Efeu - Die Kulturrundschau

Ein ganzes Meer von Händen

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18.04.2017. Der Guardian berichtet verstört von Damien Hirsts Bombast-Schau in Venedig, die Schönheit und Ungeheuerlichket zelebriert - in Gold, Bronze und Jade. Die NZZ freut sich, dass Europas Architekten wieder mit den guten alten Backsteinen bauen. Die Welt erinnert daran, dass der Klassizismus auch etwas mit schwulem Begehren zu tun hat. In der Welt huldigt die Berliner Autorin Annett Gröschner auch dem FC Union, den akute Aufstiegsgefahr erfasst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.04.2017 finden Sie hier

Kunst


Damien Hirst: "The Severed Head of Medusa", 2017. Aus der Ausstellung Treasure From the Wreck of the Unbelievable".

Völlig überwältigt ist Laura Cumming im Guardian von Damien Hirsts Bombast-Schau "Treasures from the Wreck of the Unbelievable" in Venedigs Punta della Dogana und dem Palazzo Grassi: "I have never seen a bigger show in my life. The artist has filled not one but two museums with hundreds of objects in marble, gold and bronze, crystal, jade and malachite - heroes, gods and leviathans all supposedly lost in a legendary shipwreck 2,000 years ago and now raised from the Indian Ocean at Hirst's personal expense. It is by turns marvellous and beautiful, prodigious, comic and monstrous."

In der Weimarer Ausstellung "Winckelmann. Moderne Antike" sticht Welt-Kritiker Tilman Krause noch einmal in aller Deutlichkeit ins Auge, dass sich der Deutsche Klassizismus an der Körperlichkeit der Antike entzündete, genauer gesagt an männlichen Körpern: "Der Verklärer männlicher Schönheit in der Kunst ließ sich auch privat zu großen Begeisterungsausbrüchen für junge Männer hinreißen. Der Klassizismus erlebte seine Geburt aus dem Geist einer durchaus gelebten Homosexualität... Goethe hat es als erster ausgesprochen: Nie hätte Winckelmann den großen Paradigmenwechsel vom Rokoko zum Klassizismus vollzogen, wenn er nicht auf Männer abgefahren wäre."

Weiteres: Brigitte Werneburg durfte für die taz durch die Museumslandschaft Flanderns reisen, besonders gut gefallen hat ihr eine Ausstellung zum belgischen Maler, Bildhauer und Grafiker Pol Bury im Brüsseler Bozar, auch "weil Bury die Meinung vertrat, Kunst müsse zu erschwinglichen Preisen einem Massenpublikum zugänglich sein". Luise Glum ist in der taz gar nicht dafür zu haben, Banksys Arbeiten in der Wanderausstellung "Magic City" durch Europas Museen zu schicken: "Die Seele der Streetart war seit den Anfängen der Bewegung ihre Absage an die Kommerzialisierung der für die Öffentlichkeit geschaffenen Kunst durch Dritte." Im Tagesspiegel stellt Astrid Hebold das RomArchive vor, das europäische Kunst von Sinti und Roma digital archivieren soll. Richtig aufregend findet SZ-Kritiker Gottfried Knapp die neue Einrichtung des Kölner Kolumba-Museums, dessen neue Präsentation unter dem Titel "Über das Individuum" läuft.
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Musik

Kendrick Lamars Karfreitagsalbum "Damn" bietet auch weiterhin Feuilleton-Gesprächsstoff (mehr dazu hier). Insbesondere die stark religiösen Anklänge sind heute Thema. "Gott ist für Lamar ein Sample, auf dem seine Musik basiert", stellt Fabian Wolff im Tagesspiegel dazu fest. "Und Lamar selbst? Ist er Jesus, der für die Sünden der Menschen stirbt, oder Moses, der sein Volk aus der Verdammnis führt? Oder, dialektisch-messianisch, beides?" Keins von beidem, antwortet Daniel Welsch in der Spex: "Lamar präsentiert sich nicht als erleuchteter Prediger, sondern als suchender Sünder. Als einer, der Versuchungen nicht widerstehen kann und der mit seiner Rolle des (Rap-)Messias hadert." Dennoch handele es sich bei dem Album um das "maximal selbstbewusste Statement eines Künstlers, der gleichzeitig von Selbstzweifeln zerfressen ist." Warum eigentlich? Immerhin ist Lamar mittlerweile an einem Punkt in seiner Karriere angekommen, "an dem ein drei Tage altes Album ein ganzes Meer von Händen in die Höhen gehen lässt", schreibt Paul A. Thompson auf Pitchfork in seinem Resümee des Coachella-Festivals. Sein Kollege Matthew Trammell schwärmt ebenfalls von dem Album.

Weiteres: In der NZZ schreibt Christian Wildhagen über die von Philippe Herreweghe dirigierte Aufführung von Bachs Matthäus-Passion. In Moskau befasste sich ein Symposium samt Konzert mit den Zusammenhängen von Perestroika und der Renaissance des protestantischen Chorals in der russischen Musik vor 30 Jahren, berichtet Kerstin Holm in der FAZ. Im Jazz behauptet sich die Gitarre zusehends gegenüber dem Klavier, ist Zeit-Kritiker Stefan Hentz aufgefallen. Im SZ-Interview mit Debbie Harry von Blondie versucht Juliane Liebert vergeblich, der Persönlichkeit des New-Wave-Stars auf den Grund zu gehen (das für Mai angekündigte, neue Album der Band sei im übrigen "schrecklich"). Für den Tagesspiegel porträtiert Nana Heymann die Rapperin Lumaraa. Gunda Bartels spricht für den Tagesspiegel mit Schauspieler Tom Schilling, der jetzt mit seiner Band The Jazz Kids das Debüt "Vilnius" (eine Hörprobe) veröffentlicht hat. Im Standard spricht Ljubiša Tošić mit Daniel Riegler vom Ensemble Studio Dan. Die Standard-Leser und -Redakteure rekapitulieren das 35-jährige Bestehen der früheren Punkband Die Toten Hosen.

Besprochen werden Thelonious Monks Soundtrack zu Roger Vadims Film "Les Liaisons Dangereuses" aus dem Jahr 1960 (Pitchfork), die Compilation "Miracle Steps (Music From the Fourth World 1983-2017)" (Pitchfork), das neue Comeback-Album von The Jesus And Mary Chain (taz), neue "Nu Folk"-Alben von Rhiannon Giddens und Valerie June (NZZ), ein Konzert von Balbina (Tagesspiegel) und ein Konzert des deutschen Teenie-Stars Mike Singer (Welt).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Eleonore Büning über "A Day in the Life" von den Beatles:


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Film

Julia Dettke verabschiedet sich in der FAS von Lena Dunhams HBO-Serie "Girls". Wer wissen will, wie das Phänomen Trump zustande gekommen ist, kann sich darüber in Sidney Lumets Klassiker "Network" von 1976 erkundigen, sagt Peter Kümmel in der Zeit. Für die Berliner Zeitung plauscht Ulrich Lössl mit der Schauspielerin Shirley MacLaine, die aktuell in der (im Standard wenig begeistert besprochenen) Komödie "Zu guter Letzt" zu sehen ist. In der SZ gratuliert David Steinitz dem Schauspieler James Woods zum 70. Geburstag.

Besprochen werden  Lucien Castaing-Taylors und Ilisa Barbashs Schafe-Film "Sweetgrass" (Tagesspiegel), der Jesusfilm "40 Tage in der Wüste" mit Ewan McGregor (Welt, Tagesspiegel) und Stephen Gaghans "Gold" mit Matthew McConaughey (SZ).
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Bühne

In der nachtkritik macht sich Wolfgang Behren Gedanken über adäquate Zuschauerreaktionen, nachdem der neue Intendant der Royal Opera in London sich Buhs verbeten hat. Besprochen wird eine konzertante Aufführung von Donizettis Oper "Maria Stuarda" in Klagenfurt (Standard).
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Stichwörter: Klagenfurt

Literatur

Annett Gröschner ist zwar "kein Fan, aber Sympathisantin" des 1. FC Union Berlin, erklärt die Schriftstellerin in der Welt. Der im tiefen Osten der Stadt gelegene Fußballverein zehrt bis heute vom Underdog-Image und kann daher ganz besonders leidenschaftlich mit dem Club verbundene Spieler vorweisen, die jegliche Kommerzialisierung mit Argusaugen beobachten. Derzeit, erfahren wir, herrscht angesichts einer Erfolgsserie, die den ewigen Zweitligisten in die erste Liga spülen könnte, geradezu Krisenstimmung: "'Akute Aufstiegsgefahr' heißt das im Jargon des vorzüglichen, ebenfalls von Fans gemachten Programmhefts. Auf der Waldseite des Stadions, bei den Ultras, macht seit der Rückrunde ein Transparent Furore: 'Scheiße, wir steigen auf!' Nach dem unglücklichen Remis in Düsseldorf hat die Mannschaft jetzt ausgerechnet ihren Angstgegner Kaiserslautern geschlagen. 'Nie mehr Zweite Liga!' Kieken wa ma." Sehr gelangweilt berichtet außerdem Welt-Kollegin Ronja von Rönne davon, jetzt ebenfalls Union-Fan zu sein.

Weiteres: Der Bayerische Rundfunk liest in zwei Lieferungen aus Niroz Maleks Buch "Der Spaziergänger von Aleppo" (hier und dort die MP3-Dateien). Für den Standard plaudert Ruth Renée Reif mit der Schauspielerin Isabella Rossellini, die ein Buch über ihre Hühner geschrieben hat.

Besprochen werden Jochen Schmidts "Zuckersand" (taz), Feridun Zaimoglus "Evangelio" (NZZ), Guy Delisles Comic "Geisel" (CulturMag), Hans Blumenbergs "Schriften zur Literatur 1945-1958" (CulturMag), Miroslav Krležas "Die Fahnen" (NZZ), Luo Guanzhongs chinesischer Klassiker "Die Drei Reiche" aus dem 14. Jahrhundert (NZZ) und der chinesische Klassiker "Die Reise in den Westen" aus dem 16. Jahrhundert (NZZ), Tom Kummers "Nina & Tom" (SZ) und neue Hörbücher, darunter eine Hörspielbearbeitung von Joseph Conrads "Der Geheimagent" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt über Angelika Overath über Inge Müllers "Wenn ich schon sterben muss":

"Will ich noch einmal
Mit euch durch den Wald gehn
Und vorbei am See in Lehnitz oder
..."
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Architektur


Caruso St John Architects: Newport Street Gallery in London. Foto: Hélène Binet

Europas Architekten bauen wieder mit Ziegeln, bemerkt Jürgen Tietz in der NZZ, vor allem in London, aus dessen Skyline doch eigentlich gläserne Hochhaustürme herauswachswachsen sollen. Besonders großartig findet Tietz die Newport Street Gallery der Architekten Adam Caruso und Peter St John: "Bekrönt von sägezahnartigen Sheddächern, öffnet sich ihr Haus mit großformatigen Fenstern zur Straße. Sie scheinen mit scharfkantiger Präzision aus der Ziegelwand herausgelöst zu sein. Während dRMM Ziegel aller Farben mischen, beschränken sich Caruso St John auf einen pointierten Dualismus aus roten und schwarzen Steinen und beweisen einmal mehr ihre außerordentliche Fähigkeit, im Zusammenklang mit der Umgebung zu arbeiten."

Weiteres: Wieland Freund besucht für die Welt die Internationale Gartenausstellung inmitten der Berliner Plattenbauten von Marzahn. Und Thomas Risi betrachtet für die NZZ hinreißende Modellautos aus Burundi in einer Ausstellung im Völkerkundemuseum in Zürich.
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