Efeu - Die Kulturrundschau

Polyfonie der Assoziationen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2017. Die Musikkritiker lassen sich in Salzburg von William Kentridges Inszenierung des "Wozzeck" überfordern. Die Filmkritiker staunen in Locarno über Jürgen Vogel als Ötzi. In der Zeit erklärt die Autorin Virginie Despentes, warum sie es nach einer Vergewaltigung befreiend fand, als Prostituierte zu arbeiten. Die Welt geht vor den Leuchtkastenbildern Rodney Grahams in die Knie.  Die SZ hört bei den  Musiktagen in Hitzacker ein wildes Stück von Rebecca Saunders.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.08.2017 finden Sie hier

Bühne


Alban Bergs "Wozzeck" in der Inszenierung von William Kentridge. Foto: © Ruth Walz, Salzburger Festspiele

In Salzburg versammelten sich die Musikkritiker zu William Kentridges Inszenierung von Alban Bergs "Wozzeck", dessen Geschehen der Regisseur in den Ersten Weltkrieg verlegt hat. "Eine rundum geglückte Kriegsmahnung", lobt Ljubiša Tošić im Standard. "Es fasziniert eine überbordende, intensive und handwerklich elegante Inszenierung, die von Kentridges Fantasie geflutet wird (Luc De Wit besorgt die Co-Regie) und selbst zu einer kleinen Leinwand greift, um Animationen einzubringen. So entsteht aus einer bilderstarken Polyfonie der Assoziationen ein Gesamtkunstwerk mit gebrochenen Idyllen, Kriegsanklagen und Militärkarikaturen, in dem die Tragödie der Charaktere jedoch nicht in einer Übermalung ertrinkt."

"Überforderung ist Prinzip dieser Inszenierung", meint Thomas Rothschild in der nachtkritik, mit Blick auf das Bühnenbild: "Den Ausschnitt der Bühne, in dem gerade gehandelt und gesungen wird, leuchten Scheinwerfer aus - so findet etwa die Szene zwischen Wozzeck und dem Doktor in einem lichtdurchfluteten Schrank statt -, der Rest liegt im Dunkel, um die Videoprojektionen zur Geltung zu bringen. Diese Projektionen sind jedoch in fast ständiger Bewegung. Nur zum Teil nehmen sie den Rhythmus der Musik auf, um dann kontrapunktisch ihr Eigenleben zu führen. Anders als etwa bei Castorf oder Pollesch, verdoppeln sie auch nicht das Spiel auf der Bühne, sondern fügen autonome auf die Realität bezogene und ästhetische Informationen hinzu."

SZ-Kritiker Michael Stallknecht ist eher zwiegespalten: Die Wiener Philharmoniker spielen diese erste vollständig atonale Oper unter dem Dirigent Vladimir Jurowski "aus dem Geist der Spätromantik, der mindestens der junge Komponist noch gehuldigt hatte. Sie erkennen in ihm den Zeitgenossen Zemlinskys oder Schrekers, die zeitgleich gegen eine zerbrechende Welt auf den alten tonalen Bahnen ankomponierten. Schließlich stimmt auch Berg nach dem Mord noch einen großen Weltabschiedsgesang in der Tradition Mahlers oder Bruckners an, für den er ein eigenes frühes, durchaus noch tonal fassbares Klavierstück wiederbelebte. Doch dieser musikalische Zugang verleiht der gesamten Produktion auch einen nostalgischen Grundton, der die Bilder an diesem Abend kaum entkommen."

Außerdem: In der FAZ lobt Jürgen Kesting die Inszenierung als "Interlinearversion der Musik" schreibt über Matthias Goerne in der Titelpartie freundliche Worte: "Sein Wozzeck gleicht einer Zeitbombe." Hans Klaus Jungheinrich ist in der FR nur mäßig beeindruckt von der Inszenierung, aber ebenfalls hingerissen von Goernes Wozzeck: "Bei äußerster Textverständlichkeit bis in die kleinste Silbe realisiert Goerne alle dynamischen Konvulsionen dieser enormen Partie."

Weiteres: Am Berliner Ensemble baut der neue Intendant Oliver Reese inzwischen - anders als sein Kollege Chris Dercon an der Volksbühne - relativ still und ungeschoren um, berichtet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung. Besprochen wird Castorfs "Rheingold" in Bayreuth (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne

Design

In der NZZ arbeitet Klaus Bartels die Etymologien und Unterschiede der Begriffe "Mode" und "Modern" heraus und stellt dabei fest: "Als das '(Ala-)Modische' modisch wurde, war das "Moderne" längst eine Antiquität." Im ZeitMagazin befasst sich Tillmann Prüfer indessen mit dem Verhältnis zwischen Mystik und Mode.
Archiv: Design
Stichwörter: Mode

Film


Jürgen Vogel als Ötzi in "Der Mann aus dem Eis" (Bild: Amourfou Film)

In Locarno hatte Felix Randaus Film "Der Mann aus dem Eis" Premiere, der über die letzten Tage des "Ötzi" spekuliert: Jürgen Vogel spielt darin das berühmteste Todesopfer der Jungsteinzeit. Rudolf Neumaier staunt in der SZ über den Aufwand, der für diesen Film betrieben wurde: Unter anderem hat man einen Sprachwissenschaftler verpflichtet, der das "Urkauderwelsch" der Figuren entworfen hat. Viele Worte werden aber eh nicht gemacht, die Akteure sprechen eher mit ihren Körpern: "Die Art des Gehens wird zum Ausdruck von Stimmungen. ... Jürgen Vogel, 49, schleppt sich sehr glaubhaft über Stock und Stein. Stapfte er nur eine Nuance lockerer durch den Wald, sähe er schnell aus wie eine von diesen Auffi-Auffi-muas-i-aufn-Berg-Komödianten aus Wolfgang Ambros' Watzmann-Musical - doch stark wie ein Haflingerhengst hält Vogel seine Spannung. So spielt man Bergabenteuer-Helden."

In der FR resümiert Daniel Kothenschulte den bisherigen Festivalverlauf und stellt fest: "Kein Festival hat ein so unvorhersehbares Programm wie Locarno - und dabei doch ein stärkeres Profil als etwa die Berlinale - denn beliebig ist hier gleichwohl nichts." Locarno versinkt im Regen, berichtet Patrick Holzapfel in seinem Festival-Logbuch auf kino-zeit.de. Urs Buehler von NZZ genießt die poetische Leere, wenn das Publikum den Piazza Grande verlassen hat. Es sei denn, Vanessa Paradis geistert durchs Pressezelt, dann hat er nur noch Augen für sie. In der FAZ würdigt Verena Lueken Jacques Tourneur, dem das Festival in diesem Jahr die Retrospektive widmet.


Glaube an die Popmusik: Lisa Azuelos Biopic "Dalida"

Große Begeisterung bei Lukas Foerster vom Perlentaucher über Lisa Azuelos Biopic "Dalida" über die gleichnamige Chanson-Sängerin. Wer es ihm gleichtun will, müssse allerdings eine gewisse Bereitschaft mitbringen, sagt er: Man müsse "für die Dauer des Films an die Popmusik glauben. Und zwar, das kommt erschwerend hinzu: an Popmusik in ihrer banalen, sentimentalen, uncoolen Spielart. An tränenseligen Mainstreampop, an mechanisch erzeugte, dick aufgetragene Gefühle, an Tränen, die in Strömen fließen, weil sie in Strömen fließen sollen. Man sollte daran glauben, dass Musik manchmal genau so sein muss, weil sie nur so etwas zu fassen bekommt vom Leben in der modernen Welt." Unter diesen Voraussetzungen aber werde "Dalida" richtig groß.

Weiteres: Die seit Januar angekündigte, sechsteilige Westernserie "The Ballad of Buster Scruggs" der Coenbrüder ist bei Netflix gelandet, meldet DWDL.

Besprochen werden Thomas Arslans "Helle Nächte" (taz), der Dokumentarfilm "David Lynch - The Art Life", der den Filmemacher Lynch als bildenden Künstler in den Vordergrund rückt (NZZ), "Der Stern von Indien" mit Hugh Bonneville (taz, SZ), der auf DVD veröffentlichte Animationsfilm "Die Rote Schildkröte" von Michael Dudok de Wit (taz), Ceyda Toruns Dokumentarfilm "Kedi" über die Katzen von Istanbul (taz), Mika Taanilas und Jussi Eerolas Dokumentarfilm "Return of the Atom" über das Dorf Eurajoki im Zeichen des Aufbaus eines Atomkraftwerks (SZ), Nikolaj Arcels von der Kritik weitgehend in die Tonne gekloppte Verfilmung von Stephen Kings Fantasy-Epos "Der Dunkle Turm" (NZZ, Standard, Tagesspiegel, Welt, taz, online nachgereicht von der FAZ) und die norwegische Serie "Lifjord" (FR).
Archiv: Film

Literatur

Im Interview mit der Zeit spricht die französische Autorin Virginie Despentes, die mit ihrem ersten Roman "Baise-moi" (Fick mich) 1994 einen ordentlichen Skandal ausgelöst hatte, über ihr neues Buch "Das Leben des Vernon Subutex", über Pornografie, Michel Houllebecq, ihre Vergewaltigung mit 17 und ihre Arbeit als Prostituierte danach: "Die Gesellschaft möchte, dass ein Vergewaltigungsopfer sich total zerstört fühlt. Wenn du ein gutes Mädchen bist, musst du dich danach zerstört fühlen. Indem ich als Prostituierte arbeitete, habe ich wieder Selbstvertrauen gewonnen. Dieser Körper gehört zu mir, ich kann ihn verkaufen, wieder und wieder, und er gehört noch immer mir. Ich kann dafür einen Preis verlangen, und zwar einen ziemlich hohen. ... Außerdem behandeln Männer Prostituierte mit Respekt. Mit mehr Respekt, als sie andere Frauen behandeln. ... Wenn eine Frau leicht zu haben ist, hat niemand Respekt. Aber wenn du 1000 Euro verlangst, dann haben alle Respekt vor dir. Du bringst dich in eine Machtposition, die du sonst in der Sexualität nicht hast."

Außerdem: In der FR-Sommerserie "La Phrase" sinniert Sarah Pepin in der nicht mehr vorfindbaren Einöde von Island über Sätze von Alphonse de Lamartine. Für die Zeit spricht Katrin Hörnlein mit der Schriftstellerin Cornelia Funke über Jugendliteratur und die politische Dimension von Fantasyromanen. Für die FAZ trifft sich Tilman Spreckelsen mit dem tschechisch-amerikanischen Schriftsteller Jaroslav Kalfař, der mit "Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt" gerade sein Debüt vorgelegt hat.

Besprochen werden Arundhati Roys "Das Ministerium des äußersten Glücks" (NZZ, Tagesspiegel, SZ), Lea Singers "Die Poesie der Hörigkeit" (Tagesspiegel), Wolfgang Martynkewiczs "Tanz auf dem Pulverfass. Gottfried Benn, die Frauen und die Macht" (Tagesspiegel), Theresia Enzensbergers "Blaupause" (Standard), Simone Buchholz' Krimi "Beton Rouge" (Welt) und Eva Demskis Memoiren "Den Koffer trag ich selber" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst


Rodney Graham, Leuchtturmwärter mit Leuchtturmmodell, 2010

Vor den Leuchtkastenbildern des kanadischen Künstler Rodney Graham im Museum Burda fühlt sich ein hingerissener Hans-Joachim Müller an die besten Loriot-Jahre erinnert. Und an Cindy Sherman - schließlich ist Graham meist sein eigener Hauptdarsteller, erklärt Müller in der Welt: "Es ist, als seien die Uhren irgendwann stehen geblieben, und die Welt der Dinge und Gebräuche in ihrem überlebten Charme erstarrt. Wie bei diesem wundersamen Experten im Medienlabor: Seine Cordsamthose mit den ausgestellten Beinschäften, der Rollkragenpullover und die Föhnfrisur, der Holzschreibtisch, wie er in allen fortschrittlichen Büros stand, bevor es USM Haller gab, der Gerätewagen mit dem Röhrenbildschirm und dem VHS-Rekorder, die ausgewischten Wandtafeln, die einen an die Grundierung für ein Masterpiece des Abstrakten Expressionismus denken lassen - es ist eine perfekte Siebzigerjahrekulisse, aber sie stammt aus dem Jahr 2016."


Museumsesucherin vor Milton Avery.  Foto: Stefan Draschan

Im Art Magazin stellt der Fotograf Stefan Draschan im Gespräch mit Elif Akyüz seinen Blog "People matching Artworks" vor, für den er Betrachter vor Gemälden fotografiert: "Vor nicht langer Zeit, war ich im Archäologischen Museum in Heraklion auf Kreta. Es ist frappierend, wie gut die Kleidung asiatischer Touristinnen mit minoischen Fresken harmoniert. Im Herbst werde ich im Rahmen eines Stipendiums in der Cité des Arts sein und ein paar Monate in Pariser Museen arbeiten. Aufgrund des seriellen Charakters meiner Arbeit, kommt Material zustande, anhand dessen sich oft überraschenderweise auch soziologische Einblicke ergeben."

Weiteres: Christiane Meixner unterhält sich für die Weltkunst mit dem Künstler Andreas Mühe, dessen Arbeiten gerade im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen gezeigt werden. Sandra Danicke unterhält sich für Art mit dem südafrikanischen Fotografen Roger Ballen, der bis Juni eine große Ausstellung im Pariser Musée de la chasse et de la nature hatte. Außerdem hat Art einen Text des amerikanischen Kunstkritikers Jerry Saltz aus dem New York Magazine übersetzt, in dem Saltz einen Neustart in der Kunst fordert.

Besprochen werden die Ausstellung "Gauguin: Artist as Alchemist" Art Institute of Chicago (New York Times) und eine Werkschau des belgischen Künstlers Wim Delvoye im Museum Tinguely in Basel (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Der Countrymusiker Glen Campbell ist gestorben. Karl Bruckmaier würdigt den Verstorbenen in der SZ: Campbells Leben sei immer "sehr einseitig wahrgenommen worden: als 'Rhinestone Cowboy', als 'Strass-Cowboy', als eine Nashville-Figur im Glitzergewand. Als untoter Country-Star, der seit den frühen Achtzigern zwischen Jesus, Suff und Scheidungen taumelnd schließlich vor wenigen Jahren von einer Alzheimer-Diagnose ausgeknocked worden ist. Doch Glen Campbells schillerndes Leben ist ein Pop-Monument, wie es nur wenige zu bestaunen gibt." Weitere Nachrufe in Berliner Zeitung, FAZ und Tagesspiegel. Auf Mixcloud gibt es ein Best-Of:



Bei den Musiktagen in Hitzacker imponierte insbesondere Jean-Guihen Queyras' Darbietung von Rebecca Saunders' "Ire", schreibt Harald Eggebrecht in der SZ: "Reaktionsschnell, klangneugierig entwickelt Queyras aus der Unhörbarkeit zu Beginn ein wildes Stück: drohende Urklänge auf der um eine Oktave tiefer gestimmten C-Saite seines Cellos, Glissando-Geglitzer und Triller in allen Lebenslagen und Arten. Dazu gerät das Ensemble in Aufruhr, am Ende verraucht der in dieser Musik entfachte Zorn in die Stille der Erschöpfung."

Weiteres: Stephanie Grimm freut sich in der taz darauf, dass beim Festival Berlin Atonal auch Klangtüftler aus dem legendären BBC Radiophonic Workshop auftreten. Frank Junghänel gratuliert in der Berliner Zeitung Ian Anderson von Jethro Tull zum Siebzigsten.

Besprochen werden das Comebackalbum von Randy Newman (FR), das neue Dreampopo-Album von Michelle Zauner (SZ), ein Konzert vom Marianne Crebassa und Fazil Say (Standard) und das neue Album von Little Whirls (Jungle World).
Archiv: Musik