Efeu - Die Kulturrundschau

Beharrungskräfte im System

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2017. Das Ensembletheater ist nicht mehr zeitgemäß, erklärt der Soziologe und Kulturberater Dieter Haselbach in der nachtkritik. Die FAZ findet sich mit Pablo Larraíns "Jackie" in einem gigantischen Protokoll- und Machtapparat wieder. Auch als Luxuskaufhaus macht den Fondaco dei Tedeschi in Venedig etwas her, lobt die NZZ den Umbau durch Rem Koolhaas.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.01.2017 finden Sie hier

Film


Einsam im Protokollapparat: Natalie Portman in "Jackie" (Bild: Tobis)

Durchweg beeindruckt sind die Kritiker von Pablo Larraíns "Jackie", in dem Natalie Portman Jackie Kennedy unmittelbar nach der Ermordung ihres Ehemanns spielt. "Eine Meditation über Geschichte und Vergänglichkeit" hat FAZ-Kritiker Bert Rebhandl darin gesehen und schlussfolgert: "Nirgends kann man mehr allein sein als im Inneren eines gigantischen Protokoll- und Machtapparats ... Larraín macht mit seinem Film klar, dass bei den Kennedys auch so etwas wie eine monarchische Verführung im Spiel war. Majestät gibt es ja in mehrfacher Form, man kann eine sein, man kann sie aber auch zeigen. 'Jackie' erzählt davon, wie eine Frau dieses Charisma erlangt, während sie es preisgeben muss." NZZ-Kritikerin Christina Tilmann beobachtet, wie der Film "in jedem Dialog wie in jedem Bild die Frage nach historischer Überlieferung und ihrem Verhältnis zur Realität" verhandelt." Weitere Besprechungen in SZ, Welt und Perlentaucher.

Weiteres: In der taz empfiehlt Fabian Tietke Peter Beauvais' raren Fernsehfilm "Im Reservat" von 1973, den das Berliner Zeughauskino am Wochenende zeigt. Kaspar Heinrich spricht im Tagesspiegel mit Wim Wenders über dessen neuen Film, die (in Tagesspiegel, critic.de und Welt nicht eben positiv besprochene) Handke-Verfilmung "Die schönen Tage von Aranjuez". Thomas Groh schreibt in der taz zum Tod des Experimentalfilmers Werner Nekes.

Besprochen werden Stefano Sollimas italienischer Mafia-Politthriller "Suburra" (taz, Perlentaucher), Mel Gibsons Kriegsfilm "Hacksaw Ridge" (NZZ, ZeitOnline, Welt, mehr dazu im gestrigen Efeu), eine DVD-Ausgabe von E. A. Duponts Stummfilmklassiker "Varieté" (taz), Bruno Dumonts Komödie "Eine feine Gesellschaft" (taz) und M. Night Shyamalans Horrorfilm "Split" (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Das Ensembletheater ist nicht mehr zeitgemäß, erklärt der Soziologe und Kulturberater Dieter Haselbach in der nachtkritik. Doch gibt es trotz der leeren Kassen ein Interesse an Veränderungen? "Bei Beharrungskräften im System sprechen Sozialwissenschaftler von Pfadabhängigkeit. Aus einmal getroffenen Strukturentscheidungen erwachsen Folgen, die die anfangs getroffene Entscheidung stabilisieren. Solche Pfadabhängigkeit entsteht im Theater zweimal. Zum einen unterliegt ein Großteil des Personals den Beschäftigungsbedingungen des öffentlichen Dienstes. Es ist fast nicht kündbar oder anderweitig einsetzbar. Wohin mit dem Orchestermusiker mit noch 18 Jahren bis zur Pensionierung? Zum anderen: Es gibt für die Bespielung der Häuser nicht genügend Anbieter, aus denen sich ein gutes Programm zusammenstellen lässt. Ein solches Angebot wird aber nur entstehen, wenn die entsprechende Nachfrage zu erwarten ist. Dem Angebot fehlt die Nachfrage, der Nachfrage das Angebot. So bleibt das System im Status Quo gefangen. Bleibt also alles wie es ist? Auch hier gibt die Theorie der Pfadabhängigkeit ein Denkmuster. An Kreuzungspunkten, dort also, wo viele Pfade zusammenkommen, ist es wohl möglich, den Pfad zu wechseln. Hat man keine Landkarte, mag der Pfadwechsel chaotisch geraten. Aber man kann auf einen anderen Pfad kommen."

Im Interview mit der Zeit erzählt der Schauspieler Edgar Selge, gerade für seinen Soloabend "Unterwerfung" am Hamburger Schauspielhaus als "Schauspieler des Jahres" ausgezeichnet, was ihn antreibt: "Ich würde mich gern als einen Neuen entdecken, das wollte ich mein Leben lang. Ich kann mich nicht abfinden mit dem, was ich bin, mit dem, was man in mir sieht. Ich habe in meinem Leben so viel zudecken müssen, dass ich mich immer neu erfinden muss, damit das vor­kommen darf, was ich seit jeher verdecke."

Weitere Artikel: Im Standard gratuliert Ronald Pohl der Schauspielerin Erni Mangold zum Neunzigsten. Alexandra Kedves besucht für den TagesAnzeiger die Proben zu Milo Raus "Die 120 Tage von Sodom" im Schiffsbau Zürich.

Besprochen werden ein "Lohengrin" in Paris mit Jonas Kaufmann in der Titelrolle (Welt), Thomas Schendels Inszenierung der "Minna von Barnhelm" am Berliner Schlosstheater (Tagesspiegel) und Herbert Fritschs Inszenierung von Shakespeares "Komödie der Irrungen" am Burgtheater (Standard).
Archiv: Bühne

Kunst


Marlene besucht die amerikanischen Truppen (hier die Ghost Army) während des Zweiten Weltkriegs

Eine Ausstellung in Oberhausen und ein Film widmen sich der Beziehung von Marlene Dietrich und Beate Klarsfeld - beide berühmte Nazi-Gegnerinnen, erzählt Rainer Komers im Freitag. 1987, als die 86-jährige Marlene Dietrich "schon Jahre in ihrer Pariser Matratzengruft lag, aber lebhaft am Weltgeschehen teilnahm, erfuhr sie anlässlich der Eröffnung des Barbie-Prozesses von Beate Klarsfeld, die den 'Schlächter von Lyon' in La Paz aufgespürt und 1983 seine Auslieferung an Frankreich erwirkt hatte. Marlene Dietrich griff zum Telefon und wählte Klarsfelds Nummer: 'Meine Liebe, ich bewundere, wie Sie es schaffen, diese Nazi-Verbrecher aufzuspüren.' Und in einer Briefkarte, die sie ihr schickte: 'Liebe Frau Klarsfeld, ich schreibe Ihnen, um Ihnen zu sagen, dass ich Sie bewundere, dass ich Sie zutiefst liebe, und dass ich sicher bin, Sie wissen, warum. Da ich Atheistin geworden bin, kann ich nicht sagen: Gott segne Sie! Marlene Dietrich'"

In der FR resümiert Ingeborg Ruthe den Streit um ein Kunstwerk des österreichischen Aktivisten Wolfgang Flatz, der - ausgerechnet in Wolfsburg - die Motorhaube eines alten VW Käfer mit Hakenkreuz ausgestellt hat. Titel: "Der Adolf war's".

Besprochen werden die Ausstellung "Die ungerahmte Welt" im Haus der elektronischen Künste in Basel (Zeit), die Ausstellung "Jean Dubuffets Art brut" im Museum Gugging in Maria Gugging (Presse), die Ausstellung "Poussin bis David" mit  französischen Zeichnungen des 17. und 18. Jahrhunderts in der Albertina (Standard), die Ausstellung "Im Netzwerk der Berliner Moderne" im Georg-Kolbe-Museum in Berlin (Tagesspiegel) und eine Ausstellung im Antikenmuseum Basel über das Königreich Saba (NZZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Besprochen werden neue Dostojewski-Übersetzungen (NZZ), der zweite Teil aus Zygmunt Miloszewskis polnischer Krimitrilogie um den Staatsanwalt Teodor Szacki (NZZ), Jonas Lüschers "Kraft" (NZZ), Marilynne Robinsons "Gilead" (FR), Alissa Ganijewas "Eine Liebe im Kaukasus" (Tagesspiegel), Jerome Charyns "Winterwarnung" (SZ) und Imre Kertészs Band "Der Betrachter" mit Aufzeichnungen aus den Jahre 1991 bis 2001 (FAZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf unserem Meta-Blog Lit21.
Archiv: Literatur

Musik

Natalie Mayroth (Jungle World) und Tim Caspar Boehme (taz) werfen einen Vorabblick aufs Programm des Avantgarde-Festivals Club Transmediale, das in den kommenden Tagen in Berlin stattfinden wird und sich unter der Überschrift "Fear, Anger, Love" in diesem Jahr besonders mit der Kraft der Emotionen befassen will. Im Guardian schreibt Robert Worby über Pierre Boulez' Reisen nach Südamerika und deren Einfluss auf sein Schaffen. Für die Jungle World spricht Maurice Summen mit der Antilopen Gang über antifaschistischen Hiphop.

Besprochen werden ein Konzert von Paavo Järvi und Vilde Frang (NZZ), das zweite Konzert der Bläserserenaden Zürich (NZZ), Loyle Carners BritHop-Album "Yesterday's Gone" (Welt), ein Konzert der Flaming Lips (Tagesspiegel, taz, Berliner Zeitung), ein Auftritt von Lee Fields (Spex), das neue Album Mark Eitzel (Standard, Pitchfork) und das von Jörn Peter Hiekel und Christian Utz herausgegebene "Lexikon Neue Musik" (SZ).
Archiv: Musik

Architektur

Sichtlich zufrieden begutachtet Paul Andreas für die NZZ den Umbau des historischen Fondaco dei Tedeschi durch Rem Koolhaas und OMA, die das von Benetton gekaufte Gebäude am Canale Grande in ein Luxuskaufhaus umgewandelt haben: "Jenseits großer Starallüren und ihres endlosen Spiels von Formeninnovation und originären Signaturen beschränken sich die Interventionen in erster Linie darauf, den Bestand zu sichern, substanzielle Erkenntnisse über das Gebäude bewusst freizulegen und nur da, wo es die neuen Nutzungen tatsächlich erfordern, pragmatische Eingriffe vorzunehmen - mit einem reduzierten Formenkanon und einer durchaus behutsam auf den Kontext bezogenen Materialauswahl. Damit wird das pluralistische Zeitschichtenfragment des Baus durchaus mit Eleganz, aber ohne Überformungen und Kapriolen fortgeschrieben."
Archiv: Architektur