicht nach "eine erstaunliche Troika pianistischer Meisterschaft." Hier ein Konzert des Michael Wollny Trio aus dem letzten Jahr:
Dancepop-Star und Aktivist Moby wechselt mit seinem neuen, mit der Band The Void Pacific Choir eingespielten Album "These Systems Are Failing" zum Postpunk-Gestus - und predigt mehr denn je. taz-Kritiker Philipp Rhensius wollte das allerdings nicht recht überzeugen: Die "Stücke klingen eher verzweifelt als agitatorisch - und erzeugen eher die Langeweile von Depeche Mode als dass sie aufrütteln wie die Songs von The Clash", schreibt er: Altbackener Retro-Agitprop, der übersieht, "dass politische Kunst längst darüber hinaus sein sollte, die Welt nur zu beschreiben, um sie zu verändern ... Vielmehr muss die Beschreibung selbst beschrieben werden. Das traditionelle Gut-und-Böse-Narrativ funktioniert nicht mehr. Vor allem, weil wir in einer hypervernetzten Welt immer auch selbst die Bösen sind. Auch die klassischen Systeme der Kritik, sie scheitern." Hier eine Kostprobe.
Weiteres: Mit ihrem neuen, stinkwütenden Album "We Got It From Here … Thank You 4 Your Service" haben A Tribe Called Quest die "erste Protestplatte der Trump-Ära" vorgelegt, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. "Beängstigend gut" findet auch Dennis Pohl von der Spex das Album. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Rockmusikers LeonRussell. In der BerlinerZeitungtrauert Jens Balzer um DavidMancuso. Für die FAZ berichtet Kerstin Holm von Wladimir Jurowskis Moskauer Festival "Other Space"
Besprochen werden WolfBiermanns Autobiografie (Freitag), Romares "Love Songs Part II" (Spex), ein Konzert der Tindersticks (taz) und KeithJarretts "A Multitude of Angels" mit Liveaufnahmen von 1996 (SZ).
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