Efeu - Die Kulturrundschau

Wille zum Stil

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20.05.2017. Die Filmkritiker staunen in Cannes über ein aufgemotztes Riesenschwein. Im Tagesspiegel erklärt Valie Export, warum sie jungen feministischen Künstlerinnen nie Ratschläge geben würde. Die Postkolonialisten sind doch die neuen Orientalisten, meint die Presse nach einem Bad im Hamam bei den Wiener Festwochen. Die Welt begutachtet das neue visuelle Branding der Volksbühne. Die taz freut sich über die eleganten Reduktionen der Musikerin Sophia Kennedy.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.05.2017 finden Sie hier

Film


Sau, stark: Online-Videothek schmuggelt Riesenschwein in Filmfestival

Ein Schweinchen namens "Okja" mischt Cannes auf - wobei, "Schweinchen": Die Titelfigur aus Bong Joon Hos Wettbewerbsbeitrag mit Tilda Swinton ist ein gentechnisch aufgemotztes Riesenschwein. Im Vorfeld hatte es Kontroversen gegeben, da die produzierende Online-Videothek Netflix den Film nach dem Festival nicht etwa ins Kino bringen, sondern schnurstracks ins eigene Digital-Repertoire überführen wollte. Und dann war die Pressevorführung in Cannes auch noch von technischen Pannen begleitet, sodass sie nach heftigen Zwischenrufen abgebrochen und von neuem begonnen werden musste. Der Film selbst stößt auf sehr geteilte Reaktionen: Netflix habe hier zwar beträchtlich Masse, aber keine Klasse geliefert, stöhnt Andreas Busche im Tagesspiegel: Der Film sei "geradezu infantil". Das ist ja gerade das Gute, quiekt Dominik Kamalzadeh im Standard vergnügt, denn die schwartenreiche Supersau "wälzt sich gern putzig auf seinem Rücken, und wenn Gefahr droht, setzt sie ihren Stuhlgang effektvoll als Waffe ein."

Für Susanne Ostwald von der NZZ ist der Film ein erster Höhepunkt des Festivalwettbewerbs. "Klug" ist das imposante Gigantenferkel im übrigen auch noch, freut sich Verena Lueken im FAZ-Blog, die obendrein als Bonus noch die Netflix-Festivalparty rezensiert ("Die Location war noch nicht aus der ersten Liga, ein kleiner Hof in einer Seitenstraße der Croisette"). Beatrice Behn von kino-zeit.de sieht in dem Film im übrigen ein Plädoyer für bewussten Konsum gegen eine seelenlose Industrie - was gerade im Hinblick auf die Produktionsbedingungen des Films doch Fragen aufwerfe: "Warum lässt die klassische Filmindustrie visionäre Autorenfilmer immer mehr Stich? Und wie wollen wir Filme eigentlich konsumieren?"

Besprochen werden Mike Mills' "Jahrhundertfrauen" (Standard, unsere Kritik hier), Bertrand Bonellos "Nocturama" (Tagesspiegel, FAZ, unsere Kritik hier) und Andres Veiels Doku "Beuys" (Welt, unsere Kritik hier).
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Kunst


Still aus Valie Exports Film "Unsichtbare Gegner", der gerade auf dem XPOSED Queer-Filmfestival in Berlin lief

Viele feministische Künstlerinnen aus den sechziger und siebziger Jahren sind heute noch relevant, aber Ratschläge möchte die 1940 geborene Valie Export (homepage) den Jungen nicht geben, erklärt sie im Interview mit dem Tagesspiegel: "Jede Generation muss ihre Kunstformen und Ausdrucksweisen selbst finden, selbst erarbeiten! Kunst ist Arbeit mit Kultur, impliziert Wissenschaft, Technologie, Schutz und Veränderung unseres Planeten, und darüber hinaus. Kunst ist soziopolitisch und eine offenes dynamisches System. Es ist immanent, sich mit verschiedenen Kulturen zu beschäftigen. Welche Historie haben sie und was sind die unterschiedlichen Bilder der Frauen? Nehmen wir die weibliche Genitalverstümmelung. Man kann sich natürlich die Frage stellen: Wo kann man da künstlerisch noch einmal neu ansetzen?"

Will McBride, Romy Schneider in Paris, 1964, AlbertinaWill McBride, Romy Schneider in Paris, 1964, Albertina
Besprochen werden die Hokusai-Ausstellung "Beyond the Great Wave" im British Museum in London (Guardian), die Ausstellung "Luther und die Avantgarde" mit Werken von Monika Bonvicini, Ayse Erkman, Günter Uecker, Markus Lüpertz über Ai Weiwei, Olafur Eliasson, Christian Boltanski, Erwin Wurm bis Julian Rosenfeldt, Jonathan Meese und Stephan Balkenhol im sanierten Wittenberger Knast (Tagesspiegel), die Schau "Food Revolution 5.0" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (taz) und die Foto-Ausstellung "Acting for the Camera" in der Wiener Albertina (Standard).
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Design


Alberta Tiburzi in Cristóbal Balenciagas 'Briefumschlag'-Kleid. Foto von Hiro Wakabayashi für Harper's Bazaar, Juni 1967. © Hiro 1967

Der Guardian stellt - leider viel zu kurz - die Balenciaga-Ausstellung "Shaping Fashion" vor, die am 27. Mai im Londoner Victoria & Albert Museum eröffnet. Gleich am Eingang erwartet den Besucher ein "schreckliches" erbsengrünes Seidenkleid aus dem Jahr 1962, lesen wir: "Hot-air balloon puffs of volume render the figure beneath irrelevant, and the dress stands with its back turned haughtily on the viewer. 'We chose that dress to set the scene, precisely because it's so odd,' the curator Cassie Davies-Strodder explained during a preview of the exhibition in the final stages of installation. 'Balenciaga is about the kind of beauty which has a weirdness about it.'"
Archiv: Design

Architektur

In der NZZ würdigt die Architektin Astrid Staufer ausführlich das Werk des 2016 verstorbenen Mailänder Architekten Luigi Caccia Dominioni, das vor allem in Zürich viele Bewunderer hat: "Was aus heutiger Sicht als Leichtigkeit erscheinen mag, mit der Luigi Caccia Dominioni in der Nachkriegsmoderne unvoreingenommen Spielräume auslotete, stieß bei den intellektuellen Kollegen auf Skepsis und auf Kritik. ... Mit seinen waghalsigen Verstößen gegen den 'modernen Anstand', mit bronzenen Hunden und schmiedeisernen Geländern, stieß Caccia bei den zeitgenössischen Kommentatoren ebenso auf Unverständnis wie mit seiner heterogenen Werkpalette und der konsequenten Verweigerung, sich auf einen 'Stil' festzulegen."

Außerdem in der NZZ: Die Architekturwissenschafterin Gabriele Reiterer feiert die Architektur der Wiener Moderne.
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Bühne


Hamamness. Bild: Anja Beutler

Die Postkolonialisten sind doch die neuen Orientalisten, meint in der Presse Anne-Catherine Simon anlässlich des Themenschwerpunkts #centuryofthemigrant bei den Wiener Festwochen. Das lernt sie in dem Hamam, den sich das Performeum (mehr hier) als einen Veranstaltungsort auserkoren hat. Alles ganz entspannt und kuschelig. Kein Wunder, die religiöse Dimension des Hamam ist dort ebenso ausgeblendet wie die Geschlechtertrennung: "Mit kultureller Begegnung hat es nichts zu tun. Der westliche Orientalismus hat fremde Kulturen als Fantasie des 'ganz Anderen' verzerrt. Die Festwochen geben sich kritisch 'post' - nur um ihn durch die Hintertür wieder hereinzubringen. Aber eines unterscheidet diesen neuen Orientalismus tatsächlich vom alten: Man sucht nicht einmal mehr das (fantasierte) ganz Andere, nur noch das ganz Eigene; am besten bunt kostümiert."

Auch Helmut Ploebst stellt im Standard bei ersten Aufführungen des Performeums eine gewisse Harmlosigkeit fest: "Widerstand ist auch Anliegen einer 'Anti-Fascist Ballet School' der Wienerinnen Magdalena Chowaniec und Elizabeth Ward, die bereits im Vorjahr das Programm der Wienwoche zierte. Dieser Workshop sollte in der Lugner-City beginnen, wurde aber von dort verdrängt, musste in den nahegelegenen Park ausweichen, und es brauchte am Donnerstag einige Hartnäckigkeit, ihn dort zu finden. Der offene Kurs ist eine friedliche und freundliche Erfahrung für alle, die sanfte Ballettgefühle entwickeln wollen, mit ein wenig zurechtmassierter Theorie und ein bisserl Esoterik. Wahrscheinlich ist das gut gegen innere Blockaden."

Nein, die Pressekonferenz von Chris Dercon hat Carl Hegemann auch nicht davon überzeugt, dass da was Interessantes nach Berlin kommt, lernt man im Interview der Berliner Morgenpost mit dem Volksbühnen-Dramaturgen: "Wenn man sich nun die Pläne anguckt, die jetzt vorgestellt wurden, sind die damaligen Befürchtungen eigentlich noch übertroffen. So könnte auch ein zeitgenössisches Kunsthaus in irgendwo aussehen. Dass da auch ab und zu mal Schauspieler auftreten, fällt nicht weiter auf.

Weitere Artikel: Im Guardian erklärt die irische Autorin Eimear McBride, warum sie Kunst ohne Sex nicht interessiert. Michael Thalheimer erklärt im Interview mit dem Standard, warum er gerade Aischylos' "Perser" am Wiener Akademietheater inszeniert hat.

Besprochen werden Antonio Salieris Opera buffa "La scuola de' gelosi" an der Wiener Kammeroper (Standard), Kirsten Fuchs' Stück über die Opfer vom Pausenhof "Alle außer das Einhorn" im Grips Theater in Berlin (Berliner Zeitung), Meinhard Zangers Inszenierung von Arna Aleys Stück "Das neue Jerusalem" am Wolfgang-Borchert-Theater Münster (nachtkritik), die Uraufführung von Johan Ingers neuem "Peer Gynt"-Ballett in Basel (NZZ), die Eröffnung der Potsdamer Tanztage mit Marie Chouinards Choreografie "Der Garten der Lüste" (taz) und Herbert Fritschs "Pfusch" beim Theatertreffen (nachtkritik).
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Literatur

Der Comicmarkt wächst. Für Autoren und Zeichner ist die wirtschaftliche Lage dennoch nicht rosig, erklärt Lars von Törne im Tagesspiegel, nachdem er sich in der Branche umgehört hat. Comics zu zeichnen, sei "nur selten ein lohnendes Geschäft. Die Arbeit ist aufwändig und zeitintensiv, die Verkaufszahlen liegen gerade bei anspruchsvolleren, langen Autorencomics oft nur im drei- oder vierstelligen Bereich - da bleibt oft nicht viel Geld für Autoren und Künstler übrig."

Für das neue visuelle Branding von Dercons Volksbühne zeichnet unter anderem Manuel Bürger verantwortlich, der wiederum auch die ästhetische Sparsamkeit des literarischen Onlineprojekts Tegel Media konzipiert hat, erklärt Marc Reichwein in der Welt. Und hinter Tegel Media wiederum stecken die Schriftsteller Leif Randt und Jakob Nolte, die Szenekontakt zum literarischen Nachwuchs Berlins halten. Für Reichwein steht das alles in der Tradition der deutschen Popliteratur um 2000: "Doch während die Popliteraten 'Irony is over' postulierten, heißt es beim 'Tegel Media'-und Dercon-Designer Manuel Bürger: Fun is back. Fun verstanden als formale Toleranz: Natürlich haben alle ihren Kracht gelesen, doch niemand will und muss sich mehr über die Farbgebung von Intercity-Bordtreffs aufregen, im Gegenteil. Man scheint das schrille Rot-grün-gelb-lila-rosa-Gemisch im aktuellen Wetter-Magazin ebenso entspannt zu integrieren wie den Gender-Stern, der aus der 'Mitarbeiter*innen'-Übersicht grüßt."

Weiteres: Im Freitext-Blog von ZeitOnline schreibt Senthuran Varatharajah über den Empfang zur Eröffnung des literarischen Blogs weiterschreiben.jetzt, auf dem deutsche und syrische Autoren kollaborativ Texte veröffentlichen. Alex Rühle amüsiert sich in der SZ über absurde Vergleiche in den Prospekten literarischer Verlage. Die Literarische Welt bringt Taiye Selasis Erzählung "Airport". Musil-Biograf Karl Corino beleuchtet im literarischen Wochenend-Essay der FAZ Dokumente zur Entstehungsgeschichte des "Manns ohne Eigenschaften".

Besprochen werden Takis Würgers "Der Club" (ZeitOnline), Richard Pietraß' "Amerikanische Grillen" (Tagesspiegel), Tomas Espedals "Biografie, Tagebuch, Briefe" (taz), Lena Goreliks "Mehr Schwarz als Lila" (taz), Rachel Kushners "Telex aus Kuba" (FAZ) und die Wiederveröffentlichung von Sinclair Lewis' "Das ist bei uns nicht möglich" (SZ).
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Musik

Julian Weber unterhält sich mit der Musikerin Sophia Kennedy über deren Debütalbum, das den taz-Kritiker ziemlich umgeworfen hat: "Psychedelischer Barock, was die Arrangements anbelangt, und zugleich elektronisch unterfüttert mit subsonischen Bässen und anderen raffinierten Klangdetails. Größeren Willen zum Stil und elegantere Reduktion gab es hierzulande in diesem Jahr noch nicht. ... Getragen wird ihr Sound von ihrer spröden, aber reizvollen Stimme und einer sparsamen musikalischen Möblierung. Bisweilen reichen ein, zwei Akkorde auf dem Klavier und klickende Percussion, um die Songs über die Ziellinie zu bringen. Sei es durch etwas Hall auf der Stimme, Kennedy vermag stets surreale Atmosphäre zu erzeugen. Man fühlt sich an die frühe Nico erinnert." Da hören wir doch gerne rein:



Besprochen werden Jlins "Black Origami" (The Quietus), ein Konzert der Einstürzenden Neubauten (The Quietus), ein Konzert des Schwedischen Radiosymphonieorchestern (Standard), das neue Album "Weather" von Pond (Tagesspiegel), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Andrés Orozco-Estrada  (Tagesspiegel).
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