Efeu - Die Kulturrundschau

Paradigmenwechsel des Sitzens

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2016. Das Vulgäre ist gesellschaftsfähig geworden, lernt die NZZ im Londoner Barbican. Ebenfalls in der NZZ gewährt César Aira Einblick in seinen Schreibprozess. Das Möbeldesign ist im Neowattezismus angekommen, konstatiert die SZ. Im Museum Berggruen staunt sie außerdem über die faszinierenden Verbindungen zwischen den Gemälden von George Condo und den Meisterwerken der Moderne. Juan S. Guse interpretiert für die FAZ UN-Resolutionen als literarisches Großprojekt. Und die taz beschwört noch einmal die Toten von 2016.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.12.2016 finden Sie hier

Kunst


Pablo Picasso: "Sitzender Harlekin", 1905. George Condo: "Seated Couple", 2005.

"Was Malerei in ihrem Innersten ausmacht, das kann man in dieser Charlottenburger Villa erleben, in der die Zeitgenossenschaft sich ausbreiten darf wie eine Gruppe Triebtäter", berichtet Catrin Lorch begeistert von der Ausstellung "Confrontation" im Museum Berggruen. Dort hat der amerikanische Maler George Condo sein Werk zwischen Meisterwerken der Moderne plaziert und so faszinierende Verbindungen erzeugt: "Der schmale, blau getönte 'Sitzende Harlekin' (1905), den Pablo Picasso auf einen nur aus Strichen und Schattierungen angedeuteten Kubus setzt und mit einem Rot rahmt, das in allen Schattierungen von Korallenästen funkelt, scheint sich nicht von dem Paar bedrängt zu fühlen, das direkt neben ihm aufgetaucht ist. Dabei geben die beiden sich offensichtlich nicht einmal Mühe, leise zu sein bei ihrer Umarmung. Das Gemälde zeigt ungelenken Sex, zwei Körper wie verknotet, die Grimassen angestrengt. Doch auch das Paar ist auf weich ausgemalten Farbflächen gebettet, aus sanftem Grau und vor einem Fond aus leuchtendem Rot."

Weiteres: In der FR wirft Ingeborg Ruthe einen Rückblick auf das vom Dada-Jubiläum geprägte Kunst-Jahr 2016 und einen Ausblick aufs kommende, mit "100 Jahre De Stijl" und der 14. Documenta. Besprochen werden Ausstellungen zum Barock im Mannheimer Museum Zeughaus C5 (NZZ) und zu europäischer Nachkriegskunst im Karlsruher ZKM (NZZ) sowie mit Werken von Martin Kähler in der Frankfurter Galerie Filiale (FR).
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Bühne

Im Gespräch mit Christian Bos von der FR zieht der scheidende Bühnenvereins-Chef Rolf Bolwin eine positive Bilanz der letzten 25 Jahre: die Lage der deutschen Theater hat sich nicht dramatisch verschlechtert. Vielmehr müsse man hervorheben "auf wie viele neue Herausforderungen die Theater- und Orchesterbetriebe in diesen Jahren reagiert haben. Schauen Sie sich an, was Theater und Orchester alles für die kulturelle Bildung getan haben, für den interkulturellen Dialog. Und der Bühnenverein hat mit der Veränderung des Flächentarifrechts und Veränderungen im Urheberrecht die Möglichkeit geschaffen, mit den finanziellen Herausforderungen der letzten Jahre zurecht zu kommen. Wir sind flexibler geworden. Das Problem ist, dass die Politik die für einen künstlerischen Betrieb notwendige Flexibilität genutzt hat, um Rationalisierungspotenziale zu heben."

Weiteres: Der Standard unterhält sich mit Sascha Goetzel, der zum Jahreswechsel Johann Straussens "Fledermaus" an der Wiener Staatsoper dirigiert. Besprochen werden die Oper "Cinderella" der elfjährigen Komponistin Alma Deutscher im Wiener Casino Baumgarten (Standard, SpOn, Tages-Anzeiger) und Emmerich Kálmáns Operette "Marinka" an der Komischen Oper (Welt).
Archiv: Bühne

Literatur

Der argentinische Schrifsteller César Aira gibt Martina Läubli im NZZ-Interview einen kleinen Einblick in seine Schreibwerkstatt. Ein produktiver Autor zu werden ist demnach ganz einfach: "Ich gehe raus, setze mich in ein Café und schreibe eine Weile, eine Stunde, vielleicht weniger. Von Hand, mit der Füllfeder. Ich bin ein militanter Füllfeder-Anhänger. Das ist alles. Aber ich mache das jeden Tag, jeden Tag eine Seite. Am Ende des Jahres habe ich dreihundert Seiten. Da ich kurze Werke schreibe, sind das manchmal drei Bücher. ... Ich schreibe sehr langsam und definitiv, denke über jede Zeile nach, über jedes Wort. Ich schreibe, als ob ich in der kommenden Nacht sterben würde. Vielleicht wechsle ich im Nachhinein einmal ein Wort, aber es stimmt: Der Text bleibt normalerweise so, wie ich ihn geschrieben habe."

Für den literarischen Wochenendessay der FAZ hat sich der Schriftsteller Juan S. Guse in bislang unerschlossenes Terrain der Sprachforschung vorgewagt. Nicht von entlegenen Regionen der Erde ist jedoch die Rede, sondern von den undokumentierten Treffen der Vereinten Nationen, auf denen um jedes Wort der UN-Resolutionen gestritten wird - und dabei handele es sich um eine "sprachsoziologische Fundgrube", schreibt Guse: "Immer geht es um die Frage, was man so oder so nicht sagen kann. Stilistisches Lektorat und politische Rhetorik fließen ineinander. Werkzeug der Wahl für die Durchsetzung eigener Vorschläge, insbesondere bei besetzten Begriffen, ist die Dekonstruktion. Und zwar zur Not so lange, bis man bei philosophischen Definitionsversuchen zum Konzept von Verantwortung vorgedrungen ist. ... Man sollte UN-Resolutionen nicht als singuläre Texte verstehen, sondern als ein stetig wachsendes Rhizom."

Weiteres: Für die Literarische Welt hat sich Britta Heidemann mit dem Autor Alan Pauls getroffen. Ebendort schreibt Marc Reichwein über 500 Jahre "Utopia" von Thomas Morus. Vor 20 Jahren erschien David Foster Wallaces Hauptwerk "Unendlicher Spaß", erinnert Dirk Pilz in der FR. Die taz bringt Rudi Nuss' Erzählung "Kurze Szenerie mit Loch", mit der der Autor den Open-Mike-Wettbewerb 2016 gewonnen hat. Zum Jahreswechsel erkunden die SZ-Autoren in kleinen Notizen die Mitternacht in der Poesie.

Besprochen werden unter anderem Dorit Rabinyans "Wir sehen uns am Meer" (NZZ), Alissa Ganijewas "Eine Liebe im Kaukasus" (NZZ), Ilja Ehrenburgs "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz" (Welt), Alan Pauls' "Die Geschichte des Geldes" (Welt) und ein von Arte online gestelltes Dokudrama über Erich Kästner (Welt).
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Architektur


Zaha Hadids Entwurf für das Luxus-Resort "Peak Leisure Club" in Hongkong, 1983.

Bevor die im Frühjahr gestorbene Zaha Hadid eine weltweit gefeierte Stararchitektin wurde, galten ihre kühnen Entwürfe als unbaubar, berichtet Dilbahar Askari in der taz. Dabei zeigt sich in den zahlreichen unrealisierten Entwürfen bereits ihre unverwechselbare Handschrift: "Auf dem Papier formte, zerrte, zersetzte sie den Raum, befreit von architektonischen Konventionen, befreit von technologischen Möglichkeiten. Ihre Zeichnungen für das Hongkong-Peak-Projekt verdeutlichen das. Sie verwandeln die Landmassen, die das Grundstück des geplanten Luxus-Resorts umgeben, in ein irisierendes Netzwerk geometrischer Formen. Der Unterschied zwischen Natur und Architektur verschwimmt, Hongkongs Straßenschluchten sind Rillen im Berggestein, der Berg zugleich logischer Fortsatz der Stadt, das Gebäude ein Massiv künstlicher Klippen, reorganisiert zu einem 'man-made mountain', einer gewaltigen Ambition. 'Suprematist Geology' nannte Hadid diese interventionistische Architektur."

Für die Architektur war 2016 ein fantastisches Jahr, schreibt Sam Lubell in Wired zu seiner Liste mit 25 neuen Meisterwerken.
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Design

Gesellschaftsfähige Garderobe. (Walter van Beirendonck, Herbst/Winter 2010/2011. Hut: Stephen Jones. Bild: Ronald Stoops)

Im Londoner Barbican widmet sich eine Ausstellung dem Vulgären in der Mode. In den dabei zur Schau gestellten "erstaunlichen Formen und Farben" und der "Lust am Exzess" zeigt sich Marion Löhndorf von der NZZ, dass das Vulgäre "gesellschaftsfähig" geworden ist: "Denn aus welchem anderen Grund würden die ganz großen Namen der Mode in dieser Ausstellung willig mitspielen? Von Chanel bis Manolo Blahnik, von Lacroix bis Dior und Prada sind hier alle mit Beispielen ihrer Kunst vertreten. Und gar nicht im kritisch-abwertenden Sinne. Jedes einzelne, schrille, schöne oder schräge Kleidungsstück und jeder verrückte Schuh wird da aufs Podest gehoben, festlich ausgeleuchtet und gefeiert. ...  [Die Schau] hätschelt das Vulgäre wie etwas einst Subversives, das der Mainstream nach großem Widerstand liebgewonnen hat."

Das Möbeldesign versuchts mal mit Gemütlichkeit, schreibt Gerhard Matzig in der SZ im Vorfeld der Kölner Möbelmesse: Polster und Kissen kommen zurück, der "Neowattezismus" stehe vor der Tür. "Deutsche Polstermöbel sind ein weltweit begehrtes, hochwertiges Gut. Sitzenbleiben können wir... Wenn e15, zwanzig Jahre nach dem ikonischen Sitzhocker 'Backenzahn', nun erstmals auch einen sofahaft betont gemütlichen (...) Eindruck vermittelt, darf man von einem Paradigmenwechsel des Sitzens sprechen."

In der taz würdigt Brigitte Werneburg die im August verstorbene Modedesignerin Sonia Rykel, die gewusst habe, "dass Streifen mehr sind als nur Streifen: Sie sind eine atmosphärische Welt. Mit Streifen verbindet sich der Geruch von Salzluft, der Anblick des Meeres, blendendes Sonnenlicht, Strandkörbe und gestreifte Markisen, die im Wind flattern."
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Musik

In einem gewaltigen Kraftakt bringt taz-Redakteur Klaus Raab noch einmal zusammen, was die großen Toten des sich neigenden Jahres historisch und kulturell alles miteinander verbunden hat, angefangen von David Bowie, Prince und George Michael bis zu Muhammad Ali, Papa Wemba und Roger Willemsen. Raab bringt die Verstorbenen schließlich essenziell auf den Punkt: "Wir sehen im Tod jener Menschen, die tatsächlich die Welt schöner gemacht haben, das Ende einer Zeit, von der wir gehofft hatten, sie wäre erst der Anfang. ... Ali, Bowie, Michael, Papa Wemba und Prince kamen aus einer Zeit, die schlechter war als die Zukunft, an der sie mitarbeiteten. Was von ihnen bleibt, ist die Gewissheit, dass gerade aus der Krise Schönheit entspringen kann." Überschrieben ist der schöne Text folgerichtig mit dem Titel eines naheliegenden Bowie-Songs:



Weiteres: Für die taz hat Daniel Zylbersztajn in London das Händel & Hendrix Museum in der Brook Street 25 besucht, wo der Musiker und der Komponist mit 200 Jahren Abstand Etagennachbarn gewesen sind. In der taz porträtiert Kirsten Küppers den Bowie-Impersonator David Brighton. Die Spex hat Daniel Gerhardts Feature über Blood Orange online nachgereicht. Angesichts von Marek Janowskis heutigem Berliner Abschiedskonzert mit dem Berliner Rundfunkchor warnt Eleonore Büning in der FAZ vor "lobbyistischen Wegspar-Palavern", das gewillt ist, solche Kostbarkeiten wie die Rundfunkchöre zu liquidieren.

Besprochen wird Daniil Trifonovs Silvesterkonzert in Berlin (Tagesspiegel, eine weitere Aufführung heute live im RBB Kulturradio). Außerdem druckt die SZ auf einer ganzen Seite die beeindruckende Playlist eines sechsstündigen Silvester-Partymix, den DJ Michel Gaubert auf SZ-Anfrage zusammengestellt hat. Den ersten Teil daraus hören Sie im folgenden eingebettet, Stunde 3 und 4 finden Sie hier und die letzten beiden Stunden dort.

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