Efeu - Die Kulturrundschau

Enorme Distanzen in lächerlicher Kürze

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29.08.2017. Die SZ erlebt bei der sechsten Biennale im türkischen Sinop, wie die Zivilgesellschaft Widerstand leistet und was die Documenta noch lernen muss. Der FAZ fragt nach einer Prokofjew-Kantate beim "100 Jahre Kommunismus" feiernden Kunstfest Weimar mit dröhnenden Ohren: Wo bleibt die Reflexion über Revolutionskunst? Die taz lernt in einer einst von Maos Frau Tschiang Tsching in Auftrag gegebenen Modelloper, auf wie viele Arten man die Faust heben kann. Und die NZZ wünscht sich mehr Nähe zwischen Naturwissenschaft und Poesie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.08.2017 finden Sie hier

Film

Sehr durchwachsen fällt das allgemeine Fazit zum Ende der siebten Staffel des HBO-Fantasyepos "Game of Thrones" aus. Immerhin "solide Arbeit" bescheinigt Katja Belousova den Machern in der Welt. Allerdings sei der Serie die "Unvorhersehbarkeit" abhanden gekommen - was sich die Kommentatoren damit erklären, dass die Macher mittlerweile auf eigene Faust erzählen müssen, da der notorisch Deadlines reißende Autor der Vorlage, George R.R. Martin, den Abschluss der literarischen Vorlage seinen Fans seit Jahren vorenthält. Aus allen Wolken fällt daher auch Malte Göbel von der taz: Die Serie verfalle auf "konventionelles Storytelling wie in einer Vorabendserie", mancher Erzählstrang sei gar "hirnrissig." Auch Nina Rehfeld beklagt in der FAZ einen Qualitätsverfall: Die Serienautoren David Benioff und D.B. Weiss zeigen sich "nun völlig entfesselt von der sorgfältigen Charakterzeichnung und von der minutiösen erzählerischen Logik Martins: Raben und Drachen, Einzelpersonen und ganze Armeen legten enorme Distanzen in lächerlicher Kürze zurück, und manche Handlungsabläufe erschienen fast bar jeder Logik." Nur Adrian Daub von ZeitOnline hält der Serie unbeirrt die Treue des Fans.

Sehr enttäuschend findet auch Tobias Sedlmaier in der NZZ David Lynchs "Twin Peaks"-Revival - trotz einiger guter Momente. Doch "in den anderen, überwiegenden Szenen wirkt die Rückkehr nach Twin Peaks mitsamt den billigen Effekten wie der Besuch einer Geisterbahn auf dem Dorffest. ... Am enttäuschendsten ist, dass David Lynch, stets ein genauer Beobachter des modernen Amerika, intellektuell wenig zu unserer Gegenwart zu sagen hat."

Weiteres: Ulrich Lössl plaudert in der FR mit James Cameron, der seinen SF-Klassiker "Terminator 2" in diesen Tagen in einer neuen 3D-Fassung ins Kino bringt. Bei dieser Fassung dämmert es SZ-Kritiker Philipp Bovermann, dass 3D im Grunde genommen auch schon wieder ziemlich zu den Akten gelegt ist. Auf ZeitOnline berichtet Jens Balzer von dem Spaß, den er bei der Verfilmung von Sven Regeners Roman "Magical Mystery" hatte, in dem es um die Technoszene der 90er geht.Hanns-Georg Rodek würdigt in der Welt den verstorbenen Horror-Regisseur Tobe Hooper. Außerdem schreibt er einen Nachruf auf die französische Schauspielerin Mireille Darc.
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Kunst

Anders als ihre taz-Kollegin Susanne Knaul (unser Resümee) entdeckt FR-Kritikerin Inge Günther in der Ausstellung "Jerusalem lives" im neueröffneten Palästinensischen Museum in Birseit "ungewohnte Perspektiven":"Da ragt eine Himmelsleiter aus einem Käfig hoch, kreiert von Vera Tamari, Professorin für Kunstgeschichte und visuelle Kommunikation. 'Home' - daheim - nennt sie ihr Werk aus Drahtgeflecht und grünem Plexiglas, das sie als Ausbruchsversuch angesichts der fortschreitenden Übernahme palästinensischer Häuser in der Jerusalemer Altstadt durch Siedler verstanden wissen will. An anderer Stelle steht eine Moscheekuppel, nach Christo-Art verpackt wie ein verschnürtes Paket."

Mit dem Titel "Transposition" tritt die sechste Biennale im von der oppositionellen CHP regierten türkischen Küstenort Sinop nicht dezidiert politisch auf, meint Ingo Arend in der SZ und doch beweist sie die "Beharrungskräfte der türkischen Zivilgesellschaft", wie etwa die enge Zusammenarbeit zwischen deutschen Künstlern und Bevölkerung zeigt: "Farbe und Zutaten für die Kekse, aus denen der Berliner Künstler Sebastian Körbs das islamische Kachelmuster 'Girin' zu einem essbaren Installationspuzzle zusammenfügte, tüftelte er mit einem örtlichen Bäcker aus... 'Learning from' - womit sich die Documenta in Athen schwertat - bei der Sinopale gelingt es."

Bild: Martin Kippenberger. "N.S.F.T (Nudeln sind für tutti)", 1981, Öl auf Leinwand. Foto: Simon Vogel

Für den Tagesspiegel hat sich Jens Müller begeistert Arbeiten von Martin Kippenberger in der Berliner Galerie Nagel Draxler angesehen. Etwa die "Hotelpapier-Zeichnungen": "Seine Schwester bezweifelt, dass er in all diesen Hotels tatsächlich geschlafen hat. Andere vermuten, Kippenberger habe seine Bilder nur widerwillig und ganz schnell gemalt, um ihnen schöne Titel geben zu können. In dieser Schau etwa: 'N.S.F.T. (Nudeln sind für tutti)' von 1981 (150 000 Euro). Das Bild zeigt zwei Graffiti-Strichmenschen beim coitus a tergo."

Beschwingt kehrt auch Tagesspiegel-Kritiker Udo Bartelt aus der Sommerausstellung "Wir geben den Ton an" im Berliner Kupferstichkabinett zurück, die sich der Musik in der Kunst widmet.
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Musik

Mit "100 Jahren Kommunismus" beschäftigt sich das Kunstfest Weimar in diesem Jahr, dazu gab es eine Aufführung von Sergej Prokofjews "Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution für Orchester, Militärkapelle und zwei Chöre" aus dem Jahr 1937, deren Überschwang schon seinerzeit für Unbehagen bei den sowjetischen Machthabern sorgte, die das Werk kurzerhand verboten. Auch in Weimar setzte es nun einen Satz heißer Ohren, wie Christiane Wiesenfeldts Bericht in der FAZ zu entnehmen ist: "Aggressives Blech wuchtet sich mit Klangschlägen durch den Raum. Im Staccato deklamiert der große Chor melancholiefreie Revolutions-, Kriegs- und Siegesreden von Lenin und Stalin in Primitivharmonik. Zarteres Kolorit oder folkloristische Schunkelpassagen werden von brutal einsetzendem Schlagwerk inklusive Spielzeug-Maschinenpistole zum Amüsement des Publikums zerschossen." Unbehaglich findet sie die Veranstaltung dennoch: Es mangle im Kontext an "dringend nötigen reflektierenden Nuancen."

Weiteres: Christian Wildhagen besucht für die NZZ den "Erlebnistag" des Lucerne Festivals. Christoph Wagner befasst sich in der NZZ mit den Ursprüngen des American Yodelling.Ljubisa Tosic berichtet im Standard vom Abschluss des Jazzfestivals Saalfelden.

Besprochen werden ein Konzert von Markus Poschner und seinem Orchestra della Svizzera Italiana (Standard), das Konzert des Baltic Sea Harmonic beim Young Euro Classic Festival in Berlin (Tagesspiegel) und das neue Album von The War on Drugs (Welt).
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Bühne

In der taz schaut Helmut Höge die von Maos Frau Tschiang Tsching 1966 in Auftrag gegebene Modelloper "Das rote Frauenbataillon" beim Kunstfest Weimar, hier getanzt von vier Frauen des Pekinger "Living Dance Studios" von Wen Hui, mit Gewinn: "Wir, die Zuschauer der Aufführung, lernten viel über die Modellopern, wie sie jede Geste vorschrieben und auf wie viele Weisen man eine Faust heben oder zum Beispiel 'Orchideenfinger' formen muss. 'Bei der Übung mit dem Schwert wurde gesagt, dass man voller Gefühle für das Proletariat sein sollte.' Genau das Gegenteil will Wen Hui heute: 'Etwas im Körper der Darsteller entdecken, nichts erfinden' - oder vorschreiben."

Im Tagesspiegel erinnert sich der Dramatiker Marius von Mayenburg, der eine inzwischen unter anderem von Cate Blanchett, Lars Eidinger und Volker Schlöndorff unterschriebene Petition gegen die Verhaftung von Kirill Serebrennikow initiiert hat, an seine Begegnungen mit dem russischen Theaterregisseur: Wie die "großen russischen Theaterrevolutionäre weist Serebrennikow dem Theater eine klare Funktion zu. Es ist für ihn ein unbestechlicher Spiegel der Gesellschaft, auch wenn das Bild, das dabei gezeichnet wird, nicht allen Menschen angenehm ist. Die Schauspieler agieren als eigenständige Künstler, jeder von ihnen trägt die volle Verantwortung für sich selbst, seine Mitspieler und die gesamte Inszenierung. Es ist wahres Ensembletheater, wie man es nur sehr selten sieht."

Weiteres: In der taz zieht Regine Müller eine positive Zwischenbilanz der dritten, von Johan Simons kuratierten Ruhrtriennale: "Chris Dercon: Aufgepasst!" In der Berliner Zeitung hat sich Susanne Lenz mit dem syrischen Theaterautor Mohammad al-Attar getroffen, dessen "Iphigenie" Dercons erste Saison an der Volksbühne eröffnen wird.

Besprochen werden die Performance "Night Fall", die das Amsterdamer National-Ballett mit virtueller Technik verstärkt hat (SZ) und Robert Schusters Inszenierung "Malalai" beim Kunstfest Weimar (SZ).
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Design

Für die taz besucht Brigitte Werneburg die der DDR-Modezeitschrift Sibylle gewidmete Ausstellung in den Opelvillen Rüsselsheim.
Archiv: Design
Stichwörter: Sibylle, Modezeitschriften

Literatur

Dass Naturwissenschaftler zu Poesie und Dichtung eher auf Distanz gehen, hält der Neurowissenschaftler Ernst Pöppel für keinen bewahrenswerten Zustand. "In der Dichtung finden wir häufig Darstellungen eines impliziten Wissens und der Intuition, die hohen wissenschaftlichen Wert haben und neue Fenster für potenzielle Entdeckungen aufstoßen", schreibt er in der NZZ. "Wenn sie mit einem offenen Geist gelesen (oder noch besser, gesprochen) wird, kann die Dichtung als eine Brücke, eine mühelose Verbindung zwischen den verschiedenen Kulturen dienen."

Weiteres: Für die FR hat Arno Widmann die Beerdigung des Verlegers Egon Ammann besuchtSchriftsteller Christoph Höhtker berichtet in der NZZ von einer Busreise durch Genf. Reinhard J. Brembeck sucht für die SZ das Sommerhaus von Federico García Lorca in Granada auf.

Besprochen werden Elena Ferrantes "Die Geschichte der getrennten Wege" (online nachgereicht von der Zeit), Pia Tafdrups Gedichtband "Tarkowskis Pferde" (FR), die Wiederveröffentlichung von Leonard Gardners Boxerroman "Fat City" von 1969 (SZ), Ijoma Mangolds "Das deutsche Krokodil - Meine Geschichte" (Tagesspiegel), Jana Hensels "Keinland" (Tagesspiegel), Ronen Steinkes "Der Muslim und das Mädchen - Die Geschichte einer Rettung in Berlin" (taz) und Virginie Despentes' "Das Leben des Vernon Subutex" (FAZ).

Außerdem bringt Arte eine tolle Interview-Webserie mit Comicmeister Alan Moore.
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