Efeu - Die Kulturrundschau

Beim Verglühen

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08.06.2017. Im unspektakulären Kassel kann Kunst doch noch richtig wirken, stellt der Tagesspiegel zum Documenta-Auftakt zufrieden fest. In der FAZ schreibt Olga Martynova über inoffizielle Lyrik in der Sowjetunion. Zeit online stellt einen Band über die unabhängige Theaterszene in China vor. Die SZ hört Igor Levit mit Rachmaninows "Rhapsodie über ein Thema von Paganini".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.06.2017 finden Sie hier

Kunst


Girl Talk, 2015, Single channel video with sound, 4 min at Clifton Benevento 9.3.-31.10.2015 Courtesy the artist and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin

Eine exzellente Übung in "zwischenmenschlichem Pulstraining" ist die Soloschau der amerikanischen Performerin, Bildhauerin, Filmemacherin und Transgender-Aktivistin Wu Tsang in der Kunsthalle Münster, schreibt Alexandra Wach im Art Magazin: "Einer der engsten Mitarbeiter von Wu Tsang ist Fred Morten. Der Dichter und Professor für Englisch an der University of California in Riverside ist spezialisiert auf die Entwicklung von emanzipatorischen Genderkonzepten. Seine Gedanken über das Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen sind in die meisten der in Münster gezeigten multimedialen Werke eingeflossen. In dem Video 'Girl Talk' tritt er persönlich auf. Morten trägt ein vage feminines Priesterinnenkleid, ist extravagant geschmückt und schlüpft lippensynchron zu dem Jazzsong 'Girl Talk' in die Rolle eines beseelt tanzenden Sängers, der seine Drag-Identität thematisiert."


Marta Minujíns "The Parthenon of Books" wird in Kassel aufgebaut. Foto: Maxie Fischer, Documenta 14

Ach Kassel, hier wirkt Kunst noch, denkt Nicola Kuhn im Tagesspiegel angesichts der bevorstehenden Eröffnung des zweiten Teils der Documenta: "In Kassel erweist sich die Documenta auf den ersten Blick als interessanter, substanzieller, durchdachter. Hier wirkt die Kunst nicht wie abgeworfen, sondern wie eine kuratierte Schau an den Ausstellungsorten Neue Galerie, Documenta-Halle und Hauptpost. Die Erzählstränge werden transparenter, die Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Kolonialismus, Kultur, Wirtschaft und Staat deutlicher. Wo das pulsierende, heiße, laute Athen die Kunstanstrengungen im öffentlichen Raum verschluckte, erweist sich Kassel in seiner Durchschnittlichkeit und mittleren Größe als ideale Bühne."

Weiteres: In der taz kann Ingo Arend Adam Szymczyks Documenta-Konzept nur wenig abgewinnen, denn "es kann der Kunst auf Dauer nur schaden, wenn sie partout den Raum besetzen will, den linke Politik füllen müsste". Das Art Magazin zeigt erste Highlights in Kassel. Und die spanische Künstlerin Ana Hell erzählt von ihrer Fotoserie "Secret Friends", für die sie nach vorne gebeugte Rücken mit Gesichtern bemalt. Annekathrin Kohout denkt in ihrem Kunstblog über den Kult um Essen und Sport nach.

Besprochen werden die Ausstellung Art/Afrique in der Fondation Louis Vuitton (Presse), die Ausstellung "Alchemie. Die Große Kunst" im Berliner Kulturforum (NZZ), die Ausstellung "Into the Unknown" im Londoner Barbican Centre (FAZ), eine Ausstellung des Frankfurter Künstlers Michael Riedel in der Kunsthalle Zürich (FAZ), der Hannoversche Ausstellungszyklus "Made in Germany" (SZ), die Ausstellung "Eindeutig bis zweifelhaft", mit in der NS-Zeit erworbenen Skulpturen im Frankfurter Liebieghaus (SZ) und die Ausstellung "Triumph ohne Sieg. Roms Ende in Germanien" im LWL-Römermuseum in Haltern (Welt).
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Literatur

In der FAZ versucht die Schriftstellerin Olga Martynova ein Missverständnis über die inoffizielle Lyrik in der Sowjetunion auszuräumen: Ihr Widerstand war in erster Linie "ästhetischer, nicht politischer Natur", schreibt sie. Die Gefährdung, die darin liegt, ist heute gar nicht so anders: "Dabei besteht doch der höchste Mut eines Autors darin, so zu schreiben, wie er es für richtig hält. Künstler wurden eher unter ästhetischen als unter ideologischen Druck gesetzt: Die Literatur müsse einem breiten Publikum zugänglich sein. Was heute überall über den Markt geregelt wird, versuchte man in der Sowjetunion mit Anordnungen zu regeln, was selbstverständlich weniger effektiv war. Für die Freiheit, das zu schreiben, was sie wollen, bezahlen Autoren nicht nur unter einer Diktatur damit, dass man ihnen mit 'innerer Lässigkeit' begegnet."

Im Gespräch für ZeitCampus macht Maxim Biller gegenüber Stefan Willeke mal wieder seinem Hass auf 1968 und die Folgen mächtig Luft: "Die siebziger Jahre waren eine bleierne, eine ganz dunkle Zeit. Die Meinungsführer, die in der Nach-68er-Zeit in Schulen und Hochschulen auftraten, waren blind propalästinensisch und wüst antiisraelisch. Und wenn man sich heute fragt, woher die inzwischen völlig akzeptierte Israel-Feindschaft in deutschen Mitte-links-Kreisen stammt, dann muss man sagen: Sie kommt aus der Zeit nach 1968, als die PLO das Goldene Kalb der deutschen Täterkinder war."

Für den Perlentaucher berichtet Charlotte Krafft von den Solothurner Literaturtagen: "Als Rentnerparty wurde mir das Festival angekündigt. Natürlich habe ich mich davon zu keinerlei Vorurteil hinreißen lassen, aber. Tatsächlich scheint der Altersdurchschnitt des Publikums um die 70 zu liegen, wie ich bereits beim Apéro am ersten Abend im Stadttheater feststelle. ... Dankche, Biette, Merzi, Grüezi süßelt man sich zu, es riecht sanft und anheimelnd nach Magensaft und Mundwasser."

Weiteres: Die NZZ veröffentlicht autobiografische Notate von Herbert Meier. Andreas Platthaus berichtet in der FAZ vom Auftakt von Michael Kleebergs Franfurter Poetikvorlesung, in der sich der Schriftsteller vor allem mit der Entstehung seines neuen Romans befasst.

Besprochen werden u.a. Claudio Magris' Essayroman "Verfahren eingestellt" (NZZ) und Annie Proulxs "Aus hartem Holz" (FR).
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Film

Im Tagesspiegel erliegt Kritiker Andreas Busche dem melancholischen Schmelz von Robert Budreaus Biopic "Born to Be Blue" über den Jazzmusiker Chet Baker, den Ethan Hawke auf sehr demütige Weise verkörpert: "Anders als die vielen Musiker-Biopics, die maßgeblich von der Eitelkeit ihrer Hauptdarsteller dominiert werden (...), zeichnet 'Born to be Blue' eine fast traumhafte Entrücktheit aus." Hawke habe sich Bakers Manierismen "abgeguckt, ohne sie sich zu eigen zu machen. Baker bleibt in 'Born to be Blue' eine Kunstfigur, die aus dem Wissen um ihre selbstzerstörerischen Triebe immer wieder Kraft schöpft - auch wenn das böse Ende schon absehbar ist. Aber die Schönheit, die beim Verglühen entsteht, besitzt eine ganz eigene Poesie." Weitere Besprechungen in taz und Welt.

Weitere Artikel: Lukas Hermsmeier hat sich für die Welt mit "Wonderwoman"-Regisseurin Patty Jenkins getroffen. Annett Scheffel unterhält sich für die SZ mit dem US-Produzenten Jason Blum, der mit rigide auf vier bis fünf Millionen Dollar budgetierten, aber durchaus ambitionierten Filmen - meist Horrorfilme - einen Kassenschlager nach dem nächsten landet: "Mit den kleinen Budgets entledigt sich Jason Blum vor allem eines Problems der Branche: der Angst vor dem Risiko."

Besprochen werden Julian Radlmaiers Intellektuellenkomödie "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" (taz), Behnam Behzadis "Inversion" (NZZ), Signe Astrups Dokumentarfilm "Die vergessene Armee" über ehemalige NVA-Offiziere (taz) und das Kammerspieldrama "The Dinner" mit Richard Gere und Rebecca Hall (Tagesspiegel, Welt, SZ).
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Architektur

In der NZZ schreibt Ulf Meyer zum 150. Geburtstag des Architekten Frank Lloyd Wright.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Wright, Frank Lloyd

Bühne

Auf Zeit online stellt Georg Blume den chinesischen Theatermacher Tian Gebing vor, dessen Stück "500 Meter: Kafka, Große Mauer, irreale Welt" gerade beim Hamburger Festival Theater der Welt lief und der Teil jener unabhängigen Theaterszene in China ist, der der Alexander Verlag gerade einen großen Band gewidmet hat: "Tian lässt ... einen Schauspieler über einen anderen laufen, der sich am Boden wälzt. In diesem Moment sind Kafkas Gedanken über das unterdrückte Individuum präsent. Das Leiden des Einzelnen an den Großprojekten der Geschichte ist für den Zuschauer mit allen Sinnen zu fassen."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel gratuliert Rüdiger Schaper Claus Peymann zum Achtzigsten. In der Berliner Zeitung lässt Dirk Pilz die Glückwünsche von Thomas Bernhard ausrichten. In der SZ berichtet Dorion Weickmann vom Festival Theater der Welt in Hamburg.

Besprochen werden Frank Castorfs Dostojewski-Inszenierung "Ein schwaches Herz" an der Volksbühne (Standard) und Bruno Beltrãos Choreografie "Inoah", die gerade beim Hamburger Festival Theater der Welt Premiere hatte (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

So sampelt man, lernt SZ-Kritikerin Rita Argauer beim Münchner Rachmaninow-Abend des Pianisten Igor Levit mit dem Bayerische Staatsorchester unter Kirill Petrenko. Bei Rachmaninows "Rhapsodie über ein Thema von Paganini" kosten sie "das Mitreißende von Paganinis Thema aus, ohne je sentimental darin zu baden oder die Musik protzig oder zu mächtig werden zu lassen. Die Zugänglichkeit geschieht hier gewissermaßen als Emotionsvermittlung auf zweiter Stufe."

Das neue Album "Ti Amo" von Phoenix bietet im wesentlichen kantenfreien Hitparadenpop. Jens Balzer gelingt es auf ZeitOnline dennoch, dem einige interessante Facetten abzugewinnen. Nicht nur stößt er beim Anhören auf "die interessanteste Gurgelkadenz" seit John Lennos "Yellow Submarine". Auch der Einsatz modernster Audiotechnologien zur Aufhübschung des Gesangs ist ihm Anlass zur Gegenwartsdiagnose: "Die ambitioniertesten Mittel der Soundgestaltung nutzen Phoenix dazu, um angenehm, schmeichelnd und nicht weiter auffällig zu wirken. Man könnte also sagen, dass sie klingen wie derzeit niemand sonst und als Band dennoch komplett verwechselbar sind. In der cleveren Entprofilierung mit teuren technischen Mitteln haben Phoenix zu ihrer wahren Identität gefunden und sind für unsere kulturelle Gegenwart insofern ein absolut paradigmatisches Phänomen."

Weiteres: Isabel Herzfeld hat sich für den Tagesspiegel mit Toshio Hosokawa getroffen, um mit ihm über dessen Lehrmeister, den koreanischen Komponisten Isang Yun zu sprechen, der in diesem Jahr 100 geworden wäre. Kristina Maidt-Zinke berichtet in der SZ von Tagen Alter Musik in Regensburg. Für die SZ spricht Jonathan Fischer mit Hugh Masekela, der vor 40 Jahren das legendäre Musikfestival "Zaire 74" organisiert hat und nun endlich einen Mitschnitt davon veröffentlicht.

Besprochen werden ein Konzert von Seu Jorge (taz) und das neue Album von DJ Hell (SZ).
Archiv: Musik