Efeu - Die Kulturrundschau

Ich will's, und Es geht

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04.09.2017. Die FR geht noch einmal mit Matthias Koeppel in die Berliner Schule der Prächtigkeit. In der FAZ erklärt der Uffizien-Direktor Eike Schmidt, warum er nicht länger Chef eines Supermarkts sein möchte. Die taz eruiert, welches Bild Choreografen eigentlich von ihrem Publikum haben. Mit leichtem Entsetzen sehen die Kritiker in Venedig Filme von Ai Weiwei und George Clooney. Die Berliner Zeitung freut sich über das Comeback der Cordhose.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.09.2017 finden Sie hier

Kunst


Matthias Koeppel: Neavenezia, 2015/17. Bild: Kommunale Galerie

Gleich zwei Ausstellungen, in der Kommunalen Galerie und der Zitadelle Spandau, feiern in Berlin den Maler Matthias Koeppel, der in diesem Jahr achtzig wird und ungebrochen die "Schule der Neuen Prächtigkeit" fortsetzt. In der FR lässt sich Ingeborg Ruthe noch immer gern von ihm provozieren: "Der Himmel ist Folie für hintergründigen Humor, als kontinuierliche Überprüfung politischer, sozialer und kultureller Verhältnisse. Koeppel wurde so zum Chronisten Berlins, liebevoll, oft ironisch, manchmal ätzend wie ein Satiriker. Häufig ist er selber im Bild, das Hintergründige seiner Themen hingegen ist nicht selten verschlüsselt. Der Berliner Bus, die Cola-Dose, der Fernseher sind seine Signaturen. Das Werk oszilliert zwischen moderner Historien- und realistisch gebrochener, romantischer Stimmungsmalerei."

Italien ist empört, dass der Uffizien-Direktor Eike Schmidt nach nur zwei Jahren zu den Kunsthistorischen Museen nach Wien wechselt. Im FAZ-Interview beklagt er dagegen Verkrustungen, Bürokratie und Arroganz: "Lange wurde gedacht: Wir haben so viele Besucher, die kommen ohnehin, schade, dass es solche Massen sind, aber wir nehmen ihr Geld und kümmern uns ausschließlich um die Kunst. Das war ein etwas hochnäsiges Herangehen, das den Besucher außen vor ließ. Wenn man so viel Geld wie möglich machen und damit möglichst wenig investieren will, führt man ein Museum wie einen Supermarkt." Auch der Standard zeigt sich etwas überrumpelt.

Einst produzierte VW in Emden, heute verschifft es von dort nur noch seine Autos nach Übersee. Mit der Ausstellung "Das Auto in der Kunst" in der Emdener Kunsthalle, meint Till Briegleb in der SZ, vergeht einem der letzte Rest Freude am Auto: "Die versammelten Künstlerkommentare zu dieser rasenden Leidenschaft lassen sich eigentlich auf einen Nenner bringen: Autofahren ist heute so hip wie Rauchen."
Archiv: Kunst

Literatur

Die FAZ dokumentiert Thomas Melles Dankesrede zum Stadtschreiberamt von Bergen-Enkheim. Darin umkreist er die Frage nach Authentizität, Wahrhaftigkeit und Formgestalt von Literatur und beschreibt damit, wie er, zur Schilderung seiner eigenen manisch-depressiven Erkrankung, in "Die Welt im Rücken" zum "geraden Satz" zurückfinden musste: "Es war eine Synthese gefragt, ein Dennoch-Erzählen, ein neuer Versuch, Realismus zu wagen, mit dem Wissen um Begrenztheiten, aber mit den Direktiven: Ich will's, und Es geht."

Weiteres: Sieglinde Geisel schreibt in der NZZ zum Tod des US-Lyrikers John Ashbery. Im Deutschlandfunk Kultur unterhält sich René Aguigah in der neuen Sendereihe "Gegenwart Lesen" mit Zeit-Literaturchef Ijoma Mangold über dessen Buch "Das deutsche Krokodil".

Besprochen werden eine Ausstellung über August-Wilhelm Schlegel im Goethe-Haus in Frankfurt (FR), Gerald Murnanes "Die Ebenen" (SZ), Zadie Smiths "Swing Time" (taz), Anuk Arudpragasams "Geschichte einer kurzen Ehe" (FR) und neue Kriminalromane, darunter Ottessa Moshfeghs "Eileen" (FAZ). Außerdem bringt Deutschlandfunk Kultur die Krimibestenliste für September, an deren Erstellung auch unsere Krimi-Kritikerin Thekla Dannenberg beteiligt ist.
Archiv: Literatur

Design

Cord, den man in freier Wildbahn lange Zeit bloß an Körpern ihrer Pensionierung entgegen sehender Lehrer runterhängen sah, erlebt derzeit ein Comeback in der Modewelt, freut sich Marcus Weingärtner in der Berliner Zeitung. Denn: "Sein dröges Image hat der Stoff vollkommen zu Unrecht. ...  Cord ist eine erotische Angelegenheit, er hüllt seinen Träger in einen festen Stoff, der gleichzeitig so nachgiebig ist, dass er das Bein oder eben die Silhouette des Trägers oder der Trägerin sanft umspielt."
Archiv: Design
Stichwörter: Mode, Cord

Musik

Alle fünf Prokofjew-Konzerte an einem Abend, gespielt von den drei Solisten Behzod Abduraimov, Daniil Trifonov und Sergei Redkin, begleitet vom Mariinsky-Orchester unter Valery Gergiev - für NZZ-Kritiker Felix Michel ein lohnenswertes Konzert, das sich ihm da beim Lucerne Festival bot. Insbesondere Trifonov konnte ihn beim zweiten Konzert überzeugen: "Mit einer Lust sondergleichen stürzt er sich auf jede Gelegenheit, seiner Exzentrik die Zügel schießen zu lassen. Sei es eine metrische Finesse, sei es eine spannungsvolle Mittelstimme: Trifonov hebt es effektvoll und sinnig hervor, wobei in der irrwitzigen ersten Kadenz sogar einmal Tastenholz-Späne fallen können."

Zuvor gab Gergiev mit seinem Mariinsky-Orchester einen Mussorgsky-Abend, nach dem NZZ-Kritiker Thomas Schacher allerdings eher enttäuscht nach Hause geht: "Vieles klingt einfach unausgegoren, wenig profiliert und rhythmisch unpräzise."

Weiteres: Für die Welt hat Manuel Brug William Christies musikalisches Arkadien in der französischen Provinz besucht. Corina Kolbe stattet für die NZZ Claudio Abbados künstlerischem Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek einen Besuch ab und staunt dabei über die "Detailgenauigkeit", mit der der 2014 verstorbene Meisterdirigent seine Bestände erarbeitete und durchdrang. Sonja Vogel erzählt in der taz die Geschichte von Turbofolk, einer Musik, die im damaligen Jugoslawien zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Landes populär war und jetzt ein Comeback erfährt.

Besprochen werden das Comebackalbum von Grizzly Bear (FR), ein Coltrane-Programm von Christof Langer (FR), das beim Rheingau Musik Festival vorgestellte "Brandenburg Project" des Schwedischen Kammerorchesters (FR), ein Berliner Konzert von Anna Netrebko (Tagesspiegel), ein Konzert von Moderat (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), der Auftakt von John Eliot Gardiners Monteverdi-Trilogie beim Musikfest Berlin (Tagesspiegel, Berliner Zeitung) und ein Auftritt von Robbie Williams (NZZ).
Archiv: Musik

Bühne


Eszter Salamon: "Monument 0.4: Lores & Praxes (a ritual of transformation)". Foto: Lisa Rave /Tanz im August

Am Ende des Festivals "Tanz im August" in Berlin fragt sich Astrid Kaminski in der taz auch, was für ein Bild die ChroregrafInnen eigentlich vom Publikum haben: "Sind wir Masse? Subjekte? Haben die Performerinnen das für uns geklärt? Haben wir das für uns geklärt? Im Magazin des Festivals heißt es in einem Beitrag über die Kriegstänze der Choreografin Eszter Salamon: 'Das Publikum wird mit seiner eigenen Ignoranz und seinem Konformismus konfrontiert, die stets miteinander einhergehen.' Ignorant und konformistisch, das ist zumindest mal eine Ansage."

Hannover hat seine Opernsaison mit Hans Werner Henzes "Der junge Lord" eröffnet". In der FAZ sieht Jürgen Kesting von Bernd Mottls Inszenierung sehr schön gezeigt, "dass in der 1965 in Berlin uraufgeführten Satire über bundesrepublikanischen Biedersinn mehr Bitterstoffe stecken als geahnt".

Besprochen werden Katharina Rupps Inszenierung von Fritz Hochwälders fast vergessenem Stück "Das heilige Experiment" am Theater Biel Solothurn (Nachtkritik) und die Adaption von Ernst Lothars Roman "Der Engel mit der Posaune" im Wiener Theater in der Josefstadt (Standard).
Archiv: Bühne

Film


Julianne Moore und Matt Damon in George Clooneys "Suburbicon"

Die Kritiker reisen beim Filmfest in Venedig mit George Clooneys und den Coen-Brüdern zurück in die USA der Fünfziger. Eine Parabel auf den wiedererstarkenden Rassismus in den USA sieht taz-Kritiker Tim Caspar Boehme in dem mit Matt Damon und Julianne Moore prominent besetzten Film "Suburbicon". Dennoch: "Irgendwas stimmt nicht mit dem Film. Womöglich erfreut er sich, bewusst oder unbewusst, stärker an seinem eigenen Zynismus, als ihm guttut." Eine "grimmige Krimikomödie" hat Susan Vahabzadeh von der SZ erlebt, jedoch: "Die physische Brutalität fällt bei Clooney viel harmloser aus, als man es bei den Coens erwarten würde, ansonsten hat er den Stoff noch viel härter gemacht." Der Film sei schon jetzt der "bedeutungsloseste Film" des Festivals, ätzt Hanns-Georg Rodek in der Welt. Michael Pekler vom Standard stößt sich an der "stereotypen Ausmalung". Weitere Besprechungen von Susanne Ostwald (NZZ) und Christiane Peitz (Tagesspiegel). Außerdem sah Peitz Helen Mirren in der Komödie "The Leisure Seeker" und Judi Dench im Melodram "Victoria & Abdul".

Von argen Problem mit Ai Weiweis Flüchtlingsdoku "Human Flow" berichtet Dietmar Dath im Festivalblog der FAZ: Der chinesische Künstler rücke den sichtlich strapazierten Leuten impertinent auf die Pelle und erkläre fortlaufend sich selbst zum eigentlichen Zentrum des Films und sei es durch ständige Anwesenheit im Bild. "Man mache das Gedankenexperiment: Wenn in diesem Film, in dem so viel Richtiges und Wackeres und Notwendiges gesagt und gezeigt wird, an jeder Stelle, die in expliziter Form Werbung für Ai Weiwei macht, stattdessen Werbung für Coca Cola gemacht würde, fände man den Film dann nicht einfach zum Speien?" Auch Rüdiger Suchsland von Artechock befällt ein gewisses Unbehagen angesichts einer "unsäg­lichen Selbst­in­sze­nierung" und mangelnden Selbstreflexion: "Dazu sind die Bilder viel zu schön, viel zu lackiert, alles hält uns wohlig auf Distanz, nichts scho­ckiert, bedrängt, hallt unan­ge­nehm nach. Ein Film, den man gut konsu­mieren kann."

Weiteres: Sehr beeindruckt zeigt sich Arno Widmann in der Berliner Zeitung von den Dokumentarfilmen des Chinesen Hu Jie, die im Rahmen der zweiwöchentlichen Filmvorführungen des Chinaclubs Berlin gezeigt wurden. Die FAZ dokumentiert Verena Luekens Laudatio auf Heide Schlüpmann und Karola Gramann, die mit der Frankfurter Kinothek Asta Nielsen die Erinnerung an Filme von Frauen wachhalten. Der Tagesspiegel bringt mit einem Text der Historikerin Elissa Mailänder über die Propagandafilme der UFA einen Auszug aus einem Band anlässlich des 100-jährigen Bestehens des deutschen Filmkonzerns. Besprochen wird die auf einer Novelle von Stephen King basierende Netflix-Serie "The Mist", die Katja Belousova das Ende des Golden Age of Television kommen sehen lässt (Welt).
Archiv: Film