Efeu - Die Kulturrundschau

Jenseits des üblichen Witzes

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26.05.2017. In der NZZ wirft Ilija Trojanow dem Kanon der Weltliteratur Ignoranz und Provinzialität vor. Die Filmkritiker diskutieren Sofia Coppolas Don-Siegel-Remake "The Beguiled" als heißen Palmenkandidaten. Die FAZ findet in Wittenberg einen sehr aktuellen Luther. Im Deutschlandfunk verrät Chris Dercon seine Volksbühnen-Pläne. Und die Feuilletons lassen sich von Romeo Castellucci Demokratie in Amerika erklären.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.05.2017 finden Sie hier

Film



Gerade einmal drei von Frauen inzenierte Filme laufen in diesem Jahr in Cannes - was tatsächlich sogar schon mehr ist als viele andere Jahrgänge des Festivals für sich behaupten können. Mit Sofia Coppolas "The Beguiled", einem Remake von Don Siegels gleichnamigem Film aus den 70ern, ist nun auch ein Film gelaufen, der tatsächlich als Palmenkandidat diskutiert wird. Die bei Siegel noch aus der Männerperspektive erzählte Geschichte um einen Bürgerkriegssoldaten, der in einem Mädchenpensionat Zuflucht findet, dreht die Regisseurin um und lässt die Perspektive der Frauen - darunter Nicole Kidman, Kirsten Dunst und Elle Fanning - zu ihrem Recht kommen. Coppola mache aus einer Männer- eine Frauenfantasie, sagt Rüdiger Suchsland auf Artechock und erkennt in der Regisseurin eine große Humanistin des Kinos: Sie stehe "in der Tradition dessen, was Jean Renoir einge­for­dert hat: Allen Figuren gute Gründe zu geben, sie zu lieben und in den Augen des Zuschauers zu vertei­digen, indem sie sich auf sie einlässt: Das Verstehen ist die Aufgabe des Künstlers. Nicht das Verur­teilen."

Etwas mehr Zuspitzung hätte sich Michael Kienzl von critic.de allerdings schon gewünscht. Für ihn fühlt sich alles "ein bisschen nach harmlosem Kaffeekränzchen an. Was die Regisseurin an dem Stoff wirklich interessiert hat (...) bleibt im Verborgenen. Als das größte Problem erweist sich dabei, dass sie immer wieder gegen die Dramaturgie der Geschichte arbeitet. Sie vermeidet konsequent das große Drama."

Der Film stehe im Wettbewerb nicht schlecht da, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz. Auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte rät der Festivaljury zu diesem Film. Verena Lueken von der FAZ hält den Film hingegen einfach nur für "brav". Andreas Busche befasst sich im Tagesspiegel mit der Frage, warum so wenig Filme von Frauen in Cannes laufen - und lenkt die Aufmerksamkeit auf Léonor Serrailles in der Nebenreihe "Un Certain Regard" gezeigtes Spielfilmdebüt "Jeune femme" mit Laetitia Dosch.



Das allgemeine Jammern über die Qualität der Wettbewerbsfilme finde auf hohem Niveau statt, tadelt Dominik Kamalzadah seine Kollegen und hebt Benny und Josh Safdies New-Hollywood-artigen Thriller "Good Time" als zu entdeckende Filmperle hervor. Auf critic.de bespricht Lukas Stern den Film ausführlicher: Dies ist "ein Stressfilm, eine Adrenalinpumpe. Und er ist ein New-York-Film, aber einer, der sich aus einem physischen, nicht aus einem architektonischen Prinzip ergibt, einer, der das bauliche Prinzip dezidiert für einsturzgefährdet erklärt." Auch Andreas Busche ist im Tagesspiegel sehr positiv angetan: Der Film besitze "eine manische Wucht, die im Arthousekino viel zu selten geworden ist. In Cannes wirkt er wie ein Gegenmittel gegen die vielen bemühten, oftmals überambitionierten Filme in der Konkurrenz. So gewinnt man vielleicht keine Goldene Palme. Aber man erweckt den Wettbewerb aus seinem Dämmerzustand."

Besprochen werden Terrence Malicks "Song to Song" (Welt, NZZ, Tagesspiegel, Artechock, unsere Kritik hier), Jonathan Teplitzkys Biopic "Churchill" (Welt, FR), Cate Shortlands Thriller "Berlin Syndrome" (taz), Sara Johnsens "Rosemari" (ZeitOnline), Jens Wischnewskis "Die Reste meines Lebens" (FR) und die für Netflix entstandene Kriegssatire "War Machine" mit Brad Pitt (ZeitOnline).
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Kunst


(Foto: Daniel Biskup, © Adrian Ghenie, "Luther und die Avantgarde")

Voll von Assoziationen kehrt FAZ-Kritiker Michael Diers aus Berlin, Wittenberg und Kassel von der Ausstellung "Luther und die Avantgarde" zurück. Auch die Liste der zahlreichen Künstlerinnen und Künstler beeindruckt ihn. Sie "reicht von Eija-Liisa Ahtila, die das Thema 'Verkündigung' als Videoinstallation zeigt, über Ai Weiwei, der ein in zwei Teile gespaltenes, in Beton abgeformtes Negativ seines Körperabdrucks als Memento seiner Gefangenschaft gefertigt hat, bis hin zu Erwin Wurm, der einen zinnoberrot leuchtenden überdimensionalen Boxhandschuh mit Fehlstellen zeigt, dessen Bedeutung jenseits des üblichen Witzes sich selbst dem Katalogautor nicht recht erschließt."

Weiteres: Für das art-magazin hat sich Clemens Bombsdorf die von Karl Ove Knausgård kuratierte Munch-Ausstellung in Oslo angesehen.

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Bühne


(Bild: Guido Mencari. Romeo Castellucci: "Democracy in America". Wiener Volkstheater.)

Für die SZ hat sich Christine Dössel bei den Wiener Festwochen umgesehen. Besonders angetan hat es ihr Romeo Castelluccis Stück "Democracy in America", das nicht von Donald Trump, sondern dem Klassiker Alexis de Tocquevilles inspiriert ist: "Romeo Castellucci macht daraus nicht etwa ein politologisches Seminar, sondern eine bezwingende szenische Collage von biblischer Anmutung, zusammengesetzt aus archaischen Bildern von dunkler, verschwommener, irisierender Schönheit. Und auch Rätselhaftigkeit. Es sind Urbilder, auf das menschliche Unterbewusstsein mehr denn auf den Verstand zielend. Sie zeigen den Menschen in seiner existenziellen Geworfenheit, in seinem Glauben, aber auch in seinem Zweifel an Gott, in seinen Versuchen, sich das 'Gelobte Land' untertan zu machen."  

Ganz anders urteilt Norbert Mayer in der Presse: "Die eingeblendeten Daten aus der US-Geschichte von der Revolution im 18. bis zum Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert und manchmal darüber hinaus waren streng abstrakt wie ein puritanischer Volkshochschulkurs. Das ist wohl die Höchststrafe: Man geht in eine Aufführung des italienischen Skandalons und schläft fast ein bei dieser sensiblen Kontemplation." Und im Standard meint Ronald Pohl: "Amerika, du hast es nicht unbedingt besser. Europa aber, du hast einen szenischen Denker wie Romeo Castellucci. Der ist schon eine Menge wert."

Im Deutschlandfunk-Interview mit Alexander Kohlmann erzählt Chris Dercon, weshalb er die Volksbühne als "Mehrspartenhaus" versteht, warum es noch kein Ensemble gibt und wie eine Zusammenarbeit mit René Pollesch aussehen könnte: "Ich würde mir gerne die ganze Serie nehmen von Pollesch, um die gleiche Zeit zu bearbeiten in Form einer Art Netflix-Serie. Damit es nicht nur auf der Bühne zu sehen ist, sondern auch in einer Art Fernsehproduktion. Weil Pollesch macht schon Filme, die direkt oder indirekt auf seinen Stücken basieren. Also, ich denke nicht im Sinne von 'Loose Pieces', Einzelstücken. Ich denke dann eher in die Richtung: Alles von Pollesch - und nicht nur auf der Bühne sondern auch im Web. Ich glaube, dass ich das sogar auch mit ihm einmal kurz besprochen habe in der Kantine, aber wir haben keine gemeinsame Basis gefunden."

Besprochen werden Aribert Reimanns "Medea" an der Komischen Oper  (SZ) und Ayad Akhtars "Geächtet" in der Inszenierung von Stefan Bachmann am Schauspielhaus Köln (nachtkritik).
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Literatur

Der europäisch geprägte Kanon der Weltliteratur hegt sich in seinem eigenen Garten ein und verliert darüber den Blick auf und in die Welt, schreibt der Schriftsteller Ilija Trojanow in der NZZ und beklagt einen erklecklichen Mangel an Neugier und Welthunger: "Was wir bisher an Weltliteratur wahrgenommen haben, ist nicht frönen, sondern fasten", wirft er dem Betrieb vor. "Wer meint, es gehe hier um politische Korrektheit bei der Repräsentation, übersieht, wie gefährlich Ignoranz in einer globalisierten Welt ist. Wie oft liest man hierzulande, Indien sei ein Land der Magie, der Eremiten und der heiligen Kühe? Dabei existieren auf Sanskrit mehr agnostische und atheistische Texte als in jeder anderen klassischen Sprache. ... Wer trunken ist von der Bedeutung des Eigenen, der schlittert leicht in die Provinzialität."

Max Frisch
hat einen Kurzauftritt als Statist in Bernhard Wickis Verfilmung von Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" - und keiner hat es gemerkt. Das meldet jedenfalls Roman Bucheli in der NZZ. Wie es dazu kam? Bucheli mutmaßt: "Befreundet mit beiden Autoren, musste Wicki mit dem damals in der italienischen Hauptstadt lebenden Frisch einen Streich ausgeheckt haben. Niemand weiss, wer den Anstoß gab, weder Wicki noch Frisch haben je darüber gesprochen. ... Nicht länger als acht Sekunden dauert die Szene, aber sie zeigt alles, was wir an Frischs Erscheinung kennen: die Pfeife, die Hände in den Hosentaschen, die große, schwere Brille, die Körperhaltung."

Weiteres: Susanne Lenz trifft sich für die FR mit der Autorin Anke Stelling. Für die Welt taucht Ronja von Rönne in die Welt der Lifestyle-Youtuber ein.

Besprochen werden der von Anke Fesel und Chris Keller herausgegebene Band "Berlin Heartbeats" (Welt), Sylvain Prudhommes "Ein Lied für Dulce" (NZZ), Paula Hawkins' "Into the Water" (Welt), Bandis "Denunziation - Erzählungen aus Nordkorea" (Tagesspiegel), Constanze Neumanns "Der Himmel über Palermo" (online nachgereicht von der FAZ), die Wiederveröffentlichung von Andrej Bitows "Georgisches Album" (SZ) und Karl Ove Knausgårds "Kämpfen" (ZeitOnline).
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Musik

Diviam Hoffmann porträtiert in der taz die Berliner Punk- und Techno-Musikerin Gudrun Gut, deren Label Monika Enterprises gerade sein 20-jähriges Bestehen feiert. In der NZZ würdigt Ueli Bernays das vor 50 Jahren erschienene Beatles-Album "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band". Für die NZZ schreibt Hans Keller über den brasilianischen Musiker Seu Jorge. In der SZ macht Jonathan Taplin das Internet dafür verantwortlich, dass The Band nicht mehr von ihren Tantiemen leben kann.

Besprochen werden Kelly Lee Owens' Debütalbum (taz), ein Konzert von Fawaz Baker und Ensemble (FR), der Frankfurter Auftritt von Kiss (FR), ein Konzert von Anne-Sophie Mutter, Max Bruch und Toru Takemitsu (FR), das neue Album "The Dreamer Is The Dream" des Jazzsaxofonisten Chris Potter (SZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Heimat" von T.Raumschmiere (ZeitOnline). Daraus ein Video:

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