08.04.2017. Heute eröffnet die Documenta in Athen, statt in Kassel, und zahlt griechische Schulden in Oliven-Valuta zurück: Die Welt winkt dankend ab. Die Zeit bewundert immerhin den Mut zur Selbstentwurzelung. In der NZZ erklärt Herbert Fritsch, was er an der Bibel liebt: sie ist so schön grausam und pervers. Hexameter machen den Krieg auch nicht schöner, lernt Brigitte Kronauer in der FAZ. Im Zeit-Blog 10 nach 8 feiert Annett Gröschner die Ästhetik des doppelten Blicks der Sibylle.
Kunst, 08.04.2017
Heute eröffnet die Documenta in Athen, bevor es in Kassel weitergeht. "Von Athen lernen" sollen die Besucher laut dem Arbeitstitel des Leiters Adam Szymczyk - über den "Süden als Geistesverfassung", über Kolonialismus und Kapitalismus, über Krieg und Flüchtlinge. In der Weltwinkt Hans-Joachim Müller dankend ab: "Die Krux ist halt, dass da nicht so viel rausgekommen zu sein scheint. Und man schon mächtig stolz ist auf das unabänderliche Vorhaben der Argentinierin Marta Minujín, die griechischen Schulden in Oliven-Valuta (400 kg) zurückzuzahlen und sie der geschmähten Kanzlerin zu übergeben. Mehr ist halt nicht geblieben vom künstlerischen Ringen mit den Folgen der Austeritätspolitik. 'Konzeptkunst', sagt Frau Minujín. Schwachsinn, sagen wir."
Zeit-Kritiker Hanno Rauterberg notiert bei den Kuratoren eine "stille Demut", einen Mut zur "Selbstentwurzelung", die ihm sympathisch sind. Aber künstlerisch zündet das leider nicht so richtig, meint auch er: "Es gibt Ausnahmen, und einige der Künstler werden von sich reden machen: die Malerin Sedje Hémon mit ihren wunderbar schwebenden Kompositionen oder Theo Eshetu, der in seinen Filmen heutige Gesichter mit antiken Köpfen oder Bildern der Malereigeschichte überblendet - und so eine mal komische, mal unheimliche Kunstgeschichte der Gegenwart entwirft. Aber aufs Ganze gesehen, rächt sich das völkerkundliche Bemühen der Documenta. Ein Fetisch kennt keine reflexive Brechung, einem Diagramm fehlt notwendigerweise die ästhetische Überzeichnung. Während die Kunst der Moderne von Verfremdung lebt, verlangt kulturelles Erbe, archivalisches zumal, nach aufrichtiger Treue."
In der bislang größten Retrospektive des Wiener Malers Richard Gerstl (1883-1908) sind in der Frankfurter Schirn fast alle erhaltenen Bilder zu sehen, berichtet Manfred Clemenz in der NZZ, den insbesondere der hypnotische Blick in Gerstls Selbstporträts fasziniert: "Vor blauem Hintergrund, von Schraffuren durchzogen, zeigt sich der Künstler mit fast kahlgeschorenem Schädel, umgeben von einer hellblauen Aureole, der magere, leuchtende Körper ist mit einem weißen Lendentuch bedeckt. Die Assoziation an ein Auferstehungsbild (Christus, Lazarus) liegt nahe. Aber wovon ist Gerstl auferstanden, wenn überhaupt? Handelt es sich um seine Auferstehung als Künstler, als Mensch? Der Gerstl-Forscher Raymond Coffer hält dagegen: Es handle sich um eine profane Selbstvergewisserung des Künstlers, der wegen körperlicher Mängel vom Militärdienst suspendiert wurde, sehr zu seiner Enttäuschung. Das Porträt, eines der expressivsten des frühen 20. Jahrhunderts, gibt sein Geheimnis nicht preis." (Richard Gerstl: "Selbstbildnis als Halbakt", 1902/04, Öl auf Leinwand.)
Weitere Artikel: Im Standardporträtiert Colette M. Schmidt die Kuratorin Ekaterina Degot, die den nächsten Steirischen Herbst ausrichten wird. In der NZZdenkt Dominik Fugger anlässlich der Vermeer-Ausstellung im Pariser Louvre darüber nach, warum der niederländische Maler heute ein Blockbuster ist. Und Bernt Hagen betrachtet das Seitenaltarbild "Himmelfahrt Mariae", das nach der Restaurierung jetzt wieder in der Heilig-Kreuz-Kirche in Augsburg zu sehen ist. Susanne Messmer besucht für die taz den Künstler Ryan Mendoza, der in Berlin das Detroiter Wohnhaus der Bürgerrechtlerin Rosa Parks aus Originalmaterialien zusammengebaut hat. Im Tagesspiegelerinnert Rüdiger Schaper an das Pissoir, das Marcel Duchamp vor hundert Jahren in New York ausstellte.
Besprochen werden eine Ausstellung des Bildhauers Rudolf Belling im Hamburger Bahnhof in Berlin (Tagesspiegel),eine Ausstellung mit Werken des verstorbenen Malers Hermann Bayer und des Bildhauers Roland Kollnitz im 21er Haus in Wien (Standard), die Ausstellung "¡Hola Prado!" im Kunstmuseum Basel (TagesAnzeiger),
Bühne, 08.04.2017
Herbert Fritsch erklärt im Interview mit der NZZ, warum er die "Grimmigen Märchen" am Zürcher Schauspielhaus inszeniert und was das mit den Grimms und der Bibel zu tun hat: "Das Wunderbare ist doch, dass diese Märchen überhaupt nicht lieblich sind! Sie sind extrem sexualisiert, sie sind pervers, grausam und haben grausamen Humor. ... Aus der biblischen Apokalypse, einem obszönen, magischen, aber auch wirren und verschrobenen Text, habe ich versucht, den falschen Kirchenklang wegzubekommen. Ich wurde von meiner Grossmutter ja streng katholisch erzogen und habe erst später gemerkt, wie aggressiv, moralisch die Kirche eigentlich ist, um damit so viel Ekelerregendes, aber auch Menschliches zu verbergen." (Eine Kritik zum Stück gibts in der nachtkritik.)
Weiteres: Barbara Möller besucht für die Welt die Schauspielerin Dagmar Manzel in der Komischen Oper.
Besprochen werden Harald Poschs Inszenierung von Ödön von Horváths "Italienischer Nacht" im Meidlinger Werk X (Standard, Presse, nachtkritik), Sebastian Sommers Inszenierung von Bertolt Brechts "Baal" am Berliner Ensemble (Berliner Zeitung) und Ragnar Kjartanssons fünfstündiges "Raw Salon: Ein Rohspiel" nach einem Text von Anne Carson an der Berliner Volksbühne (Berliner Zeitung, nachtkritik).
Design, 08.04.2017
Mit größtem Vergnügen liest die SchriftstellerinAnnettGröschner im "10 nach 8"-Blog auf ZeitOnline den Katalog zur Rostocker Ausstellung über die legendäre und zuletzt wieder vielgerühmte DDR-ModezeitschriftSibylle (mehr dazu hier und hier): "Die Zeitschrift hielt, was ihr Name versprach: Sie orakelte doppeldeutig und konnte in Rätseln sprechen. Das kam Leserinnen und Lesern (ja, die Sibylle hatte auch Leser), die das Doppeldeutige zum geistigen Überleben brauchten, entgegen. ... Dass die Sibylle als Modezeitschrift für die Funktionäre auch in der DDR unter 'Gedöns' fiel, kam den Redakteurinnen entgegen, die Kontrolle war laxer als bei politischeren Zeitschriften." Was sich sehr konkret in der Zeitschrift niederschlug: "Im Schatten der Macht ließ sich eine Ästhetik des doppelten Blicks entwickeln, in die Welt und nach innen." (Bild: Ausstellungskatalog, Hartmann Books)
Ausschnitt aus der Sibylle. 1962/4, Seite 38-39, Foto: Arno Fischer
Film, 08.04.2017
In der NZZbringt Alexander Kohler Zahlen und Hintergründe zur Kinolandschaft in der Schweiz.
Besprochen Ben Wheatleys Actionfilm "Free Fire" (Standard, unsere Kritik hier), der Gesprächsfilm "Ein deutsches Leben" mit Goebbels-Sekreträrin BrunhildePomsel (Tagesspiegel) und die französische Politthriler-Serie "Baron Noir" (online nachgereicht von der FAS).
Literatur, 08.04.2017
So ein Trojanischer Krieg ist eben kein Kinderschlecken: Mit der "Odyssee" und der "Aeneis" konnte SchriftstellerinBrigitte Kronauer ganz gut umgehen, bei Homers "Ilias" ist sie jetzt aber erstaunt darüber, was für ein fortlaufendes, blutströmendes Massaker der Text abbildet, bei dem sich die Götter als handelnde Personen im übrigen noch nicht einmal göttlich, sondern ziemlich nieder verhalten. Ziemlich heutig kommt ihr das vor, bekundet sie im literarischen Wochenendessay der FAZ: "Wir mögen ähnliche Bilder aus den Schilderungen des militärischen Irrsinns der beiden Weltkriege im Prinzip vielleicht gewohnt sein, hier aber, unter dem melodischen, festlichenGleichmaßdesHexameters, beschwichtigen und verdoppeln sich ihre Schrecken. Eine fürchterliche Aktualität gewinnt dabei nach dem erbarmungslosen, rituell systematischen Schänden, das Achill, um seinen Freund zu rächen, dem getöteten Hektor in scheußlicher Sorgfalt antut ... Wir erkennen solch archaisches Wüten im 21. Jahrhundert durchaus wieder!"
Kaum eine Spalte ist der FAZMaxim Billers in der Zeit veröffentlichter, zweiseitiger Rundumschlag gegen seine Kritiker (unser Resümee) wert: Andreas Platthaus, von Biller für seine "Biografie"-Rezension (unsere Notizen) direkt angegriffen, winkt bloß müde ab: Er fühlt sich falsch zitiert. Und: "Wer 'Wahrheit' nur als antisemitischen Kampfbegriff kennt, der muss es damit selbstverständlich nicht genau nehmen. Hauptsache, er kommt als Schriftsteller mal wieder ins Gespräch."
Ins Gespräch gekommen ist Biller aktuell auch mit dem TV-Komiker OliverPolak, wie heute in der Literarischen Welt nachzulesen ist. Unter anderem geht es darum, wie man die richtigen Juden trifft (bloß keine "Gemeindejuden") und dass Berlin doch ziemlich uninteressant geworden ist: "In Wahrheit ist Berlin eine irrsinnig spießige deutsche Stadt oder voll mit antisemitischen Arabern."
Weiteres: Die Schriftstellerin KatharinaTiwaldsingt im Standard eine Ode auf Petersburg. Im Freitext-Blog von ZeitOnlinebegibt sich JochenSchmidt auf die Suche nach dem Glück. Tapfer durchmisst Peter Praschl für die Welt den Ozean an Trump-Fanfiction, die auf den Selfpublishing-Portalen wuchert und auch vor dem Äußersten nicht halt macht: "Ganz offenkundig existiert in der rätselhaften Welt der Self-Publisher ein Trump-Fetischismus, der durch dessen Prahlereien über die Größe seines Geschlechts ausgelöst wurde." Für die Literarische Welt hat Mara Delius das gerade von PattiSmitherstandene Haus besucht, in dem ArthurRimbaud lange Zeit gearbeitet hat.
Besprochen werden NicholasSearles Thriller "Das alte Böse" (Welt), ChristophHeins "Trutz" (FR), ChrisKraus' "I Love Dick" (taz), Joachim Lottmanns "Alles Lüge" (Zeit), Mary Millers Kurzgeschichtensammlung "Big World" (taz), Michael Stavarics Roman Gotland" (Standard), die Wiederveröffentlichung von MaximBillersTempo-Kolumnen "Hundert Zeilen Hass" (Literarische Welt), Henry David Thoreaus "Walden" (Literarische Welt) und Peter Walthers Fallada-Biografie (FAZ).
Musik, 08.04.2017
Für ziemlich unsinnig hält SZ-Kritiker Jan Kedves die neuen Regularien des seiner Ansicht nach auch in diesem Jahr gründlich vergeigten Echo-Preises: Wo früher automatisch die Bestseller die Preise einheimsten, werden nun die Gewinner halbe-halbe von Jurys bestimmt und nach den Verkaufszahlen errechnet. Dass die Nominierten zum Teil selber in den Jurys sitzen, kommt zum Hohn dann noch dazu: "Nein, entweder man veranstaltet einen Kommerzpreis. Oder man vergibt - wie in den USA beim Grammy - einen Kritikerpreis. Dazwischen gibt es nichts."
Für den Standardporträtiert Manfred Rebhandl Robert "Räudig" Wolf, der als Postbeamter mit seiner Band Chuzpe einst den Punk nach Wien brachte. Ab 1977 war er "infiziert vom Virus Punk, zog aber nach wie vor täglich seine Runden um den Fleischmarkt, wo er seine Briefe austrug. Er war beliebt bei den Leuten, 'weil ich zuverlässig war'. Die Post war ein guter und toleranter Arbeitgeber, und wer bei der Gewerkschaft war, der war auch als Punk praktisch unkündbar." Dazu eine Runde Pogo am Samstagmorgen:
Außerdem: Im Tagesspiegelschreibt Tobias Richtsteig über das FreemusicFestivalin Berlin, bei dem allerlei ungewöhnliche Instrumente zum Einsatz kommen. Andreas Hartmann schaut sich für die taz in der BerlinerBooking-Szene um. Im Deutschlandfunk-Feature stellt Jean-Paul Kuner den Pianisten JamesRhodes vor. Auf ZeitOnlinefreut sich Reinhard Köchl, dass TheloniousMonks bislang unveröffentlichter und nur in Auszügen bekannter Soundtrack zu Roger Vadims "Gefährliche Liebschaften" von 1960 (hier ein Ausschnitt) Ende des Monats erstmals veröffentlicht wird. Daraus eine Hörprobe:
Besprochen werden BobDylans neues Album "Triplicate" (Standard), eine von ThomasHengelbrocks dirigierte Aufführung der zweiten Fassung von Bachs Johannes-Passion beim Lucerne Festival (NZZ), ein Konzert der Pianistin YujaWang (Standard), das neue Album von BookaShade (FR), das neue Album von Candelilla (taz), ein Konzert von BranfordMarsalis mit KurtElling (FR) und das neue Album von Father John Misty (SZ).
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