Efeu - Die Kulturrundschau

Verkürzte Syntax, rotzig, derb

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09.03.2017. Ziemlich feige findet die FAZ die Ausladung des AfD-Politikers Marc Jongen von einer Theaterdiskussion. Im TagesAnzeiger ist Raphael Urweider dagegen froh, dem "Monster" Jongen nicht begegnen zu müssen. In der taz denkt der Autor Senthuran Varatharajah über authentische Sprache nach. Im Blog Hundertvierzehn erzählt Thorsten Palzhoff, wie niederländische Autoren auf Geert Wilders reagieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2017 finden Sie hier

Bühne

Nach Protesten wurde eine politische Diskussionsveranstaltung zur "neuen Avantgarde" im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee abgesagt, an der neben vier Linksliberalen auch ein Rechter eingeladen war, nämlich der AfD-Politiker und Philosophiedozent Marc Jongen. Ganz schön feige, findet Simon Strauss die Absage in der FAZ: "Mit Blick auf die Vielzahl an Diskussionsveranstaltungen unter explizit linken Vorzeichen, die an deutschsprachigen Stadttheatern stattfinden, drängt sich einmal mehr die Frage des diskursiven Gleichgewichts auf. Während beispielsweise an der Berliner Volksbühne die linke Avantgarde unter sich einen 'Plan B für Europa' diskutiert, darf in Zürich ein Rechter nicht sprechen, weil man sich vor seinen demagogischen Fähigkeiten fürchtet?"

Im TagesAnzeiger ist der Schriftsteller Raphael Urweider froh über die Absage: "Ein Theater kann nicht einfach ein Monster einladen und glauben, es brauche keinen Käfig." In der nachtkritik findet Dirk Pilz, die ganze Debattenidee des Theaterhauses war irgendwie abwegig: "Für die Zukunft sollte sich jedes Theaterhaus genauer überlegen, was das Ziel solcher Veranstaltungen eigentlich sein soll. Der Hinweis auf die Notwendigkeit von Debatte überhaupt ist schlichter Formalismus." Im Freitag erinnert sich Max Glauner an intelligentere Zeiten: "Im Jahr 2013 hatte Milo Rau in den 'Zürcher Prozessen' kurzen Prozess mit der einstig linken, heute Christoph-Blocher-Roger-Köppel-gesteuerten Weltwoche gemacht - es war eine intelligente theatrale Auseinandersetzung mit der neuen Rechten, die Vertreter der SVP und aller anderen Parteien live zu Wort kommen ließ. Dazu fehlte in der Gessnerallee offensichtlich die Fantasie."

Besprochen werden Jossi Wielers Inszenierung von Händels "Ariodante" in Stuttgart (NZZ), Ersan Mondtags Inszenierung von Sophokles' Thebanischer Trilogie am Maxim-Gorki-Theater in Berlin (Freitag) und die Choreografie "Sleep Technique" der Gruppe Dewey Dell im Wiener Brut-Theater (Standard).
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Literatur

In München erhält Senthuran Varatharajah heute für seinen Roman "Vor der Zunahme der Zeichen" den Chamisso-Förderpreis. Im taz-Gespräch mit Jens Uthoff erweist sich der Schriftsteller als auf sympathische Weise skeptisch gegenüber Identitätszuweisungen und -fokussierungen. "Im literarischen Diskurs wird das Sprechen über Identität vom Begriff der Authentizität bestimmt: Wenn jemand mit Migrationsgeschichte von einer Person mit Migrationsgeschichte erzählt und dieser Person eine Sprache gibt, die genau dem entspricht, wie Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker, Leserinnen und Leser glauben, dass 'diese Menschen' sprechen, verkürzte Syntax, rotzig, derb - dann gilt diese Sprache als authentisch. Authentizität als literarisches Kriterium - und dass sie ein Kriterium ist, sagt genug über die Qualität dieses Diskurses - ist die Bestätigung dessen, was ich immer schon gewusst habe, über Menschen, von denen ich nichts weiß und nichts wissen möchte. Es ist ein Synonym für Ressentiment."

Im Autorenblog Hundertvierzehn des S.Fischer Verlags verschafft Thorsten Palzhoff am Vorabend der niederländischen Parlamentswahlen einen Überblick darüber, wie die Literaten des Nachbarlandes auf Geert Wilders reagieren: Zwar gebe es vereinzelte Ausnahmen, doch "die Neigung zu öffentlichem Widerspruch scheint unter den niederländischen Autoren nicht besonders ausgeprägt zu sein. Den liberalen und toleranten Geist, für den die Niederlande so lange bekannt waren, nehme ich gegenwärtig eher als ein Geltenlassen von extremistischen Auffassungen in der Öffentlichkeit wahr."
 
Weiteres: Die Welt dokumentiert Wolf Lepenies' Laudatio auf Navid Kermani, der gestern mit dem Bürgerpreis der deutschen Zeitungen ausgezeichnet wurde. Das Logbuch Suhrkamp veröffentlicht Wolfgang Helds kurz vor seinem Tod im vergangenen Dezember fertiggestellte Erzählung "Die Nachtglocke".

Besprochen werden Debora Vogels "Die Geometrie des Verzichts - Gedichte, Essays, Briefe" (Tagesspiegel), Gisela von Wysockis "Wiesengrund" (Intellectures), Dave Eggers' "Bis an die Grenze" (SZ), Andrej Platonows in den 20ern entstandenes Buch "Die Baugrube" (Berliner Zeitung), David Streiffs Biografie über den Journalisten Manuel Gasser (NZZ) und Karine Tuils "Die Zeit der Ruhelosen" (FAZ).
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Kunst

Paris Bordone (1500-1571) Junge Dame mit Spiegel und Magd, um 1535Paris Bordone (1500-1571) Junge Dame mit Spiegel und Magd, um 1535
Einfach hingerissen ist SZ-Kritiker Gottfried Knapp von der Ausstellung "Die Poesie der venezianischen Malerei" in der Hamburger Kunsthalle, die mit Werken von Paris Bordone, Palma il Vecchio, Lorenzo Lotto und Tizian vereint. Besonders Bordone hat es dem Kritiker angetan: "Bordone gibt den agierenden Figuren eine plastische Überdeutlichkeit, eine muskulöse Präsenz, die sich deutlich von den Darbietungsformen und Dramatisierungsmethoden der älteren Kollegen unterscheidet."

Weitere Artikel: Im Art Magazin erklärt die kanadische Psychologin und Autorin Susan Pinker, warum Künstlerinnen derzeit auf dem Vormarsch sind. Stephanie Rosenthal wird neue Chefin des Berliner Gropius-Baus, meldet der Tagesspiegel. In Berlin wird darüber gestritten, ob bei Ausstellungen die Künstler künftig vergütet werden sollen, berichtet Linda Gerner in der taz: Laut der Initiative Ausstellungsvergütung ist die "Annahme, dass Künstler vor allem vom Verkauf ihrer Kunst leben, überholt, eine Ausstellungsvergütung muss die Arbeit der Künstler honorieren".

Besprochen werden eine Ausstellung zur Baugeschichte Berlins 1920-1990 im Berliner Museum für Architekturzeichnung (Tagesspiegel) und Ausstellungen von Gabriel Sierra und Angelika Loderer in der Wiener Secession (Standard).
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Film

Für die Welt unterhält sich Elmar Krekeler mit Josef Hader über dessen (in Tagesanzeiger und SZ besprochenes) Regiedebüt "Wilde Maus". Standard-Kritiker Michael Pekler spricht mit Danny Boyle über dessen "Trainspotting"-Sequel. Zum gestrigen Frauentag plädiert Morgane LLanque in der taz für mehr weiblichen Zusammenhalt in Filmen. Aus demselben Anlass hat sich Christine Tagler im Standard mit der feministischen Filmemacherin Helke Sander unterhalten. Andreas Hartmann rät in der taz dazu, unbedingt Uwe Frießners 80er-Westberlin-Film "Baby" wiederzuentdecken, den das Regenbogenkino in Kreuzberg zeigt.

Besprochen werden Barry Jenkins' Oscargewinner "Moonlight" (NZZ, taz, mehr dazu im gestrigen Efeu), Oriol Paulos auf DVD veröffentlichter "Der unsichtbare Gast" (taz), Mahmoud Sabbaghs saudi-arabische Romantic Comedy "Barakah Meets Barakah" (taz), das Erdogan-Biopic "Reis" (NZZ) und der neue "King Kong"-Film, der seinen Titelheld zum Kummer von Karsten Munt auf critic.de zu "einem kleinen Äffchen in der großen Welt der Franchises" degradiere.
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Musik

Im neueröffneten Berliner Pierre-Boulez-Saal ließ sich Tagesspiegel-Kritiker Frederik Hanssen mit einem Vortrag des Komponisten Jörg Widmann durch die "erogenen Zonen der Partituren" führen: "Jörg Widmann redet leidenschaftlich und mitreißend, zudem vermag er alle Beispiele sofort ausdrucksstark auf dem Flügel zu untermauern, wobei er sämtliche Stücke auswendig parat hat. Dennoch ist es gar nicht so leicht, mit heutigen Ohren so zu hören wie zu Beethovens Zeiten: Dass seine 1. Sinfonie mit einem Dominantseptakkord beginnt statt mit der Tonika der offiziellen Tonart, war im Jahr 1800 ein echter Akustik-Affront, ein bewusster Regelverstoß. Um den auch im Jahr 2017 wieder nachempfinden zu können, braucht es schon einen so guten Fremdenführer durch vergangene Zeiten wie Jörg Widmann."

Die Welt bringt einen Mitschnitt von Víkingur Ólafssons Berliner Philip-Glass-Konzert. Für den Tagesspiegel spricht Hans Ackermann mit Dirigent Zubin Mehta. Markus Schneider gratuliert John Cale in der Berliner Zeitung zum 75. Geburtstag. Für die taz porträtiert Carolin Weidner den Elektro-Jazzer John Derek Bishop, der sich mit seinem Projekt Tortusa auf "intime Sounds aus dem Innenreich" spezialisiert hat. Hier wagen wir ein Ohr.



Besprochen werden Ed Sheerans neues Album (Welt) und ein Konzert des NHK Symphony Orchestras in Wien (Standard).
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