Efeu - Die Kulturrundschau

Eine irgendwie barbarische Haarkrone

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2017. Große Galashow in Salzburg bei Shirin Neshats "Aida"-Inszenierung, und die Netrebko war natürlich toll!, toll!, toll!, wie die Welt versichert. Und erst einmal ihr Teint! Sogar die taz schwärmt, unter anderem von der visuellen Diät. Der Tages-Anzeiger setzt sich unterdessen mit Voodoo Jürgen in die Kneipe. Cargo vergüngt sich mit Jacques Touerneur beim Locarno-Festival. Monopol fragt sich, ob es jetzt eigentlich cool ist, dass Cindy Sherman auch auf Instagram postet. Und in der FAZ steht Übersetzerin Christiane Pöhlmann vor einem Rätsel: Darf bei einem Elf der Groschen fallen?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.08.2017 finden Sie hier

Bühne


Anna Netrebko in Shirin Neshats "Aida". Foto: Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus.

Große Salzburg-Gala bei der "Aida" Premiere, mit Anna Netrebko in der Titelrolle und Ricardo Muti am Dirigentenpult (und regulären Ticketpreisen von 450 Euro, auf dem Schwarzmarkt bis 3.000 Euro). In der NZZ ist Christian Wildhagen hin und weg: "Tatsächlich kann man heute wohl keine stimmschönere Sängerin für die Titelrolle engagieren. Anna Netrebko befindet sich vokal hörbar auf dem Gipfel ihrer Laufbahn: Ihr charakteristisch weicher, über die Jahre noch fülliger und farbiger gewordener Sopran ist ausgewogen in allen Lagen; die in dieser Partie viel geforderte Piano-Höhe spricht fast durchweg mühelos an, gleichzeitig behält die Stimme ihre Grundierung in der üppigen Bruststimme."

Und wie fand Manuel Brug in der Welt die Netrebko? "Toll! Toll! Toll! Doch, schon! Figurgnädige, monochrom dunkle Wallekleider, etwas zu viel Selbstbräuner, eine irgendwie barbarische Haarkrone, zum Himmel sich windende Erbarmensarme in schönster Primadonnenmanier, porzellanpüppchenartige Demutsgesten - fertig ist die äthiopische Sklavin aus der Opernboutique de luxe." (Sehr schön eingefangen haben die Salzburger Nachrichten in einer Bilderstrecke Netrebkos Auftritt!)

Als reinsten Ikonoklasmus bejubelt Uwe Mattheis in der taz auch Shirin Neshats Inszenierung: "Die aus dem Iran stammende, in New York lebende bildende Künstlerin unterzieht diesen Opulenz verheißenden Stoff genau jener klärenden, den Verstand adressierenden visuellen Diät, die ihre fotografischen Arbeiten aus und über den Iran zuvor vermuten ließen." In der SZ bemängelt Reinhard Brembeck dagegen die brave und unkritische Regie von Operndebütantin Shirin Neshat: "Erstaunlicherweise ist Shirin Neshat nichts zum Plot und schon gar nichts zur Musik eingefallen." Ähnlich sieht es Ljubisa Tosic im Standard: "Nicht, dass Minimalismus kein Stilmittel wäre. Er müsste nur bewusst klischeefrei gestaltet werden." Weitere Besprechungen in Tagesspiegel, New York Times und FAZ.

Weiteres: Im NZZ-Interview mit Marion Löhndorf bekundet Daniel Kehlrmann unter anderem sein Missfallen am deutschen Theater, das der dramatischen Form keinen Raum mehr gebe: "Aber in London und in New York habe ich lebendiges, originelles Gegenwartstheater erlebt." Der Bayerische Rundfunk bringt außerdem ein Feature über das Real-Theater von Milo Rau.
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Kunst

Who me?!

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Cindy Sherman ist auf Instagram. Ist das jetzt cool oder nicht, fragt sich Anika Meier in Monopol irritiert. "Ihrem Account @misterfriedas_mom folgte ich jedenfalls sofort. Was es dort zu sehen gibt: Selfies, Familie, Essen, Selfies, Selfies, Tiere, Alltag, Selfies und Selfies. Instagram halt. Die Selfies wurden offenbar zum Teil mit der App 'YouCam Makeup' gemacht und sehen aus, wie der Albtraum eines jeden amerikanischen Teenagers, der Instagram nutzt, um aus sich eine Marke zu machen."

Weiteres: Annegret Erhard reist nach Samos, wo der Art Space Pythagorion dem "Summer of Love" von 1967 eine Ausstellung widmet, die auch daran erinnert, dass die Flower Power etlichen brutalen kriegerischen Konflikten entgegenstand. Kein kritisches Wort kommt Susanne Altmann in ihrem Nachruf auf den verstorbenen Museumsmacher Martin Roth über die Lippen (mehr im gestrigen Efeu). In der Berliner Zeitung schreibt Ingeborg Ruthe zum 150. Geburtstag Emil Noldes.

Besprochen werden die Ausstellung "Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan" im Berliner Bröhan-Museum (Welt), eine Alfred-Kubin-Ausstellung im Leopold-Museum (Standard) und eine Marko-Lulic-Schau im Lentos Museum Linz (Standard).
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Musik

Für den Tages-Anzeiger porträtiert Christoph Fellmann den Wiener Sänger Voodoo Jürgens, der mit seinen Liedern von einem "Restproletariat" berichtet, "das sich schnell ansteckt mit dem Frust und der grassierenden politischen Dumpfheit." Früher war er Indie-Musiker: "Also klingen seine Lieder heute mindestens so sehr nach amerikanischem Anti-Folk wie nach dem rustikalen Schmäh der Wiener Arbeiterklasse und ihrer Schrammelmusiken. ... Auch darum besucht Voodoo Jürgens ab und zu die abgestandenen Kneipen seiner Stadt; nämlich, um immer mal wieder diesen Sound aufzufrischen." Dazu ein Video:



Weiteres: In der NZZ stellt Thomas Schacher das Ensemble des Pianisten Markus Schimmer vor. Juliane Liebert porträtiert in der SZ den Bassisten Will Carruthers, der in zahlreichen Alternativebands mitgespielt hat. Christiane Peitz schreibt im Tagesspiegel über Sommerhits.

Und angesichts eines neuen, gediegen beknackten Musikvideos mit David Hasselhoff, das sich am Ende allerdings als Werbeclip für eine DVD entpuppt, philosophiert Jakob Biazza online bei der SZ über die Tragik von Popkultur und wann diese "am besten", aber auch "am schlechtesten" sei. Anklicken auf eigene Gefahr:



Besprochen werden ein Konzert von Holly Golightly (FR) und Lisa Azuelos' Biopic "Dalida" über die gleichnamige Sängerin (Die Presse).
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Literatur

In der FAZ denkt Übersetzerin Christiane Pöhlmann über die Herausforderungen ihrer Disziplin nach. Gute Übersetzungsarbeit leistet man demnach nur mit einer gehörigen Portion Selbstmisstrauen und nicht zuletzt, was bei den Forderungen nach fremdsprachlicher Kompetenz gern vergessen wird, mit Muttersprachen-Kompetenz. "Diskussionen in Fachkreisen sind enorm wichtig: Darf bei einem Elf der Groschen fallen? Ein indischer Schlangenbeschwörer sächseln, ein englisches Blumenmädchen berlinern? Wie - man denke an Charles Dickens - mit Schludrigkeiten im Original umgehen? Kritik muss sein, doch warum bei einer schlechten Übersetzung gleich die ganze Kunst anzweifeln? Der Griff zum Original ist unbenommen. ... Übersetzungen aber haben uns die Villa Kunterbunt und Muggels, Haiku und Ghaselen, Richter Di und den Privatdetektiv Remzi Ünal, Manuskripte, die nicht brennen, und den Geschmack von Madeleines geschenkt. Wie jeder Text weisen sie kleinere Fehler auf, völlig verhunzt sind nur wenige."

Weitere: Für die Sommerreihe über die Ferienhäuser großer Schriftsteller hat Alexander Menden Roald Dahls Schreib-Domizil in Great Missenden bei London aufgesucht.

Besprochen werden Mareike Krügels "Sieh mich an" (FR), Simone Buchholz' Krimi "Beton Rouge" (Welt), Viktor Schklowskijs "Sentimentale Reise" (SZ) und Susan Krellers "Pirasol" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Design

Im Zeit Magazin erinnert Katharina Pfannkuch an den Modedesigner Rudi Gernreich, der heute 95 Jahre alt geworden wäre und für die Erfindung des Tanga verantwortlich zeichnete: "Aufreizend war das nicht gemeint. Im Gegenteil: Gerade mit der Normalisierung von Nacktheit wollte er die dauerhafte Sexualisierung nackter Körper überwinden. 'Die Befreiung des Körpers wird unsere Gesellschaft von ihrem sexuellen Komplex heilen', so seine Hoffnung. Nackte Emanzipation. Eine Idee, die 2017 immer noch genauso Zeitgeist und genauso nötig ist, wie sie es 1974 war."

Für den Tagesspiegel hat Bernhard Schulz die große, dem zuletzt vielgewürdigten Designer Willy Fleckhaus gewidmete Ausstellung in München besucht.
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Film



Lukas Foerster schickt an Cargo eine Notiz vom Filmfestival in Locarno, wo ihn die Jacques Tourneur gewidmete Retrospektive im Nu darüber hinweg tröstet, dass sein Lieblingskino umgestaltet wurde. Als Wiederentdeckung  unbedingt ans Herz legen kann er Tourneurs Kriminalfilm "Phantom Raiders" von 1940. Dieses kostengünstig erstellte B-Movie "spielt fast durchweg in einer Handvoll enger Sets, die durch Jalousien und Ventilatoren dynamisiert werden; die terroristische Verschwörung, bei der immerhin mehrere ausgewachsene Ozeandampfer draufgehen, wird erst durch ferngesteuerte Radarwellen in Gang gesetzt, und anschließend von Nick Carter, der den ganzen Film über darauf besteht, sich eigentlich im Urlaub zu befinden, durch ferngesteuerte Kommunikationsroutinen lahm gelegt. Das ist natürlich Unsinn um seiner selbst Willen, sozusagen the genius of the system im Leerlauf - aber gerade dieser Leerlauf hat es mir angetan. Zumindest vermisse ich im gegenwärtigen Kino wenig mehr als die gewissermaßen interesselose geistige Wendigkeit und inszenatorische Raffinesse von Filmen wie 'Phantom Raiders'." Hier ein kleiner Ausschnitt aus dem Film.

Bei Tourneurs "Stars in my Crown" tropft es lässig durch die Kinodecke, beobachtet Patrick Holzapfel von kino-zeit.de, der glücklicherweise einen Platz hinter dem betroffenen Sessel saß. Frédéric Jaeger betrachtet in seinen Kurzkritiken vom Festival unterdessen Männermuskeln aller Art.

Weiteres:Katrin Doerksen schreibt auf kino-zeit.de über das Motiv des Manic Pixie Dream Girls. Mariam Schaghaghi spricht für die Berliner Zeitung mit dem Schauspieler Hugh Bonneville über dessen Leben und Schaffen. Tobias Sedlmaier (NZZ), Daniela Pogade (Berliner Zeitung) und Kia Vahland (SZ) gratulieren Dustin Hoffman zum Achtzigsten.
Archiv: Film