Efeu - Die Kulturrundschau

Hie und da ein Möbelwurf

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05.04.2017. In tunesischen Gefängnissen wird jetzt gelesen wie nie zuvor, erzählt die NZZ: Bei Gründung eines Lesezirkels gibt es Straferlass. Die taz stellt die präzis-unscharfe Fotografie der Künstlerin Shirana Shahbazi vor. Die Welt plädiert auch im urbanen Quartier für eine strikte Trennung von Öffentlichem und Privatem. Die FAZ feiert den Kinderbuchautor und Wunderwirker Wolf Erlbruch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.04.2017 finden Sie hier

Literatur

Annette Steinreich erzählt in der NZZ von einem besonderen Projekt in Tunesien, durch das doch immer wieder ein Hauch des arabischen Frühlings weht: Der Menschenrechtler Sadok Ben Mhenni und seine Tochter, der Bloggerin Lina Ben Mhenni haben erfolgreich Literatur in die Gefängnisse geschmuggelt: "Um die Häftlinge zum Lesen zu motivieren, spielt die Gefängnisverwaltung mit einem kühnen Gedanken: Wer liest und von seinem Buch eine schriftliche Zusammenfassung erstellt, darf ohne Gitterwand mit seinen Angehörigen sprechen. Wer einen Lesezirkel ins Leben ruft, kann möglicherweise seine Haft verkürzen. So könnte Kultur zum Hebel für dringend notwendige institutionelle Reformen im Strafvollzug werden."

Sehr beglückt ist FAZ-Kritiker Andreas Platthaus von der Entscheidung, Wolf Erlbruch als ersten deutschen Autor mit dem renommierten und stattlich dotierten Lindgren-Gedächtnispreis für Kinderbücher auszuzeichnen. Erlbruch sei "ein Wunderwirker", schreibt er: "Überhaupt, Format: Wolf Erlbruch nutzt es kreativ, vor allem bei extremen Querformaten in Büchern wie 'Die Menschenfresserin' oder dem 'Hexeneinmaleins' - beides nicht gerade gezeichnete Schlummerlieder. Letzteres ist ganz nebenbei aber auch ein Kurzlehrgang durch die Kunstgeschichte, in der man Hommagen an Giorgio de Chirico ebenso finden kann wie Parallelen zu William Kentridge."

Weiteres: Petra Schellen würdigt in der taz umfassend das Werk des vor hundert Jahren geborenen Schriftstellers Johannes Brobowski (mehr dazu auch im Tagesspiegel). Sehr aufschlussreich ist die neue Ausgabe der Zeitschrift Text - Kritische Beiträge, die sich mit dem Briefwechsel zwischen Paul Celan und dem Freiburger Gemanistikprofessor Gerhart Baumann befasst, schreibt Helmut Böttiger in der SZ. Mit großer Freude liest sich Welt-Autor Tilman Krause durch Alexander von Humboldts Reisetagebücher, die seit kurzem digitalisiert vorliegen. Der Bayerische Rundfunk befasst sich im Zündfunk-Feature mit Science-Fiction-Pionier Isaac Asimov.

Besprochen werden Luca D'Andreas "Der Tod so kalt" (Standard), Clemens Meyers Erzählband "Stille Trabanten" (online nachgereicht von der FAZ), Sara Gallardos 1971 verfasster, argentinischer Roman "Eisejuaz" (Standard) Christoph Heins "Trutz" (Tagesspiegel), Annie Dillards erstmals auf Deutsch veröffentlichter Aussteiger-Essay "Pilger am Tinker Creek" von 1975 (Tagesspiegel), Juri Andruchowytschs "Kleines Lexikon intimer Städte. Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik" (Standard), Louise de Vilmorins "Der Brief im Taxi" (FAZ) und Arno Franks autobiografisches Debüt "So, und jetzt kommst du" (SZ).
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Architektur

Jahrzehntelang wurde die Stadt vernächlässigt, auf einmal wollen aber wieder alle in ihr leben. Schön, dass sich die Politik wieder um Stadtplanung kümmert und "urbane Quartiere" entstehen lassen will, doch für Welt-Kritiker  Dankwart Guratzsch steht und fällt jede Stadt mit der Trennung von Öffentlichem und Privatem: "Das ganze Geheimnis eines Wohlfühlstädtebaus liegt in dieser Trennung, weil erst dadurch umgekehrt auch der öffentliche Raum wieder öffentlich im Wortsinn wird. Nur hier kann es gelingen, den Straßen wieder ein Gesicht zu geben, indem zum Beispiel Eckhäuser hervorgehoben, Geschosse in differenzierter Ausformung für unterschiedliche soziale Schichten gestaltet, Parterrezonen mit Läden ausgestattet, Wohnungen und Arbeitsstätten wieder näher zusammengeführt werden. Nur so entsteht urbane Mischung, eine Stadt der kurzen Wege und der Entschleunigung, ein Quartiers- und Sozialzusammenhang, eine Stadt der Integration."

Im etwas zahnlosen NZZ-Interview mit Jürgen Tietz lobt die Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher ihre erfolgreiche Arbeit und die Einführung des Baukollegiums vor zehn Jahren.
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Film

Für ZeitOnline unterhält sich Ann-Kristin Tlusty mit Regisseur Jakob Lass über dessen neuen Film "Tiger Girl" in dem sich zwei Mädchen in Security-Uniformen durch Berlin prügeln. "Das geht natürlich nicht", schreibt dazu Dietmar Dath in der FAZ. "Aber zu demonstrieren, wie genau es nicht geht, das geht in 'Tiger Girl' dann doch haarscharf gut." Ein weiteres Gespräch mit dem Regisseur hat Susanne Lenz für die Berliner Zeitung geführt. In der NZZ porträtiert Geri Krebs die Hauptdarstellerin Ella Rumpf.

Weiteres: Andreas Busche erinnert im Freitag an die Kontroversen um Ernst Lubitschs Komödie "Sein oder Nichtsein", die vor 75 Jahren uraufgeführt wurde. In der Welt schreibt Hanns-Georg Rodek zum 95. Geburtstag von Doris Day.

Besprochen werden Greg Mottolas Actionkomödie "Die Jones - Spione von nebenan" (Freitag), Aki Kaurismäkis "Die andere Seite der Hoffnung" (Freitag) und der Gesprächsfilm "Ein deutsches Leben" mit Goebbels' ehemaliger Sekretärin Brunhilde Pomsel, den Bert Rebhandl vom Standard allerdings für wenig interessant hält: "Dem mutmaßlich großen Thema war hier niemand so richtig gewachsen."
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Kunst

Shirana Shahbazi, First Things First, Ausstellungsansicht Maschinenhaus M1, Foto: Jens Ziehe

Malerische Fotografie erlebt taz-Kritikerin Eva-Christina Meier in der Ausstellung "First Things First" der deutsch-iranischen Künstlerin Shirana Shahbazi Berliner Kindl-Zentrum für zeitgenössische Kunst: "Shabazis Fotografien, ihre Auswahl der Motive und deren Kombination sind eine kontinuierliche Auseinandersetzung über die Wahrnehmung von Bildern und die Grenzen des Mediums. 'Fotografie ist präzise und unscharf zugleich', beschreibt sie das Spannungsfeld ihrer künstlerischen Arbeit, in der sie Bildtypen und -genres miteinander kombiniert."

Weiteres: In der SZ erklärt Christo im Interview mit Willi Winkler, warum seine Kunst schon immer die bessere Politik war und warum er sein nächstes Projekt, eine Installation in Colorado, nach Donald Trumps Wahl abgesagt hat: "Ich wollte die Möglichkeit ausschließen, dass das jemand für sich ausnutzt." Für die FAZ hat sich Antje Stahl zur Kunst-Triennale nach Kathmandu fliegen lassen.

Besprochen werden eine Ausstellung der Schweizer Malerin Anne Loch im Bündner Kunstmuseum in Chur (NZZ), die bereits vielfach gefeierte Paula-Modersohn-Becker-Ausstellung "Der Weg in die Moderne" im Hamburger Bucerius Kunst Forum (SZ).
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Musik

Auf Pitchfork fragt sich Jayson Greene, ob Rihanna die einflussreichste Sängerin des Jahrzehnts ist. Jens Uthoff hat für die taz ein Skype-Interview mit den Noise-Künstlern Wolf Eyes geführt

Besprochen werden Anohnis Hamburger Konzert (taz), ein Bach-Konzert mit Les Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski (Standard), ein Remix von Conrad Schnitzlers Tonspuren durch den Elektrokünstler Pole (Spex), Jamiroquais "Automaton" (Pitchfork), ein Konzert von Slowdive (taz), das Comebackalbum "Close Your Eyes and See" von The Blackeyed Susans, das Standard-Kritiker Karl Fluch ziemlich begeistert, und Ulvers neues Album "The Assassination of Julius Caesar, mit dem die einstige Black-Metal-Band endgültig im Depeche-Mode-Pop angekommen ist (The Quietus).
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Bühne


Nicole Chevalier als Violeta in "La Traviata" am Luzerner Theater.

Benedikt von Peter hat nun auch in Luzern Verdis "Traviata" als Ein-Frau-Performance inszeniert, womit sich Violetas liebende Verlorenheit ins Wahnhafte steigert. Doch so grandios NZZ-Kritiker Felix Michel Nicole Chevalier in der Titelrolle findet, so fragwürdig erscheint ihm das Regiekonzept, das sich alles drumherum spart: "Paradoxerweise nähern sich sowohl die wirbelnde Hauptfigur als auch die im Dunkeln bleibenden restlichen Rollen in ihrer je eigenen szenischen Unverbindlichkeit einer längst überwunden geglaubten Unsitte an: dem Rampensingen. Die altbackenen händeringenden Sängergesten sind nun einfach durch das Vokabular der Performance ersetzt - panische Blicke, konvulsivische Bewegungen, regelmäßiges Wechseln der spärlichen Kleider, hie und da ein Möbelwurf."

Weiteres: In der nachtkritik berichtet Gabi Hift vom Berliner F.I.N.D.-Festival. Besprochen werden ein "Siegfried" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Christopher Wheeldons Ballett "Alice im Wunderland" bei der Ballettfestwoche in Mücnhen (das Eva-Elisbaeth Fischer in der SZ allzu harmlos findet), Calixto Bieitos "Orestie" in Basel (SZ), .
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