Efeu - Die Kulturrundschau

Botschaften für die Zukunft

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04.01.2017. Die Welt geht sockfuß in Baden-Baden auf Anschauungsreise mit Michael Müller. England mag wirklich nicht viele Künstler hervorgebracht haben, aber Schottland sehr wohl, erkennt die SZ und ruft auf, die Malerin Joan Eardley zu entdecken. In der FAZ rät Kristof Magnusson: Leichte Sprache fördert die Erkenntnis. Die taz versenkt sich mit dem Saarländer Musikkollektiv Datashock ins Geräusch ohne Pulsschlag.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.01.2017 finden Sie hier

Kunst



Glasgow Street, Rottenrow, Joan Eardley, 1955

In der SZ ruft Carin Lorch dazu auf, die Malerin Joan Eardley zu entdecken, der die National Gallery of Modern Art in Edinburgh gerade eine große Retrospektive widmet: "England hat im zwanzigsten Jahrhundert nicht eben viele Maler hervor gebracht, schon gar keine, die fern von London etwas anderes suchten als Idyllen. Schottland hat da womöglich eine reichere, überraschendere Kunstgeschichte zu bieten, was Pinselarbeit anbelangt. Ihre Bilder zeigen, dass Joan Eardley die Möglichkeiten der Abstraktion kannte und ausgelotet hat, sich aber entschieden hat, diesen Weg nicht einzuschlagen. Stattdessen pendelt sie zwischen der Gegenstandslosigkeit aufgespannter Fischernetze und kratziggelber Stoppelfelder."

In der Welt erzählt Hans-Joachim Müller vergnügt von Michael Müllers Ausstellung "Skits" in der Kunsthalle Baden-Baden, für die man sich nur die Schuhe ausziehen muss, um sie zu erleben als "große Anschauungsreise zwischen Mythos und Kultur, Zeichen und Grammatik: "Von Raum zu Raum lässt man es sich mit einer Mischung aus Gelassenheit und Faszination mehr und mehr gefallen, wie die Inszenierung auf die Schwerkraft des eigenen Denkens, Fühlens und Erfahrens vertraut, die einen davor bewahrt, auf der großen Anschauungsreise vom Sog der widersprüchlichsten Wahrheitsangebote wie von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden. Man folgt dem Künstler und merkt plötzlich, dass man seinen eigenen Weg geht. Ohne Schuhe, ohne Merkurflügel, aber immer mit Strümpfen." (Bild: Michael Müller, Meister der Stimmen, 2016, Foto: Frank Sperling).

Kerstin Holm besichtigt für die FAZ in Moskau die neuen privaten Museen, mit denen Oligarchen die Kunst der Sowjetunion aufwerten wollen. Verglichen mit Boris Minz' Museum des Russischen Impressionismus findet sie Alexej Ananjews Institut für russische realistische Kunst noch bolschewistisch-konservativer: "Auf zwei Bilder des Meisters der sowjetischen Industrielandschaft Georgi Nisski ist er besonders stolz: Das um 1960 entstandene Gemälde 'Unterwegs' komponiert eine Lokomotive, vereinzelte Figuren und die von einer Stahlbrücke durchschnittene Sonnenscheibe zu einer Art Pittura metafisica in winterlichem Rosa." In der Berliner Zeitung empfiehlt Ingeborg Ruthe, lieber die hervorragende Ausstellung über russischen Avantgardisten in der Kunstsammlung Chemnitz: "Die russischen Avantgardisten hatten Botschaften für die Zukunft."

Zum Tod des im gestrigen Efeu betrauerten Kunstkritikers, Essayisten und Malers John Berger schreiben Christian Thomas in der FR, Romeo Giger in der NZZ, Mara Delius in der Welt, Yannick Ramsel in der taz, Niklas Maak in der FAZ, und in einem schönen Text in der SZ tröstet Hans Jürgen Balmes: "Das große Staunen kann nicht sterben."

Besprochen werden eine Ausstellung der recht unbekannten flämischen Barockmalerin Clara Peeters im Prado (NZZ), eine Schau der fast vergessenen Fotografinnen Gerti Deutsch und Jeanne Mandello im Verborgenen Museum Berlin (Tagesspiegel) und eine Robert- Frank-Ausstellung im Salzburger Rupertinum (Standard)
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Literatur

Für unsinnig hält der Schriftsteller Kristof Magnusson die zuletzt laut gewordenen Bedenken, dass der zunehmende Einsatz von Leichter Sprache, die kognitiv beeinträchtigen Menschen Zugang zu Informationen und Kultur verschaffen soll, eine generelle Minderung des Sprachniveaus nach sich ziehe. Leichte oder Einfache Sprache berge neben ihrer gesellschaftlichen Funktion auch ästhetische Chancen, die aktuell ein Projekt des Frankfurter Literaturhauses auslotet, schreibt Magnusson in der FAZ: "Ich bin Teil dieses Projekts, weil ich es für eine wunderbare Chance zum Experimentieren halte, als Einladung zu einem Oulipo-artigen Sprachspiel. Anstatt mich darüber zu beklagen, dass immer mehr literarische Klassiker auf Leicht heruntergebrochen werden, wollte ich ausprobieren, wie es sich anfühlt, wenn man selbst einfach schreibt. Welche literarischen Mittel an die Stelle komplizierter Sätze und Wörter treten, wie sich Sujet und Erzählweise dadurch verändern."

Weiteres: Die FR bringt eine gekürzte Version der literarischen Reportage des japanischen Schriftstellers Ono Masatsugu über einen Flüchtling aus dem Kongo, der in Japan Asyl beantragt. Die Kinder- und Jugendbuchliteratur entdeckt die Transsexualität als literarischen Gegenstand, berichtet Manuela Kalbermatten in der NZZ. Die FAZ hat Juan S. Guses Reportage über die Sprachdebatten beim gemeinschaftlichen Verfassen von UN-Resolutionen online nachgereicht. Auch Andreas Rossmanns FAZ-Bericht von seiner Reise nach Palermo zum Stadtpalast der Familie des Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa steht jetzt online. Im Bayerischen Rundfunk porträtiert Christine Hamel den chinesischen Dichter Liao Yiwu. Online leider nicht ohne weiteres zugänglich ist das große Interview, das Marten Hahn für die Welt mit dem Comic- und jetzt Romanautor Alan Moore geführt hat, den die Feuilletons derzeit geballt entdecken. - als Ersatz bietet sich dieses sehr ausführliche Gespräch mit dem Autor auf World Literature Today an.

Besprochen werden Martin Walsers "Statt etwas oder Der letzte Rank" (NZZ, Standard), das von Petra Müller und Rainer Wieland herausgegebene Buch "Schreiben Sie mir, oder ich sterbe -  Liebesbriefe berühmter Frauen und Männer" (Standard), Belinda McKeons "Zärtlich" (FR), Marcel Prousts "Briefe" (online nachgereicht von der Zeit) und Miroslav Krležas lange Zeit als "unübersetzbar" eingeschätzter Roman "Die Fahnen" (SZ).

Mehr aus dem literarischen Leben in unserem Metablog Lit21.
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Film


Jennifer Lawrence und Chris Pratt schauen in die Röhre: "Passengers".

Fliegen zwei Menschen im kryonischen Schlaf für Jahrzehnte durchs All, kommt eine Panne daher, wachen beide frühzeitig auf und müssen nun die restlichen 88 Jahre des Flugs zusehen, wie sie die Zeit totschlagen. So in etwa lautet der Plot der Science-Fiction-Robinsonade "Passengers" mit Jennifer Lawrence und Chris Pratt, den Bert Rebhandl in der FAZ für "eine melodramatisch imprägnierte romantische Komödie mit kleinem Ensemble und dem ganz großen Pathos" hält. David Steinitz trauert in der SZ um den Film, der dieser Film ohne weiteres hätte sein können, hätte da nicht ein Actionfinale dem Treiben den Garaus gemacht. Auch Barbara Schweizerhof von der taz verabschiedet sich an der Stelle, an der "eine der peinlichsten Liebesgeschichten aller Zeiten beginnt."

Weiteres: Für die Japan Times spricht John L. Tran mit dem thailändischen Autorenfilmer Apichatpong Weerasethakul, dessen Ausstellung "Ghosts in the Darkness" derzeit im Tokyo Photographic Art Museum zu sehen ist. In der NZZ empfiehlt Christoph Eggger Filme aus dem Programm des Zürcher Stummfilmfestivals. In einem großen, bei der Filmgazette veröffentlichten Dossier verneigen sich die (auch für den Perlentaucher schreibenden) Filmkritiker Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster und Jochen Werner vor den Horror-Auteurs Brian Yuzna und Stuart Gordon. Michael Ranze hat für den Filmdienst ein Porträt der Schauspielerin Léa Seydoux verfasst. Wolfgang Hamdorf gratuliert Carlos Saura zum 85. Geburtstag.

Besprochen werden Philip Widmanns Dokumentarfilm "Ein Haus in Ninh Hoa" (critic.de, unsere Kritik hier) und Park Chan-Wooks erotischer Thriller "Die Taschendiebin" (Tagesspiegel, Berliner Zeitung).
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Musik

Die taz forscht heute im kompositorisch Uneindeutigen. Zum einen versenkt sich Tabea Köbler sehr tief in den labyrinthischen Neo-Krautrock des Saarländer Musikerkollektivs Datashock, das mit "HD Trailer" gerade wieder ein neues Experimentalalbum vorgelegt hat: "Zwitschern und Pfeifen überlagert sich mit dumpfem Klackern und Schaben. Alles rotiert ohne Pulsschlag. Geräuschhaftigkeit prägt das Album. Kaum ein Klang verrät beim ersten Hören seinen Ursprung. ... Im Hall verschmelzen entrückte Flächen zu kosmischen Orgeln und bleiben stetig im Wandel. Minimalistische Gitarrenmelodien werden zu pochendem Rasseln und lösen schließlich in endloser Repetition alles in flimmernde Weite auf. Indische Harmonik und Sitarklänge bilden eine Episode und verschwinden wieder im Irrgarten." Hier kann man sich das Album in voller Länge anhören.

Zum anderen blättert und hört sich Andreas Hartmann durch Tobias Fischers und Lara Corys im Dunstkreis der Animal Studies entstandene Buch/CD-Kombination "Animal Music - Sound and Song in the Natural World", die ihm die Wunderwelt der Tiermusik ein Stückchen näher bringt. "Die Gegenwart des Menschen verändert die Musik der Tiere", stellt er fest. "Frösche reagieren extrem empfindlich auf Menschen, sie bleiben beim Quaken am liebsten nur unter sich, während Hauskatzen gelernt haben, mit ihrem Miauen den Menschen zu manipulieren. Aber umgekehrt gibt es auch Musik von Menschen speziell für Tiere. Der Klangkünstler Marek Brandt etwa hat einmal ein Stück für Milben verfasst."

Weitere Artikel: Auf Pitchfork stellt Andy Beta das neue Album "Reflection" von Brian Eno vor. Die Spex hat Ulrich Gutmairs Interview mit Genesis Breyer P-Orridge online nachgereicht. Andreas Hartmann trauert in der taz um die quasi-klandestine Flyerkultur, die im früheren Club-Underground Berlins üblich war. Intro mutmaßt, ob ein jüngst aufgetauchtes, sehr verrätseltes Experimentalvideo wohl die Rückkehr des vor 23 Jahren auf Eis gelegten, subversiven Kryptokunst-Dancefloorprojekts The KLF annonciert.

Besprochen werden bislang unveröffentlichte Aufnahmen des 1978 verstorbenen Klangkünstlers Harry Bertoia (Pitchfork). Und das Blog Machtdose bringt einen neuen Podcast mit Neuerscheinungen aus der Netzmusikszene:

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