Efeu - Die Kulturrundschau

Flüge durch Wurmlöcher

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13.01.2017. Die Kritiker spitzen in der Elbphilharmonie die Ohren und diskutieren die Akustik: Grandios (SZ)! Gnadenlos (taz)! Nachbesserungsbedürftig (FAZ)! Die SZ erzählt die unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte des Theaterstücks "Clean City" über fünf Putzfrauen in Athen. Und Otto Freundlichs Skulptur "Der neue Mensch", Aushängeschild der NS-Propaganda gegen "Entartete Kunst", wurde von den Nazis gefälscht, erfährt die FAZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.01.2017 finden Sie hier

Musik

Welt-Kritiker Manuel Brug war gestern online am schnellsten, heute ziehen die Feuilletons in Sachen Elbphilharmonie-Akustik nach. "Der Saal verzeiht nichts", schreibt Regine Müller in ihrem taz-Bericht vom Abend: Jedes sanfte Vertun der Musiker, aber auch jedes Rascheln des Publikums werde angesichts der klaren Detailauflösungen, die hier herrschen, gnadenlos zu Ohr gebracht. Die Beethoven-Ouvertüre klinge zu Beginn "bedrohlich trocken. Doch dann breitet sich doch erstaunlich mild ein weitgehend optimaler Mischklang aus, ungeheuer transparent, mit enormer Tiefenschärfe, klar und doch warm umhüllt. Stellenweise klingt es phänomenal."

Mitunter heikel überakustisch findet Eleonore Büning von der FAZ den von Yasuhisa Toyota konzipierten Saal: "So eine brutal durchkalkulierte Studioakustik ist ihm noch nie unterlaufen. Und ein Studio ist kein Konzertsaal. Und Musik besteht nicht nur aus einzelnen Tönen. Jeder Ton ist in der Elbphilharmonie für sich allein unterwegs, direkt und linear. Nichts mischt sich.  ... Pech vor allem für die große symphonische Musik: Sie wird kalt lächelnd ihrer Dynamik beraubt, ihrer Farben entkleidet." Wobei sie einräumt, dass der Eindruck enorm vom jeweiligen Sitzplatz abhänge und sicher einiges "nachbesserbar" sei.

Reinhard J. Brembeck von der SZ neigt zur Gelassenheit: Die Geigen hätten in diesem Saal zwar ein wenig das Nachsehen, aber gute Musiker und Sänger werden auch unter unvorteilhaften akustischen Bedingungen keine Stümper und Krächzer. Zum Dahinschmelzen war etwa der Countertenor Philippe Jaroussky: "Die Akustik Yasuhisa Toyotas ändert rein gar nichts an Jarousskys phänomenalem Können. Sie erlaubt es aber dem Konzertbesucher, jede noch so feine Nuance seines Gesangs zu hören. Das allein ist schon grandios. Sollte Toyota etwa einen sehr, sehr großen Kammermusiksaal ertüftelt haben?" Von Dirgent Thomas Hengelbrock und seinem NDR-Elbphilharmonie-Orchester wünscht er sich allerdings für die Zukunft ein leidenschaftlicheres, zupackenderes Spiel - da sei im hohen Saal noch Luft nach oben. Weitere Berichte in Berliner Zeitung, NZZ, NMZ und Tagesspiegel. Hier das Eröffnungskonzert in einer Playlist:



Weiteres: Thomas Schmid erinnert in der Welt an die Eröffnung der Berliner Philharmonie in den 60ern. Andreas Hartmann porträtiert in der taz den Cellisten Nicholas Bussman.

Besprochen werden das neue Album von The xx (taz, FAZ, Pitchfork, The Quietus), das neue Album der Flaming Lips (SZ), Bonobos "Migration" (taz, Spex), das neue Album "A Shadow in Time" von Ambientkünstler William Basinski (Pitchfork), ein Wiener Konzert der Berliner Staatskapelle unter Daniel Barenboim (Standard) und die zwei Berliner Vorstellungskonzerte Konzerte der Dirigenten Robin Ticciati und Vladimir Jurowski, die ab Herbst dem Deutschen Symphonie-Orchester, bzw. dem Rundfunk-Sinfonieorchester vorstehen werden (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Bühne


"Clean City". Bild: Münchner Kammerspiele

In der SZ erzählt Alex Rühle die unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte des Theaterstücks "Clean City" von Prodromos Tsinikoris und Anestis Azas, in dem fünf Frauen, die in Athen als Putzfrauen arbeiten, aus ihrem Leben erzählen, und das zurzeit bei Gastspielen in ganz Europa gefeiert wird: "Tsinikoris und Azas sammelten wochenlang die Lebensgeschichten der fünf Frauen und komprimierten das Ganze zu einem großartigen Stück Gegenwart, einem Text über Globalisierung und Heimat, Sehnsucht und Familie, das Verschwinden der Mittelklasse und die Träume, die Europa noch immer für so viele birgt... 'Das Schwierige war, dass wir anfangs alle heulen mussten, wenn wir unseren Text aufsagten. Aber hat ja was Heilendes', sagt [Darstellerin] Drita Shehi. 'Du trägst all die Demütigungen in dir wie eine Eiterblase. Wenn du es endlich jemandem erzählen darfst und der dir auch noch zuhört, dann muss das erst mal alles rausfließen.'"

Im Tagesspiegel stellt Arno Makowsky das Münchner Opernprojekt "Zaide" vor, das Geflüchteten eine Stimme gibt. Besprochen wird Michał Zadaras Inszenierung von Brechts "Mutter Courage" in Warschau (FAZ).
Archiv: Bühne

Film


Szene aus "Hell or High Water"

"La La Land" mag nett sein, doch was aktuelle filmhistorische Retro-Erkundungen betrifft, hat Daniel Kothenschulte von der FR sein Herz an David Mackenzies vor Kulisse der US-Landwirtschaftskrise spielenden Bankraub-Gegenwartswestern "Hell Or High Water" verloren. Der orientiert sich dabei am New Hollywood, ohne bloß "Äußerlichkeiten [zu] finden, die sich eins zu eins kopieren lassen." Als Referenzfilm hat Kothenschulte Peter Bogdanovichs "Die letzte Vorstellung" identifiziert, in dem, wie hier, Jeff Bridges mitspielt, und der seinerseits eine Reverenz ans Kino von John Ford darstellt. "Dieser Film ist aus dem gleichen Geist entstanden, nur hat ihn niemand mühsam heraufbeschworen. Er streunt einfach immer noch durch den Westen, man musste nur zwei Finger in den Wind halten, um ihn zu spüren. Auch wenn statt imposanter Öltürme nun Fracking-Bohrer den verarmten Bauern den Wohlstand versprechen." Andreas Busche vom Tagesspiegel sah einen "schlanken Genrefilm mit einem ausgeprägten sozialen Bewusstsein ... Mit seiner Solidarität für die 'kleinen Leute' begibt sich Mackenzies Film allerdings in Gefilde, die inzwischen von konservativer Seite vereinnahmt werden. Die Hoheit über diesen Diskurs zurückzuerobern, wird in den nächsten Jahren die schwierigste Aufgabe des US-Kinos sein." Für die Welt bespricht Felix Zwinzscher den Film.

Weiteres: Für ein großes Ärgernis hält Ekkehard Knörer von Cargo einen von Arte ausgestrahlten Dokumentarfilm (hier in der Mediathek) über die "Berliner Schule". Im Filmdienst schreibt Lukas Foerster über das Kino von Park Chan-Wook, der mit seinen Filmen "Risiken eingeht, an die sich ein Großteil des Gegenwartskinos gar nicht erst herantraut." Anlässlich des Kinostarts von Zhang Yimous (in FAZ und Tagesspiegel besprochenen) Fantasyfilm "The Great Wall" schreibt Oliver Kaever auf ZeitOnline über den chinesischen Filmmarkt. Andrea Hanna Hünniger spricht in der Welt mit Filmemacher Chris Kraus über dessen (in Welt und SZ besprochenen) Film "Die Blumen von gestern". Felix Zwinzscher porträtiert in der Welt den Rapper und Schauspieler Donald Glover. Dennis Vetter empfiehlt in der taz die Filme des nigerianischen Regisseurs Ola Balogun, die das Berliner Kino Arsenal in einer Reihe zeigt. Eine Empfehlung, der sich Bert Rebhandl in Cargo im übrigen nur anschließen kann. Dunja Bialas schreibt auf Artechock zum Tod von Hannes Strobel, der sich vor allem um das Kinderkino in Deutschland verdient gemacht hatte.

Und Nerdcore hat einen sehenswerten Videoessay über die Geschichte elektronischer Klänge im Science-Fiction-Kino ausfindig gemacht:



Besprochen werden der Animationsfilm "Ballerina" (Tagesspiegel) und die zweite Staffel der Amazon-Serie "The Man in the High Castle" nach dem gleichnamigen Roman des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick (FAZ).
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Literatur




Avanciertes Erzählen in Richard McGuires "Hier" (Bild: DuMont Buchverlag)

In der Welt staunt der Schriftsteller Thomas von Steinaecker Bauklötze über die beiden höchst avancierten Comics "Hier" von Richard McGuire und "Building Stories" von Chris Ware, die anhand der Buchform selbst mit Mechanismen des Erzählens experimentieren. Für den klassischen Buchstaben-Schriftsteller stellen das "Wegmarken eines neuen Erzählens" dar. Von Kränkung jedoch keine Spur: "Der Roman ist robust. ... Werke wie jene Wares oder McGuires sind wie Flüge durch Wurmlöcher in eine Zukunft. Nach einem kräftezehrenden, verwirrenden und beglückenden Trip lassen sie uns mit einem Trost zurück, der zugleich ein Auftrag sein könnte: dass wir doch eigentlich gerade erst begonnen haben, einen Bruchteil dessen zu realisieren, was das Medium an Möglichkeiten auch für die Belletristik bietet."

Weiteres: In der NZZ schreibt der Literaturwissenschaftler Adrian Daub darüber, welchen Einfluss Amazon insbesondere mit seinem Kindle Direct Publishing auf die Literatur hat. Und Mark Zitzmann besucht die frisch renovierte Salle Labrouste in der alten Pariser Nationalbibliothek. Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ist aus Protest aus dem russischen Schriftstellerverband P.E.N. ausgetreten, meldet Barbara Oertel in der taz: "Einer Organisation, die der Staatsmacht die Stiefel lecke, wolle sie nicht mehr angehören." Für das Zeitmagazin unterhält sich Jochen Wegner mit dem Science-Fiction-Autor William Gibson. Der Bayerische Rundfunk hat den ersten Teil von Klaus Buhlerts zwölfteiliger Hörspieladaption von Franz Kafkas "Das Schloss" online gestellt.

Besprochen werden Andrew Michael Hurleys "Loney" (FR), Rosamund Luptons "Lautlose Nacht" (Welt) und Rolf Lindners "Berlin, absolute Stadt" (FAZ).
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Kunst

Die unter dem Namen "Der neue Mensch" bekannte Skulptur von Otto Freundlich, die im Zentrum der NS-Propaganda gegen die moderne Kunst stand, wurde von den Nationalsozialisten gefälscht, bevor sie zerstört wurde. Das haben Julia Friedrich und Mandy Wignanek, Mitarbeiterinnen des Museums Ludwig in Köln, anhand von Fotografien herausgefunden. In der FAZ berichten sie Julia Voss von ihren Entdeckungen: "Es ist möglich, dass die Replik angefertigt wurde, weil man das häufig abgebildete Werk trotz eines irreparablen Schadens dem Publikum nicht vorenthalten wollte. Gefälscht wurde außerdem der Titel der Plastik. Bei Freundlich heißt sie immer nur 'Großer Kopf'. So wurde sie auch 1930 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe inventarisiert. Erst für den Ausstellungsführer erfinden die Nazis den Titel 'Der neue Mensch', unter dem die Skulptur bis heute bekannt ist. Das war besonders perfide, da sie sich einer Formulierung von Otto Freundlich bedienten. Selbst Kenner des Werkes von Freundlich, selbst seine Freunde haben diese Manipulation nicht durchschaut." (Oben: Freundlichs Skulptur auf dem Titel des Katalogs der berüchtigten Wanderausstellung "Entartete Kunst" von 1937)

Weiteres: Maria Balshaw wird neue Chefin der Tate-Galerien in London, Liverpool und St. Ives, meldet die FR. Besprochen wird die Ausstellung "Die wilden 80er Jahre in der deutsch-deutschen Malerei" im Potsdam Museum (Tagesspiegel) sowie eine Ausstellung mit indischer Pahari-Malerei im Museum Rietberg in Zürich (NZZ).
Archiv: Kunst