Efeu - Die Kulturrundschau

Frankensteins Monster begraben

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20.07.2017. Lukrez lesen, das macht Schriftstellern Mut, Magie und Mystizismus zu begraben, ermuntert in der NZZ der Evolutionsbiologe Matt Ridley. Mehr analoge Vorführmöglichkeiten für das Filmerbe fordert im Freitag Fabian Tietke. Der Tagesspiegel bewundert Architekturzeichnungen aus aller Welt. Nicht ganz zufrieden ist die NZZ mit Jonas Kaufmanns Aufnahme von  Gustav Mahlers "Lied von der Erde" als Alt und Bariton. Im Perlentaucher ruft Wolfgang Ullrich das Schisma in der Kunst aus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.07.2017 finden Sie hier

Kunst

Eines der sehr teuren Werke von Damien Hirst in der Fondation Pinault, Palazzo Grassi, Venedig, fotografiert unter CC BY-NC 2.0-Lizenz von ACME.

Die Kunst steht vor dem Schisma - Kuratorenkunst hier, und Kunst für reiche Käufer dort. Diese Abspaltung wird sich ganz im Stillen vollziehen und den bisherigen Kunstbegriff obsolet machen, meint Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in einer Rede, die der Perlentaucher nachdruckt: "Denkbar ist etwa, dass Damien Hirst oder Takashi Murakami, die beide schon seit längerem jüngere Künstlerinnen und Künstler mit ihren Firmen vertreten, ihr Business weiter professionalisieren, indem sie eine eigene Ausbildung anbieten. Sie könnten sich dafür mit Prominenz aus anderen Luxusbranchen zusammentun - mit dem Unternehmer und Sammler Steven A. Cohen oder dem Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier - und ein globales Schullabel gründen, das den Zweck verfolgt, den Studierenden beizubringen, welche Interessen und Mentalitäten die Superreichen in den verschiedenen Kulturen besitzen. So wäre es besser als bisher möglich, Möbel, Skulpturen, Teppiche, Geschirr, Bilder, Schmuck, Wohnaccessoires, Yachten, Kleidung, Uhren und Events speziell für diese Zielgruppe zu entwickeln."

Weiteres: Marcus Weingärtner unterhält sich für die Berliner Zeitung mit der Künstlerin Colette Lumiere - eine Art Vorläuferin von Madonna und Lady Gaga - über die Kunststädte New York und Berlin. In der FR erinnert Arno Widmann an die Münchner Ausstellung "Entartete Kunst", mit der die Nazis vor achtzig Jahren der modernen Kunst den Kampf angesagt hatten. 

Besprochen werden zwei Ausstellung des Malers Arnulf Rainer im Linzer Lentos gezeigt werden und im Badener Arnulf Rainer Museum (Standard), die Ausstellung "Calder to Kelly" mit amerikanischer Kunst aus den Bestände des Kunstmuseums Winterthur (NZZ) und eine Ausstellung über den Kameramann Robby Müller in der Deutschen Kinemathek Berlin (SZ).
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Literatur

Zurück zu Lukrez, fordert der Evolutionsbiologe Matt Ridley in der NZZ. Sehr schade findet er es nämlich, welche Wissenschaftsskepsis sich in der Literatur seit Mary Shelleys "Frankenstein" festgesetzt hat - und das obwohl auch Shelleys Werk im Kern zurückgehe auf Lukrez' Langgedicht "De Rerum Natura", dessen "kühner Entwurf einer materialistischen und humanistischen Weltsicht" enorme Wirkmächtigkeit in der Kulturgeschichte entwickelt habe. Lukrez "will den Beweis antreten, dass Körper, Geist und Welt allesamt das Produkt physikalischer Kräfte sind und dass keine Gottheit dabei die Finger im Spiel hat. Das Gedicht ist eine Absage an Magie und Mystizismus, Aberglauben und Mythos. ... Lukrez hatte recht: Materialismus ist weniger gefährlich als Aberglaube. Es ist an der Zeit, dass wir Frankensteins Monster begraben."

Paul Jandl feiert in der NZZ 150 Jahre Reclams Universal-Bibliothek, die 1867 durch eine Reform des Urheberrechts ermöglicht wurde: "Der Klassikerschutz war aufgehoben, die Texte waren gemeinfrei, und die ersten beiden Bände konnten erscheinen." Heute freilich blockiert der mangelnde Wille, das Urheberrecht im Sinn der Leser und Nutzer zu reformieren, eine ähnliche Entwicklung für das Digitalzeitalter.

Weiteres: Für die NZZ punterhält sich Thomas David mit der amerikanischen Schriftstellerin Rachel Kushner über ihren im Original bereits 2008 veröffentlichten, heute auch in der taz besprochenen Roman "Telex aus Cuba" und die politische Lage in den USA.

Besprochen werden die Wiederveröffentlichung von Charles Willefords "Hahnenkämpfer" (Deutschlandfunk Kultur), Tom Boumans Krimi "Auf der Jagd" (Tagesspiegel) und Rolf Hochhuths "Eiffelturm Titanic Mondlandung Mindestrente" (FR).
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Film

Der Löwenanteil des europäischen Filmerbes liegt lediglich auf analogem Filmmaterial in den Institutionen und Archiven vor, hat Fabian Tietke für den Freitag herausgefunden. Da immer weniger Abspielstätten über klassische Filmprojektoren verfügen, leidet darunter die Zugänglichkeit: Gespielt werden kann nur der niedrige Prozentsatz jener Filme, die in digitaler Form vorliegen. Tietke plädiert daher dafür, "zumindest an einigen Orten wieder pflegeleichte und nicht-proprietäre analoge Vorführmöglichkeiten bereitzustellen. ... Gäbe es mehr Abspielorte, wäre der Pflege des Filmerbes gleich mehrfach geholfen: Der Druck auf die europäische und nationale Politik, ausreichend Geld zur Verfügung zu stellen, um Film als Kunst zu behandeln und im Originalformat zu sichern, würde wachsen. Zugleich würde die Pflege der performativen Filmkultur, auf die Alexander Horwath hingewiesen hat, gefördert."

Weiteres: Für den Tagesspiegel spricht Christiane Peitz mit dem Regisseur Radu Mihaileanu über dessen Film "Die Geschichte der Liebe", den taz-Kritiker Ulrich Gutmair für "Kitsch, wie er im Buch steht", hält. Patrick Heidmann hat sich für die Berliner Zeitung mit Luc Besson für ein Interview über dessen neuen Science-Fiction-Film "Valerian - Die Stadt der tausend Planeten" getroffen (Besprechungen dazu im Standard, in der FR und in der NZZ, mehr im gestrigen Efeu). Michael Wenk schreibt in der NZZ über den deutschen Schauspieler Paul Hubschmid, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Caroline Weidner empfiehlt in der taz ein Berliner Programm zum filmischen Frühwerk der Regisseurin Kirsi Marie Liimatainen.

Besprochen werden Luis Bunuels wiederaufgeführter Skandalfilm "Belle de Jour" von 1967 mit Catherine Deneuve (SZ, ZeitOnline) und eine dem Kameramann Robby Müller gewidmete Ausstellung im Filmmusuem in Berlin (SZ).
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Design

In der FAZ würdigt Patrick Bahners den Gestalter und Art Director Willy Fleckhaus, dem die Villa Stuck in München derzeit eine Ausstellung widmet. Unter anderem hatte Fleckhaus der Edition Suhrkamp ihren Look verliehen. Deren schlichte Regenbogenfarben-Gestaltung hatte Hintersinn: Nur nach Aufstellung in chronologischer Erscheinung "entfaltete das Kulturschauspiel des Regenbogenspektrums seine volle Pracht. ... Der Gesamteindruck: eine Homogenität des Kanonischen unter Abstrahierung von allen Kriterien, nach denen die Auswahl getroffen wurde. Das einheitliche Erscheinungsbild der Reihe stand ein für die Urteilskraft des Lektorats, der die Leser vertrauen sollten." Das waren Zeiten!
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Architektur

Jeremie Frank: Das Makrofon, 1981, © Jeremie Frank
Die Ausstellung "Gezeichnete Welten" im Berliner Museum für Architekturzeichnung lehrt einen staunenden Bernhard Schulz (Tagesspiegel), wie die Architekturzeichnung in den siebziger und achtziger Jahren durch den Direktor der Londoner Architectural Association, Alvin Boyarsky, zu Ehren kam: "Jahrhundertelang war Architektur in Form von Traktaten und Lehrbüchern vermittelt worden, nun setzte sich die Zeichnung - im weitesten Sinne - an die Spitze. Boyarsky sorgte für internationalen Austausch durch unzählige Ausstellungen, Veröffentlichungen, Symposien; sein Motto war 'Wir kämpfen die Schlacht mit den Zeichnungen an der Wand'. Dass das nicht nur harmonisch ablief, wurde 1983 klar, als einem ganzen Kursus das Abschlusszeugnis verweigert wurde, weil die Zeichnungen der Studenten 'zu experimentell und cartoonartig' seien."

Außerdem: In der SZ erzählt Christiane Schlötzer, wie deutsche Architekten einst dabei halfen, Ankara zu modernisieren.
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Stichwörter: Architekturzeichnung

Bühne

Besprochen werden Hofesh Shechters Choreografie "Grand Finale" beim Colours Dance Festival in  Stuttgart (FR) sowie Choreografien von Jan Fabre und Michael Laub beim Festival Impuls-Tanz in Wien (Presse, Standard, SZ).
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Stichwörter: Fabre, Jan

Musik

Nicht rundum geglückt ist nach Ansicht von NZZ-Kritiker Bjørn Woll das Experiment, für eine neue Aufnahme von Gustav Mahlers "Lied von der Erde" den Tenor Jonas Kaufmann nicht nur die Lieder für die eigene Stimmlage, sondern auch die für Alt und Bariton singen zu lassen. "Das ändert den Ausdruck. ... Was bleibt, ist einige Bewunderung für Jonas Kaufmann, schon für den physischen Akt, den dieses Experiment abverlangt. Ein Plädoyer für weitere tenorale Alleingänge ist es nicht." Eine Kostprobe gibt es auf Youtube:



Reichlich fad findet Karl Fluch vom Standard das neue Album "Everything Now" von Arcade Fire, das für ihn nicht mehr als "eine Aneinanderreihung von Machbarkeitsstudien" darstellt: Der Song "'Put Your Money on Me' klingt wie etwas, das Daft Punk aus dem Mistkübel gefischt haben, das finale 'We Don't Deserve Love' wie etwas, das Brian Eno nicht gut genug war."

Auf ihrem neuen Album "Lust for Life" verwandelt Lana Del Rey "den seltsamen Farbstich gealterten Zelluloids in einen eigenartig modernen Klang", schreibt Markus Schneider auf ZeitOnline. Für Pitchfork spricht Alex Frank mit der Künstlerin. Hier das aktuelle Video:



Weiteres: Trump wegen seiner provokativen Art mit Punk zu assoziieren, sei völlig abwegig, meint der ehemalige Dead-Kennedys-Sänger Jello Biafra im Freitag-Interview gegenüber Thomas Salter. Frederik Hanssen (Tagesspiegel) und Eleonore Büning (FAZ) gratulieren dem Dirigenten Michael Gielen zum Neunzigsten. Harry Nutt gratuliert Carlos Santana in der Berliner Zeitung zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden eine Ausstellung über Martin Luther und Johann Sebastian Bach im Bachhaus in Eisenach (NZZ), das Debüt "Sei ein Faber im Wind" von Faber (Freitag), ein Konzert der Sopranistin Anna Lucia Richter (FR), ein Konzert von Norah Jones (Tagesspiegel), ein Auftritt von ZZ Top (Berliner Zeitung) und neue Jazzveröffentlichungen (The Quietus).
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