Efeu - Die Kulturrundschau

Flüchtige Aufnahmen von gespenstischer Anmutung

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07.02.2017. Die taz fragt, ob es in einer identitären Welt überhaupt noch Musik gäbe. In der New York Times verbeugt sich Teju Cole vor dem gewissenhaften Realismus des Fotografen William Christenberry. Die SZ bangt um Frankreichs staatliche Kulturinstitutionen. Die FR erlebt mit Debussy im Stuttgarter Ballett eine sehr lustvolle Faunin. Zur Einstimmung auf Milo Raus "120 Tage von Sodom" huldigt Stefan Zweifel in der NZZ den perversen Werken als der Schule des Bösen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.02.2017 finden Sie hier

Bühne

Am Wochenende hat Milo Raus "120 Tage von Sodom" Premiere, für das er Marquis de Sades "120 Tage von Sodom" mit Pasolinis "Salò o le 120 giornate di Sodoma" kurzschließt und mit den geistig behinderten Darstellern des Theaters Hora im Schauspielhaus Zürich auf die Bühne bringt. In der NZZ legt sich Stefan Zweifel schon mal vorab ins Zeug für diese superperversen Werke und den Tabubruch, der nur gelingt, wenn er schmerzt: "Der wahre Skandal von Milo Raus Produktion liegt darin, dass er das von Sade und Pasolini ausgelöschte Private, was Barthes den 'Idiorhythmus' des Individuums nannte, ins freie Schweifen der anarchischen Lust der Darsteller an Exkrementen, nackten Ärschen und Kreuzigungen überführt. Kraft ihrer Kunst lassen sie uns unsere eigene Lust an solchen Momenten des Tabubruchs neu entdecken. Nun zittern wir, endlich, weil wir als Betrachter unsere eigenen Tabus spielerisch übertreten. So wird Sades Werk im besten Sinn zu einer 'Schule des Bösen'."


Hyo-Jung Kang und Pablo von Sternenfels Sidi Larbi Cherkaouis "Faun" am Stuttgarter Ballett. Foto: Bernd Weissbrod

Ganz exzellent findet Sylvia Staude in der FR den Abend "Verführung", für den das Stuttgarter vier Stücke von spröder bis latent aggressiver Sexiness zusammengestellt hat. Besonders gut hat ihr der "L'après-midi d'un faune" des belgischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui gefallen, der seinem Faun eine gleichberechtigte Faunin an die Seite stellt: "Hyo-Jung Kang und Pablo von Sternenfels sind in Stuttgart ein tierhaft biegsames, lustvoll flexibles Paar."

Geradezu trostlos findet Ljubisa Tosic im Standard Daniele Abbados Inszenierung von Verdis "Trovatore" an der Wiener Staatsoper, als deren energetisches Zentrum Anna Netrebko brilliere. In der FAZ lässt sich Reinhard Kager die Aufführung Sängerfest gefallen.

Besprochen werden Ulrich Rasches Doppelabend "Sieben gegen Theben/Antigone" im Schauspiel Frankfurt (nach dem sich Judith von Sternburg in der FR "rechtschaffen erschöpft" fühlt, taz), Claudio Schenardis "Bleu électrique" im Zürcher Maxim-Theater (in dem Katja Baigger in der NZZ "elektrisierende Hommage an die Schweizer Polit-Pionierinnen" erkennt), Erich Maria Remarques "Die Nacht von Lissabon" am Schauspiel Hannover (SZ).
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Film

Mit Twitter-Diskussionen, Aftershow-Talkshows und versteckten Rätseln, die zu weiterführenden interaktiven Angeboten im Netz führen, verändern TV-Serien den Charakter des Mediums, schreibt David Assmann in der NZZ: Sie wird zu einem "Unterhaltungsformat, das zum passiven Unterhalten-Werden ebenso einlädt wie zum aktiven Sich-Unterhalten. Das Fernsehen wird so von einem Medium der Vereinzelung zu einem Medium der Verständigung zurückverwandelt."

Weiteres: Ben Afflecks Film "Live By Night" über den Mafiagangster Joe Coughlin hat in Standard-Kritiker Bert Rebhandl keinen Freund gefunden. Für den Tagesspiegel porträtiert Andreas Busche den Videoessay-Pionier Kevin B. Lee, der derzeit als Harun-Farocki-Stipendiat in Berlin weilt und an dieser Stelle darüber bloggt. Hier dessen neue Arbeit "Not Another Camelot" über den Weg von Jackie Kennedy bis zu Melania Trump:



In einem schön bebilderten Beitrag auf Atlas Obscura ruft Sarah Laskow ein ephemeres Phänomen der Analogfilm-Zeit in Erinnerung: Die China Girls - Aufnahmen junger, anonymer Frauen also, deren Bilder sich zu Beginn von Filmrollen fanden, um dem Labortechniker einen raschen Eindruck davon zu vermitteln, ob die Farbwerte der betreffenden Kopie tatsächlich passabel sind. Mittlerweile sammeln Medienhistoriker diese flüchtigen Aufnahmen von manchmal gespenstischer Anmutung. Hier eine Video-Compilation:


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Literatur

In den Neunzigern wurde der rumänische Schriftsteller Norman Manea aus seinem Heimatland geekelt, jetzt wird er dort hofiert. Im großen NZZ-Gespräch, das Markus Bauer mit dem Autor geführt hat, geht es unter anderem um die Gründe dafür. "Mein Werk wurde in Amerika und in Frankreich für wichtig befunden, und irgendwann hat einer in Bukarest entdeckt, dass es in New York diesen verrückten Rumänen gibt, der auch Jude und aus der Bukowina ist. Ihn auszuzeichnen, ist plötzlich eine Auszeichnung, und alle sind begeistert. Warum eigentlich? Ist es unhöflich, danach zu fragen? Das war mein Weg zurück nach Rumänien. Aus dem ausländischen Exil. Rumänien ist ein Land, das nach Anerkennung lechzt. Wenn etwa eine sri-lankische Zeitschrift über Rumänien schreibt, erscheint der Text im Nullkommanichts in der rumänischen Presse: 'Schaut, das schreiben sie über uns.'"

In der FR gratuliert Arno Widmann Klaus Theweleit zum Fünfundsiebzigsten und mahnt: "Es mag anstrengend sein, Theweleits mäandernden Reisen durch die Weltgeschichte der Opferproduktion zu folgen. Es wird aber von Tag zu Tag wichtiger."

Besprochen werden die englische Ausgabe der dreibändigen Kafka-Biografie von Reiner Stach (Open Letters Monthly), Oğuz Atays "Die Haltlosen" (NZZ), Ngugi wa Thiong'os "Die Geburt eines Traumwebers" (Tagesspiegel), Connie Palmens "Du sagst es" (Tell), Anna Kims "Die große Heimkehr" (FR), Florian Scheibes Gentrifizierungsroman "Kollisionen" (online nachgereicht von der Zeit), Aris Fioretos' "Mary" (FAZ) und eine Hörspielbearbeitung von Jack Londons "Die Zwangsjacke" (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unsereraktuellen Bücherschau.
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Musik

Sehr wehmütig resümiert Philipp Rhensius in der taz die Club Transmediale: Schon bloßes Tanzen in einem Raum mit Leuten aus aller Welt kam ihm hier mit einem Mal als politischer Akt vor - nämlich "als Bewusstmachung dessen, was auf dem Spiel steht. So drängten die Paradoxien der Gegenwart auf den Mikrokosmos des Dancefloors. Was wäre, wenn die Sehnsucht der Neuen Rechten nach einer homogenen Gesellschaft eintreten würde? Könnte ein Festival mit KünstlerInnen aus aller Welt noch stattfinden? Wie würde sich deren Musik anhören? Gäbe es überhaupt noch Musik?"

Die demonstrative Pop-Opulenz von Lady Gagas Auftritt beim Super Bowl dagegen war auf den ersten Blick zunächst einmal gar nicht politisch, vor allem nicht im Vergleich zu Beyoncés vielkommentierter Show im vergangenen Jahr, meint Dirk Peitz in seinem Resümee auf ZeitOnline, er sieht aber auch Nuancen. Wired bringt dazu technische Hintergründe, wie es gelungen ist, mittels synchronisierter Drohnen Old Glory im Himmel funkeln zu lassen.

Weitere: Jens Uthoff spricht in der taz mit der türkischen PsychRock-Band Baba Zula, die gerade ihr 20-jähriges Bestehen feiern kann. Tilman Spreckelsen gratuliert in der FAZ Juliette Gréco zum Neunzigsten.

Besprochen werden das kollaborative Album "Funeral Doom Spiritual" von M. Lamar und Hunter Hunt-Hendrix (Pitchfork), ein Konzert von András Schiff und der Cappella Andrea Barca (NZZ) und der Berliner Auftritt des HipHop-Duos Rae Sremmurd (Tagesspiegel).
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Kunst


William Christenberry: Coleman's Cafe in Greensboro, Alabama, 1967.

Teju Cole widmet sich in seiner Fotografie-Kolume in der New York Times dem Fotografen William Christenberry, der in seinen gewissenhaft realistischen Fotoserien die Kleinstädte Alabamas porträtierte: "Christenberry machte sich selbst zum Historiker verschiedener Orte in Hale County, nicht weil sie von großer Bedeutung waren (sie waren es fast nie), sondern weil sie angesprochen haben und einen Sinn für Veranwortung in ihm wachriefen. Seine Fotografien zeigen im Ganzen das Vergehen der Zeit in diesem Winkel des amerikanischen Südens."

Joseph Hanimann beobachtet in der SZ, wie Frankreichs staatliche Museen gegenüber den privaten immer mehr ins Hintertreffen geraten: "Was Staatsmuseen aus finanziellen oder kulturdiplomatischen Gründen immer weniger gut können, leisten Private immer besser. Die großen Stiftungen, Nachfahren der einstigen Privatsammler, sind mit hoch professioneller Öffentlichkeitsarbeit selber Akteure einer neuen Öffentlichkeit geworden. Finanziell scheinen ihre Möglichkeiten unbegrenzt zu sein und politisch stehen sie abseits weltpolitischer Verspannungen."

Als große Geschichte der Demokratisierung der Fotografie lobt Petra Schellen in der taz die Ausstellung "Revision" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Kunst selbst ist Natur" des landschaftsmalers Johann Georg von Dillis im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt (FAZ).

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Architektur


Paulo Mendes da Rocha: Paulistano Athletic Club in São Paulo, 1961. Foto RIBA

Im Guardian huldigt Oliver Wainwright dem brillanten Brutalismus des brasilianischen Architekten Paulo Mendes da Rocha, dem gerade die Goldmedaille des Royal Institute of British Architects verliehen wurde. So wie seine Gebäude der Schwerkraft trotzen, so widerstehe Mendes den Realtitäten in Sao Paulo: "'Jeder Raum ist öffentlich', sagt Mendes, ' der einzige private Raum, den man sich vorstellen kann, ist der menschliche Geist."

Patrick Bahners berichtet in der FAZ, dass der Architekt Stephan Braunfels erfolgreich gegen seinen Ausschluss aus dem Wettbewerb für den Münchner Konzertsaal geklagt hat. Auch dem Gericht waren die Maßstäbe zu undurchsichtig, die das Bauamt München angelegt hatte, um das planerische Leistungsvermögen der Bewerber zu ermitteln.

Besprochen wird die Ausstellung "Begreifbare Baukunst " über Türgriffe in der Architektur im Grassimuseum für Angewandte Kunst in Leipzig (FAZ).
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