Efeu - Die Kulturrundschau

Sprache, Sake und Sex

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2016. Das art Magazin staunt in einer von Georges Didi-Hubermann kuratierten Pariser Ausstellung, wie kraftvoll Künstler Proteste in den letzten 150 Jahren dokumentiert haben. Der Freitag staunt in einer Hamburger Ausstellung des Fotografen Peter Keetman, wie kraftlos die deutsche Nachkriegsmoderne heute wirkt. In der NZZ erinnert Dana Grigorcea daran, dass die arabischen Staaten für die Rumänen einst Sehnsuchtsorte der Freiheit waren. Die Zeit feiert den Schauspieler Michael Maertens. Die Filmkritiker feiern Hong Sang-soo als koreanischen Eric Rohmer. Die taz stellt im Interview Pionierinnen der Klangforschung vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.12.2016 finden Sie hier

Kunst


Dennis Adams, Patriot série "Airborne ", 2002

Völlig hingerissen ist Heinz Peter Schwerfel (art Magazin) von der Ausstellung "Soulèvements", die der Philosoph Georges Didi-Huberman im Pariser Jeu de Paume zum Thema Protest zusammengestellt hat: "Im Jeu de Paume nimmt er das Thema des Aufstands, in dem das Auf-Stehen, Sich-Erheben (auf französisch 'Soulèvement') steckt, beim Wort. Er beginnt seine museale Reflexion mit den Farbfotografien des Amerikaners Dennis Adams, der vom Winde verwehte Titelseiten der Boulevardpresse fliegend vor blauem Himmel festhält. Ihnen gegenüber zwei von der Künstlerin Jasmina Metwaly so benannten Video-Gemälde mit vom Wind geblähten Fahnen und Bannern auf dem Kairoer Tahrir Square. In beiden Arbeiten wie auch dem berühmten Foto 'Elevage de poussière' von Man Ray und Marcel Duchamp wird nicht nur die wortwörtliche Herangehensweise an das Ausstellungsthema 'Soulèvements' angekündigt, sondern auch das Ephemere des Aufstands angedeutet."

Peter Keetman: Plastikflaschen, 1963. Bild: © Stiftung F.C. GundlachPeter Keetman: Plastikflaschen, 1963. Bild: © Stiftung F.C. Gundlach
Marc Peschke besucht für den Freitag eine Hamburger Ausstellung mit Fotografien von Peter Keetman, der in den fünfziger Jahren mit der Gruppe fotoform ein Neues Sehen propagierte. Stark beeinflusst von den Künstlern der zwanziger und dreißiger Jahre experimentierte man mit surrealistischen Verfremdungen. Peschke staunt selbst, wie fade er das heute findet: "Vieles, was etwa die so obsessive surrealistische Fotokunst Dekaden früher ins Bild brachte, scheint uns heute atemberaubender als die bundesdeutsche Nachkriegsfotografie von Keetman und der fotoform-Gruppe. Es ist das Werk eines Mannes, dessen Modernität auf vielen und nicht nur auf eigenen Füßen steht. Ohne die Vorkriegsavantgarde lässt sich ein Fotograf wie Keetman nicht denken - und manche seiner grafischen Strukturen, Lichteffekte, Vogelschwärme oder Nahaufnahmen von Wassertropfen, Grashalmen und sich spiegelnden Eisschichten lassen uns heute etwas ratlos zurück. Die 1998 entstandene Nahaufnahme eines Mikrochips lässt uns sogar ganz kalt. Wie kann das, was früher atemberaubend modern war, heute so abgenutzt wirken?"

Besprochen werden eine Ausstellung des indischen Malers Bhupen Khakhar in der DB-Kunsthalle in Berlin (Tagesspiegel), eine Ausstellung des Berliner Exzellenzclusters "Bild Wissen Gestaltung" im Martin-Gropius-Bau in Berlin (FAZ) und die Video-Arbeiten des israelischen Künstlers Omer Fast im Martin-Gropius-Bau (SZ).
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Literatur

Wenn Rumänien heute angesichts der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten fremdelt, steht das im Kontrast zu den langjährigen, freundschaftlichen Beziehungen, die beide Regionen vor dem politischen Wandel um 1990 pflegten, erinnert die Schriftstellerin Dana Grigorcea in der NZZ: Zu Ceausescu-Zeiten waren die damals liberaleren arabischen Staaten für viele Rumänen ein Sehnsuchts- und Fluchtort, erfahren wir. Grigorceas Mutter etwa lebte in Bagdad ihren Hippietraum: "Noch heute erzählt sie begeistert von der modernen Welt, die sie da vorfand, und davon, wie sie als Hippie mit langen roten Haaren, geblümten Blusen und Schlaghosen in Begleitung ihrer Kolleginnen durch die Suks ging, immer einen Gitarristen im Schlepptau. ... In diesem irakischen Suk befand sich ein Kleiderladen, in dem man die Kleidungsstücke, die einem nicht passten, einen Tag oder auch eine Woche später umtauschen konnte. Der Besitzer wusste, dass die nicht so liquiden Rumänen ohnehin nur je ein einziges Kleidungsstück kauften, das sie dann jede Woche umtauschten. Er liess es großzügig zu. 'Salam aleikum', begrüßte er seine Gäste fröhlich, 'passt es nicht mehr? Habt keinen Kummer, die neue Mode ist da!'"

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer macht sich in der NZZ Gedanken über Nostalgie. In Palermo konferierten Forscher über Goethes "Italienische Reise", berichtet Andreas Rossmann in der FAZ.

Besprochen werden Paul McVeighs IRA-Roman "Guter Junge" (Tagesspiegel), ein von Ursula Amrein herausgegebenes Handbuch zu Gottfried Keller (NZZ), Bücher von und über den vor 100 Jahren geborenen Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer (NZZ), Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" (Jungle World), Mathias Énards "Kompass" (online nachgereicht von der Zeit), Dmitrij Kapitelmans "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters" (online nachgereicht von der Zeit) und Jan Brandts "Stadt ohne Engel" (FAZ).

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Bühne

In der Zeit feiert Peter Kümmel den Schauspieler Michael Maertens, der am Sonntag mit dem Gordana-Kosanović-Preis ausgezeichnet wurde: "In seinen komischen Rollen zeigt uns Michael Maer­tens einen tief verlegenen Mann, der ein Abenteuer vor sich hat: Er muss ohne Gesichts­ verlust durch den Tag kommen. Er ist verlegen, weil er glaubt, nichts zu können und nichts wert zu sein. Dieses Nichtskönnen muss unter allen Umständen kaschiert werden, es ist eine Peinlichkeit, die nicht rauskommen darf. Er will von den anderen schon gesehen, geliebt und bewundert werden - aber nicht als der, der er ist. Sondern als ein anderer. Kurzum, dem Mann bleibt nur der Weg in die Hochstapelei. In alldem hat er die Treuherzigkeit eines jungen und unerfahrenen Wesens, das zu seinem Schöpfer emporblinzelt (von dessen Existenz es nicht recht überzeugt ist). Ihn fragt es: War ich gut? War es so recht? Ist es das, was du willst?"

Weitere Artikel: In der FR singt Axel Veiel ein kleines Liebeslied für Ariane Mnouchkine und ihr Theatre du Soleil.

Besprochen werden John Neumeiers Choreographie zu Mahlers "Lied von der Erde" in Hamburg (FAZ) und Armin Petras' Inszenierung von Offenbachs "Orphée aux enfers" in Stuttgart (SZ).
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Architektur

Rolf Lautenschläger besucht für die taz die Ausstellung zum Wettbewerb für das Museum des 20. Jahrhunderts. Besseres als den Entwurf von Herzog & de Meuron findet er nicht, aber nachgebessert werden müsste auch der, weil er zu groß sei.
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Film


Warten auf den Suff: Boy meets Girl, Fuck-Up in Aussicht.

Die Filmkritik freut sich über den ersten regulären Kinostart eines Films von Hong Sang-soo, dessen Werk auf Festivals und Retrospektiven zwar schon seit Jahren gefeiert wird, doch dem breiten deutschen Kinopublikum erst jetzt mit "Right Now, Wrong Then", seiner bereits 17. Arbeit, vorgestellt wird. Hongs im Alltag des koreanischen Kunst- und Filmmilieus angesiedeltes Kino ist eines der Variation der immergleichen Geschichte, erklärt Lukas Foerster den taz-Lesern: "Boy meets girl, boy talks to girl, boy fucks it up" - und viel, sehr viel Bier (Foerster spricht gar von einer "Ästhetik des Suffs") - stellen sich die Figuren dabei auch noch in den Kopf. "Alles nichts Spektakuläres, würde man meinen, und doch das Material, aus dem der Regisseur eines der eigensinnigsten, freisten und außerdem komischsten Werke formt, die es derzeit im Weltkino zu entdecken gibt."

Für SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier ist Hong eine Art koreanischer Eric Rohmer und jeder neue Film "eine Variation von Sprache, Sake und Sex". Auch Jan Schulz-Ojala vom Tagesspiegel ist langjähriger Hong-Fan und jubelt "so spartanisch kann aufregendes Kino gehen" angesichts von Hongs Kino der ruhigen, langen Einstellung. Zu den großen hiesigen Chronisten des Kinos von Hong Sang-soo zählt auch Ekkehard Knörer, der auf Cargo zahlreiche Texte und Notizen zu dessen Filmen geschrieben hat - hier alle im Überblick.

Für die Welt erkundigt sich Hanns-Georg Rodek nach den Geschäften der Constantin Film, über die zuletzt gemunkelt wurde, dass ihr die Übernahme und Abwicklung durch einen ausländischen Investor drohe. Doch das Unternehmen sei gegenüber der - offenbar angeschlagenen - Konzernmutter Constantin Medien nicht so abhängig, wie diese das glaubt, versichert der Vorstandsvorsitzende Martin Moszkowicz: Die Constantin Medien habe zwar "beschlossen, dass die Constantin Film verkauft werden soll. Nur: Die Constantin Film gehört der Constantin Medien nicht direkt. Die Constantin Film gehört einer Schweizer Firma namens Highlight Communications, und deren Verwaltungsrat hat klar erklärt, dass sie uns nicht verkaufen möchte."

Alle sorgen sich in der Debatte um das deutsche Filmerbe um den Verbleib des Trivialkinos, aber niemand hat im Blick, dass die nicht-fiktionalen Archivbestände ebenfalls gerettet werden müssen, ärgert sich der Historiker Dirk Alt in der FAZ: Erst dieses Material stelle "das sichtbare Gedächtnis der Nation" dar, dies derzeit aber nur in Form einer "unüberschaubaren, da weit zersplitterten dokumentarisch-zeitgeschichtlichen Überlieferung (...), die bis heute nur rudimentär erfasst und erschlossen, geschweige denn gesichert wurde."

Weiteres: In der Welt liefert Johnny Erling Hintergründe zu Zhang Yimous in Hollywood konzipierten, aber mit chinesischem Geld entstandenen Geschichtsblockbuster "Die große Mauer", der im Januar startet. Für die SZ porträtiert Jürgen Schmieder die deutsche, in Hollywood arbeitende Regisseurin Anna Foerster.

Besprochen werden Werner Herzogs "Salt & Fire", der auch heute wieder teils hymnische Besprechungen einfährt (taz, ZeitOnline, Berliner Zeitung, mehr im gestrigen Efeu), Ulrich Seidls "Safari" (NZZ, unsere Kritik hier), Jérôme Salles Biopic über den Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau (NZZ), Denis Villeneuves "Arrival" (NZZ, unsere Kritik hier), Liza Johnsons "Elvis & Nixon" (taz) sowie Josh Gordons und Will Specks heitere Kopulationskomödie "Office Christmas Party" (Berliner Zeitung).

Und ein großer Spaß: LateNight-Host Conan O'Brien hat sein im Sommer in Berlin gedrehtes Special "Conan in Berlin" online gestellt.
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Musik

Philipp Rhensius unterhält sich für die taz mit den Kuratorinnen des Berliner Festival "Heroines of Sound", das zum dritten Mal Pionierinnen der Avantgarde und von der Geschichtsschreibung übersehende Klangforscherinnen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. "Wenn niemand über sie spricht, kennt sie auch keiner", sagt dazu Mo Loscheler, es gebe "viele Künstlerinnen, die Maßstäbe gesetzt haben, deren Rezeptionslinien jedoch abgebrochen sind, darunter die Komponistinnen Beatriz Ferreyra und Christine Groult, die auf dem Festival auftreten. Und wir fragen: Warum? Es gab ja trotz aller Hürden viele Frauen in dem Bereich. Laurie Spiegel hat in ihrem Studio sehr kontextbezogen gearbeitet und mit der 'Music Mouse' eine für die Popkultur wichtige Musiksoftware geschrieben. Trotzdem sind diese Frauen in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt."

Als großes Meisterwerk wird Neil Youngs neues, spartanisch aufgenommenes und spartanisch gestaltetes Album "Peace Trail" in die Schaffensgeschichte des Musikers sicher nicht eingehen, schreibt Markus Schneider in der Berliner Zeitung, und über "Grantelambient" komme es mitunter auch nicht hinaus. Dennoch gebe es auch hier "wunderbare Momente, in denen sich die zwei schratigen Zausel Young und Keltner ganz feinsinnig und dann wieder lose rumpelnd über die minimalen Strukturen verständigen, über einsaitige Bluesriffs und Countrymotive über Folkjazz-Zupferei und gedimmtes Feedback, mit pappartigem oder blechernem Trommelrappeln." Für Pitchfork bespricht Sam Sodomsky das Album.

Weiteres: Der Tagesspiegel bringt Frank-Walter Steinmeier und Daniel Barenboim miteinander ins Gespräch. Für die Welt lauscht Florian Schmiedler der "Lutherschen Weyhnacht". Und Pitchfork verkündet die 20 besten elektronischen Alben des Jahres.

Besprochen wird ein Konzert des Ensembles Unitedberlin zum 90. Geburtstag von György Kurtág (Tagesspiegel).
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