Efeu - Die Kulturrundschau

Kosmische Absaugemaschine

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19.11.2016. Das Art Magazin besucht Begierde weckende Liebesnester in Barcelona. Die Berliner Zeitung fordert Neuverhandlungen für die Castorf-Nachfolge, der Tagesspiegel dagegen meint: Verträge muss man halten. Die Zeit begleitet die Dresdner Sinfoniker nach Armenien. Die SZ erliegt dem coolen Afrozentrismus der HipHop-Helden von A Tribe Called Quest. Der Guardian staunt über die postfaktische Kunstwelt, die ungerührt mutmaßliche van Gogh Fakes publiziert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.11.2016 finden Sie hier

Architektur


Nicolas Schöffers "Zentrum für sexuelle Freizeitgestaltung". Foto: CCCB © Gregori Civera, 2016

Erregte Städte, Orte der Lust, sexuelle Utopien - das sind nur einige der Unterpunkte in der Ausstellung "1000 m2 of Desire" im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB). Manuel Meyer hat sie fürs Art Magazin besucht und stellt fest, dass es hier durchaus ans Eingemachte geht: Wem schon das Loos-Schlafzimmer oder die Polaroid-Aktfotografien Carlo Mollions zu viel sind, "sollte im letzten Ausstellungsteil 'Sexografías' lieber die Augen zulassen. Larry Sultan zeigt scheinbar recht gewöhnliche Ort als Begierde weckende Liebesnester, es handelt sich aber um Fotos von Pornofilmsets in Kalifornien. Pol Esteve untersucht in sein Licht-, Foto- und Videoinstallationen, wie Musik, Lichteffekte und Drogen zu sexuellen und orgastischen Effekten führen. Zur Sex-Kabine der spanischen Künstlerin Esther Fernández haben Museumsbesucher unter 18 Jahren nicht einmal Zutritt. Tatsächlich laufen hier richtige Pornos."

Außerdem: Im Berliner Kulturforum sind jetzt die Entwürfe für das Museum der Moderne in einer Ausstellung zu sehen, berichtet Nicola Kuhn im Tagesspiegel.
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Bühne

"Hände weg von der Volksbühne", schallt es der Berliner Kulturpolitik energisch von den Seiten des Tagesspiegels entgegen , nachdem sich der zuletzt nur noch schwelende Berliner Theaterkampf mit Klaus Lederer als vorraussichtlich neuen Kultursenator aufs Neue zu entfachen droht. Für viel zu parteiisch in diesen Auseinandersetzungen hält Rüdiger Schaper Lederer und redet diesem mit Nachdruck zu, dass Verträge auch über Amtswechsel hinaus gültig zu sein haben: Anderenfalls drohe Berlin "ein Abmarsch in die dunkle Provinz. Sollten Verträge nach einem Regierungswechsel so leicht zur Disposition stehen, dann sind sie ihr Papier nicht wert. Wer hat da noch Lust, nach Berlin zu kommen und eine Institution zu übernehmen?" Auch Christiane Peitz plädiert prophylaktisch für kulturpolitische Räson, derzufolge man Intendanten nicht einfach nach Gutdünken absäge. Erst wenn "die Hoffnung enttäuscht [wird], die mit dem Namen verknüpft ist, gibt's keine Vertragsverlängerung".

Dass jetzt wieder geredet werden müsse, steht für Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung unterdessen völlig außer Frage. Immerhin gehe es in der ganzen Sache auch immer noch um die Tradition der Volksbühne als Sprechtheater. Dercon könne schließlich auch am Schillertheater wirken, seine mobile Bühne im Tempelhofer Flughangar nutzen, vielleicht sogar mit Sasha Waltz kooperieren. Und der scheidende Kultur-Staatssekretär Tim Renner? Der "könnte immerhin als Katalysator der Berliner Kulturpolitik ein bisschen in Erinnerung bleiben. Mit seiner Hilfe wurde der Stadt Berlin wieder klar, was ihr die Sachen, die ihr selbstverständlich geworden sind, wert sind."

Besprochen wird die Londoner Aufführung des David-Bowie-Musicals "Lazarus" ("vieles wirkt un- bis übermotiviert", stöhnt Stephanie Grimm in der taz).
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Film

Besprochen werden Vincent Perez' Verfilmung von Hans Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein" (FR) und Ewan McGregors Roth-Verfilmung "Amerikanisches Idyll" (Welt, Standard).  
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Stichwörter: Mcgregor, Ewan, Fallada, Hans

Literatur

In der NZZ erzählt Bora Cosic, warum er sich als Kind dem Ritual verweigerte, Papa zum Geburtstag zu gratulieren. In der Literarischen Welt erinnert Richard Kämmerlings an den vor 100 Jahre gestorbenen Jack London. Für die Zeit zieht Daniel Haas mit der Krimi-Schriftstellerin Simone Buchholz durch den Hamburger Kiez.

Besprochen werden u.a. Franz Doblers "Ein Schlag ins Gesicht" (Freitag), Nicolas Wouters' und Mikael Ross' Comic "Totem" (taz), Anna Weidenholzers "Weshalb die Herren Seesterne tragen" (FR) und ein Band von Adonis über "Gewalt und Islam" (NZZ). Außerdem liegt der taz heute eine kleine Literataz bei, in der unter anderem eine von Kat Menschik illustrierte Ausgabe von Franz Kafkas "Ein Landarzt (hier) besprochen wird.

Mehr aus dem literarischen Leben auf: 



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Musik

Jens-Christian Rabe stimmt in der SZ mit ein ins bislang überwältigend positive Medienecho auf das neue Album "We Got It From Here ... Thank You 4 Your Service" der altgedienten HipHop-Helden A Tribe Called Quest, die damit ihr erstes Album seit 18 Jahren vorlegen. In der frisch angebrochenen Ära Trump biete das neue Werk reichlich Trost - als das "Protestalbum", als das es Daniel Gerhardt kürzlich auf ZeitOnline bezeichnet hat, will er es dennoch nur halbentschlossen einschätzen: "Eine wütende Kampfansage voller bitterer Tiraden, Polit-Rap mit Schaum vor dem Mund im Stil von Public Enemy, der auf den kommenden Aufstand aus ist, findet sich auf dem Album nicht. ... Als Speerspitze des coolen Afrozentrismus agierte A Tribe Called Quest subtiler und bescheidener. Es ging eher um einen Beitrag zur Bewusstseinsfindung des schwarzen Amerikas, indem sie mithalfen, dessen afrikanische Wurzeln zu rehabilitieren."

Hier eine Hörprobe:



Für die Zeit hat Christine Lemke-Matwey die Dresdner Sinfoniker bei deren Reise nach Armenien begleitet, wo das Orchester gemeinsam mit Gastmusikern das Stück "Aghet - Agit" aufführt, eine Arbeit, die den Genozid an den Armeniern thematisiert. In der Türkei gab es erhebliche Probleme, Gastmusiker zu finden, erfahren wir im Zuge: "Türkische Musiker aus der Türkei wohlgemerkt. Kaum hatte die Regierung Erdoğan bei Creative Europe interveniert, dem Förderprogramm der EU, häuften sich die Absagen, aus Krankheits- oder Zeitgründen, aus Angst. Die jüngsten Verhaftungswellen in der Türkei geben diesen Reaktionen auf schreckliche Weise recht. Die drei oder vier türkischen Musiker, die in Jerewan spielen, stammen aus Deutschland oder tauchen auf der Besetzungsliste nicht auf."

Weiteres: Für die taz ist Ulrich Gutmair in die israelische Wüste gereist, um dort das unabhängige, subkulturell geprägte InDNegev-Festival zu besuchen. In der taz spricht Yannick Ramsel mit dem Rapper Common über dessen neues Album "Black America Again". Für die Spex plaudert Christina Mohr mit Ur-Riot-Grrrl Kathleen Hanna. Besprochen wird ein Konzert von Justin Bieber in Zürich (NZZ).
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Kunst

Ist das wirklich ein Selbstporträt van Goghs? Das van Gogh Museum in Amsterdam hält es für einen Fake.Ist das wirklich ein Selbstporträt van Goghs? Das van Gogh Museum in Amsterdam hält es für einen Fake.
"Willkommen in der postfaktischen Kunstwelt", ruft Jonathan Jones im Guardian. Das von Gogh Museum in Amsterdam hat 65 neu entdeckte Zeichnungen van Goghs, die gerade in einem Buch veröffentlicht wurden, als ziemlich sichere Fälschungen deklariert. Verleger und Kuratoren, die die Zeichnungen für echt erklärt haben, scheint das nicht zu stören: "It is a beautifully produced and serious-looking publication. But why has the museum's damning judgment, first issued in 2008, gone unheeded? These drawings have entered the culture now. They will be reported as 'controversial', but the Van Gogh Museum does not have power to seize and destroy fakes. It can only make its case."

Eine Francis-Bacon-Schau in der Staatsgalerie Stuttgart lehrt FAZ-Kritiker Kolja Reichert das Gruseln: Bacons Schreiende wirken so, "als würden sie von einer kosmischen Absaugemaschine nach hinten ins Nichts gerissen und der Maler hätte sie gerade noch im Moment des erschreckten Verstehens festgehalten. Oder als seien sie dazu verurteilt, auf ewig in einem Karussell wieder und wieder am Betrachter vorbeizurasen."

Außerdem: In der NZZ unterhält sich Martina Läubli mit der Basler Grafikerin Katharina Wolff über Schriftgestaltung.

Besprochen werden Omer Fasts im Berliner Gropiusbau installlierte Videoarbeiten (Tagesspiegel) und die Ausstellung von Francis Alÿs' malerischem Zyklus "Die Zeit des Schlafes" in der Wiener Secession (Standard).
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