24.04.2017. Die Welt feiert den Lübecker Weg als großen Durchbruch in der Stadtplanung. Der Standard plädiert für eine Architektur des Sorgetragens. Der Nachtkritik offenbart sich mit "Einstein on the Beach" in Dortmund die Magie der Wiederholung. Die SZ lauscht den Hirtenliedern des Ensemble Graindelavoix. In der NZZ trauert Felix Philipp Ingold um den guten alten Literaturkanon, der im saisonalen Geschäft ausgedient zu haben scheint.
Bühne, 24.04.2017
"Einstein on the Beach" am Opernhaus Dortmund.Als nahezu perfekten Theaterabend
bejubelt Martin Krumbholz in der
Nachtkritik Kay Voges' Dortmunder Neuinszenierung von
Robert Wilsons und
Philip Glass' Oper "Einstein on the Beach". Es geht um nichts, doch Wiederholungen können süchtig machen, schwört Krumbholz: "Man täusche sich nicht, das ganz Einfache ist zugleich auch ganz komplex. Deshalb ermüdet man auch nicht. Man ist hellwach und konzentriert. Schon der Anfang verdeutlicht das Programm: Der Chor singt lediglich Zahlen, 'one, two, three, four…', in winzigen Variationen, während zwei Schauspielerinnen in ebenso geringfügigen Variationen Texte sprechen, die aus Floskeln und Redensarten bestehen, aber keinen Sinn preisgeben. Es wird so schnell nicht aufhören, aber man ahnt: Es wird aufhören, bevor man es leid ist. In diesem Kalkül liegt die Magie.
Die Verführung."
Weiteres: Als Wunder preist Eleonore Büning in der
FAZ die von
Werner Seitzer in Hildesheim aufgeführte Busoni-Oper "Doktor Faust". Daniele Muscionico
trifft in Düsseldorf für die
NZZ den Intendanten
Wilfried Schulz, den sie sich auch gut im Zürcher Schauspielhaus vorstellen kann.
Besprochen werden
Becketts Solo-Stück "Glückliche Tage" am Deutschen Theater ("Stabil am Abgrund" sah Simon Strauß in der
FAZ Dagmar Menzel in der Rolle der Winnie,
Nachtkritik),
Jan-Christoph Gockels Stück "Der siebte Kontinent" am Kölner Theater im Bauturm (
SZ),
Gernot Grünewalds "Atlas der Angst am Thalia Theater in Hamburg (den Stefan Schmidt in der
Nachtkritik ein "poetisches wie kluges Kunstwerk" nennt),
Johann Nestroys "Talisman" und
Ferdinand Schmalz' "Thermaler widerstand" Stadttheater in Graz (
Standard), die Tanzperformance "I don't remember this body" in der Wiener Galerie Jünger (
Standard).
Musik, 24.04.2017
Für die
SZ porträtiert Helmut Mauró
Björn Schmelzer, der mit seinem
Ensemble Graindelavoix mittelalterliche Musik auf unorthodoxe Weise abseits trockener Aufführungspraxis zu neuem Leben erweckt: "Schmelzer will die ganze Musik, den rein musikalischen Klang, den Wortklang, den Textinhalt und darüber hinaus das Eigentliche:
die klingende Seele. ... Die Art des Singens hat mehr mit den Klageweibern von Kreta zu tun oder mit sardischen Hirtenliedern als mit der höfischen Kunst des nördlichen Europa. Für Alte-Musik-Akademiker ist das sicherlich ein Schock. Aber für alle, die nicht wissen, wer
Orazio Vecchi ist oder
Duarte Lobo und wann die ungefähr gelebt haben, ist es eine überraschende Erweiterung der Hörgewohnheiten, und für jeden neugierig gebliebenen Musiker eine
Offenbarung." Beim
Klassikaraadio in Estland
gibt es nach einem Wortbeitrag ab Minute 16 eine ausführliche Hörprobe aus dem neuen Album des Ensembles.
Im
NZZ-
Interview mit Michael Stallknecht gibt sich Clemens Trautmann, Präsident der
Deutschen Grammophon, konsequent zuversichtlich, was den
Streamingmarkt betrifft: Dass überhaupt wieder junge Leute Geld für Musik ausgeben, sei ja schon ein Hoffnungsschimmer. Vor allem aber weist er darauf hin, dass sich die niedrigen Tantiemen pro Stream nicht ohne weiteres den CD-Erlösen gegenüber stellen lassen: "Streaming ist ein
längerfristiges Geschäft. CDs erbringen höhere Erlöse beim Erstverkauf, dafür aber auch nur ein einziges Mal. Beim Streaming dagegen fließen sie jedes Mal, wenn ein Track gehört wird. So können unsere Künstler und wir jahrzehntelang an den Katalogtiteln partizipieren." Und davon hat auch der Hörer etwas, da sich dadurch das Geschäftsmodell ändere: "Mehr denn je gilt deshalb eine klassische Formel der Repertoirepolitik: 'iconic or unique'. Sprich: Eine Aufnahme muss entweder einen
auratischen Status haben, oder das aufgenommene Repertoire ist
einzigartig."
Weiteres: Tobias Sedlmaier
porträtiert in der NZZ die Gothic-Rockerin
Chelsea Wolfe. In den USA beging man den ersten Todestag von
Prince mit zahlreichen, ausladenden Partys,
berichtet Jürgen Schmieder in der
SZ.
Besprochen werden das neue Album "Und weida?" des Austro-Pop-Duos
Seiler und Speer (
FR), das neue Album "The Last Rider" von
Ron Sexsmith (
Tagesspiegel), ein von
Dmitrij Kitajenko dirigiertes Konzert des
Konzerthausorchesters (
Tagesspiegel) und ein Konzert der
Wiener Philharmoniker mit
Sakari Oramo und
Janine Jansen (
Standard).
Film, 24.04.2017
Die beiden neuen auf DVD veröffentlichten Filme "Spring Awakening" (von
Constantine Giannaris) und "Nacktbaden" (von
Argyris Papadimitropoulos) zeigen auf je unterschiedliche Weise wie das griechische Kino mit der Krise im Land umgeht,
sagt Natalie Broschat in der
SZ: "Die Inselkids in 'Nacktbaden' feiern die Wirtschaftskrise einfach davon, die Teenager in 'Spring Awakening' steigern sich in einen Gewaltrausch im Stil von 'Clockwork Orange' oder 'Funny Games'." Mehr zu "Nacktbaden" in Wolfang Nierlins
Besprechung für
kino-zeit.de.
Weiteres: Sehr ärgerlich
findet Andreas Busche vom
Tagesspiegel Philippe de Chauverons Abschiebekomödie "Alles unter Kontrolle": Der Regisseur lässt sein Publikum "innerlich versöhnt mit den eigenen Vorurteilen". Philipp Meier
wirft für die
NZZ einen Blick ins Programm des
japanischen Filmfestivals in Zürich. Am vergangenen Wochenende lief eine Auswahl des Filmfestivals Locarno in Hollywood,
berichtet Gabriela Tscharner in der
NZZ. Für den
Tagesspiegel besucht Gunda Bartels die Schnittmeisterin
Monika Schindler, die mit dem Deutschen Filmpreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wird.
Literatur, 24.04.2017
Arno Widmann
hat für die
FR den engagierten Kleinverleger
Andreas Rostek besucht, der sich mit seinem
Verlag edition.
fotoTAPETA insbesondere
Osteuropa zuwendet. In dem Gespräch geht es auch um die kostspielige Mühsal dieser kulturellen Transferleistungen, die mit enormen wirtschaftlichen Risiken verbunden sind: "Wer eine europäische Öffentlichkeit möchte, der ist froh über die Möglichkeit, sie wenigstens auf diesem Wege bei dem einen oder anderen Autor herstellen zu können. Leichter wäre es, wenn die Kulturbeauftragte des Bundes, Monika Grütters, ein
Förderprogramm für kleine, unabhängige Verlage auflegen würde - vielleicht ähnlich dem für unabhängige Buchhandlungen. Immerhin helfen die verschiedenen Buchinstitute anderer Länder wie das polnische in Krakau bei unserer Arbeit."
Der
Kanon hat ausgedient,
stellt Felix Philipp Ingold voller Bedauern in der
NZZ fest: Kein Autor mag sich mehr Mühe machen, um in den Pantheon einzugehen. "Der literarische Olymp hat seine Attraktivität verloren, seitdem
saisonaler Erfolg weithin höher veranschlagt wird als noch so beständiger Nachruhm. ... Das literarische Wollen fokussiert sich generell darauf, möglichst hohe Ratings, möglichst viele Klicks und Likes, möglichst große - punktuelle - Aufmerksamkeit zu erreichen. Demgegenüber bietet der Kanon auch im Weltmaßstab keine Anreize mehr. Sich auf ihn zu berufen oder ihm entsprechen zu wollen, gilt als
inopportun, wenn nicht als lächerlich. Autoren und ihre Bücher sollen nicht 'ewig', sie müssen saisonal 'funktionieren'."
Weiteres: Der
WDR bringt Ulrike Janssens Feature "Gesang der Fassungslosigkeit" über den
Autor und Regisseur
Thomas Harlan. Für die
Welt besucht Tilman Krause das
Fontane-
Archiv in Potsdam, das die zahlreichen Briefe des Autors digitalisieren will. Beim
Deutschlandradio Kultur unterhalten sich Gregor Dotzauer, Insa Wilke und Jan Bürger im Marbacher Literaturarchiv über neue Lyrik-Veröffentlichungen von
Christine Lavant,
Steffen Popp und
Peter Rühmkorf. Marc Reichwein von der
Welt geht der (gestrige) "
Welttag des Lesens" gründlich auf den Zeiger. In
China sorgen Pläne der Regierung, den Lizenzeinkauf von
Bilderbüchern aus dem Ausland zu reglementieren, für enormen Unmut im Netz und unter Verlegern, berichtet Mark Siemons in der
FAZ.
Besprochen werden neue Biografien über
Mao Zedong (
Welt),
Emmanuel Carrères "Ein russischer Roman" (
Tagesspiegel), neue Romane von
Margaret Atwood (
FR),
Sarah Bakewells "Das Café der Existenzialisten" (
Tagesspiegel),
Anne Kuhlmeyers Krimi "Drift" (
Freitag),
Hartmut Günthers "Mit Feuereifer und Herzenslust - Wie Luther unsere Sprache prägte" (
Welt),
Oliver Diggelmanns "Maiwald" (
Freitag),
Szilárd Borbélys Nachlass-Fragment "Kafkas Sohn" (
FR) und
Toni Morrisons "Gott, hilf dem Kind" (
SZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie
schreibt Dirk von Petersdorff über
Goethes "Talismane":
"Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.
..."
Architektur, 24.04.2017
Große Euphorie herrscht in
Lübeck, das in seinem alten Gründungsviertel eine neue
Giebelstadt baut und dabei nicht auf einen Großinvestor setzt, sondern auf
Privatleute und Genossenschaften. In der
Welt sieht Dankwart Guratzsch darin schon den Durchbruch im Städtebau: "Ähnliches wurde mit vergleichbarer Konsequenz seit hundert Jahren
in keiner zweiten Stadt mehr versucht und das Ergebnis der Wettbewerbe ist ermutigend: Es siegten nicht die Alten, sondern
die Jungen unter den Architekten. Sie gehen mit den Vorgaben weitaus unbefangener um als die Generationen der betonwütigen Grauköpfe. Auf 38 Grundstücken entsteht eine neue Giebelstadt von hohem architektonischem Rang - ohne Kitsch und Heimeligkeit, die modernen Gemütern suspekt ist,
frech und unverfroren in der Adaption alter Gestaltungsmittel, wenn auch für die Juroren manchmal noch immer nicht originell und mutig genug."
Die
Kulturtheoretikerin Elke Krasny datiert im
Standard den
Tod der modernen Architektur auf das Jahr 1972, als am amerikanischen St. Louis
Minoru Yamasakis Wohnanlage Pruitt-Igoe gesprengt wurde. Seitdem hat die Architektur ihre Aufgabe aus dem Blick verloren, das
Sorgetragen: "Paradoxerweise, so lässt sich im historischen Rückblick erkennen, setzte das eine funktionsbefreite Architektur in Gang, die sich an den Formen berauschen konnte. Aus dem Helden-Architekten wurde der Star-Architekt. Das hat dem Sorgetragen, das die Architektur leisten soll, nicht gut getan. Ganz im Gegenteil. Architektur ist ungleicher verteilt denn je. Und was Star-Architektur anbelangt: Sie ist pflegebedürftiger als die Architektur der Moderne.
Instandhalten,
Reparieren,
Pflegen. Ohne Ende."
Kunst, 24.04.2017
Johan Joseph Zoffany, Queen Charlotte, 1771, © Her Majesty Queen Elizabeth II 2017Im 20. Jahrhundert war das
britische Königshaus nicht sehr kunstfreundlich, um es milde auszudrücken. Im 18. Jahrhundert war das ganz anders - nicht zuletzt dank
dreier deutscher Prinzessinnen, denen das
Yale Center for British Art gerade die Ausstellung "Enlightened Princesses:
Caroline,
Augusta,
Charlotte and the Shaping of the Modern World" gewidmet hat,
erklärt Martin Filler in der
NYRB: "These three German Georgian graces - whose contributions to British life spanned more than a century - brought far more to their adopted country than just political stability. They were all
exceptionally well educated, intellectually curious, and aesthetically attuned, even by the standards of the day usually reserved for men. This was true especially when it came to the
Enlightenment ideas and principles being advanced at the time. The princesses' careful schooling in a multiplicity of subjects central to the Aufklärung (Enlightenment) included a strong emphasis on science, particularly
botany and astronomy, along with the classical curriculum of Greek and Latin. Their attainments far outstripped almost all of the British nobility and much of the aristocracy."
Und: Christopher Benfey
erinnert sich in der
NYRB an den Maler
Albert Pinkham Ryder. David Lewis
besucht für das
Artforum die
Picabia-Ausstellung im
Museum of Modern Art in New York.