Efeu - Die Kulturrundschau

Da, an zweiter Stelle, stehe ich!

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12.09.2017. Chris Dercon ließ zu seinem Einstand Boris Charmatz ein großes Tanzfest auf dem Tempelhofer Flugfeld veranstalten. Schön und versöhnlich fanden das taz und SZ. Auch die Welt wippte mit: Sie kennt Ähnliches von ihrer Krankenkasse. Im Tagesspiegel wünschte sich Arundhati Roy die Sicherheit einer indischen Kuh. Die taz bewundert in der Darmstädter Ausstellung "Zoom-In Chongqing" fröhliche Bauern mit meterdicken Kartoffeln.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.09.2017 finden Sie hier

Bühne


Fous de Danse in Berlin. Foto: Nyima Leray

Chris Dercon
ist längst nicht mehr die "coole Sau", als die er die Berliner Volksbühne übernehmen wollte, sondern "dünnhäutig, irritiert und fast ein wenig schutzlos", meint Dorion Weickmann in der SZ, findet aber den Einstand mit Boris Charmatz' Tanzfest auf dem Tempelhofer Flughafen geglückt: "'Fous de danse' verführte die ewig miesepetrige Hauptstadt sehr erfolgreich zu Amüsement und Kunstteilhabe." Und jetzt? "Auf Dercons erster Spielzeit lastet enormer Druck, das Leitungsteam steht unter Dauerbeobachtung. In Berlin kann daraus jederzeit Dauerbeschuss werden. Zumal das Aufgebot an renommierten Beiträgern von Tino Sehgal bis Susanne Kennedy nicht darüber hinweg tröstet, dass die Zahl der Schließtage zu hoch, das Programm über den Januar hinaus noch gar nicht bekannt ist. Aber einstweilen haben Dercon und Piekenbrock mit 'Fous de danse' ein versöhnliches Zeichen gesetzt. Darüber sollte niemand hinwegtrampeln."

"Es war ein schöner Tag", versichert Katrin Bettina Müller in der taz. Und nicht sinnfrei, sekundiert in der Berliner Zeitung. In der FAZ berichtet Simon Strauss vom "Tag der offenen Tanztür", im Standard Helmut Ploebst, und in der Nachtkritik fragt Elena Philipp: "Be bunt. Be beliebig. Be Volksbühne Berlin? Jein." In der Welt sieht Eckhard Fuhr allerdings die revolutionäre Rhetorik der Veranstaltung - lebendige Körper gegen toten Asphalt - ins Leere laufen: "Schon die rüstigen Greise, die zahlreich nach Tempelhof gepilgert waren, haben dieses Programm verinnerlicht, das in Woodstock, im Club Med und im Kundencenter der BEK geschrieben wurde und allgegenwärtig ist. Ganz Berlin tanzt. Aber nicht, weil es sich befreien will oder weil es befreit werden müsste, sondern weil es völlig einverstanden ist mit sich."


Christopher Nell (Puck), Johannes Krisch (Oberon), Elisabeth Augustin (Feld-, Wald- und Wiesengeist), Stefanie Dvorak (Titania). Foto: Reinhard Werner/Burgtheater

Als wunderbar, unmäßig und urkomisch feiert Ronald Pohl im Standard Leander Haußmanns Inszenierung von Shakespeares "Sommernachtstraum" am Wiener Burgtheater, die in der "Utopie der reinen Menschenliebe" gipfelt: "Unter allseitigen Umarmungen fällt die Last des Eros ab, und Haußmann, der gutgelaunte Melancholiker, schließt sein geliebtes Stück ein weiteres Mal in die Arme." In der Nachtkritik zeigt sich Gabi Hift etwas geplättet: "Was für eine Männerwirtschaft, was für glorreiche Momente, wieviel banaler Blödsinn."

Besprochen werden außerdem Stefan Puchers Inszenierung von Molières "Tartuffe" am Hamburger Thalia Theater (SZ, FAZ), Christof Loys Inszenierung von Verdis Oper "La forza del destino" in Amsterdam (FAZ) und Werner Sobotkas Inszenierung des Broadway-Klassikers "Gypsy" an der Wiener Volksoper (Standard).
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Literatur

Im Tagesspiegel unterhält sich Barbara Nolte mit der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy. Unter anderem geht es darum, wie gefährlich es in Indien ist, sich gegen die hindu-nationalistische Regierung zu positionieren. So ist etwa die Reporterin Gauri Lankesh vor kurzem erschossen worden. "In Indien ist es sicherer, eine Kuh zu sein als eine Frau. Hier, auf Twitter, kommentiert einer dieser rechten Nationalisten den Mord an Lankesh: 'Kein bisschen Mitleid mit dieser Schlampe. Sie hätten ihren Körper mit Kugeln durchsieben sollen', schreibt er. Darunter setzte er einige Namen, die 'jetzt an die Spitze der Liste' gehörten. Sehen Sie, da, an zweiter Stelle, stehe ich! ...  Der Tweet wirft ein Schlaglicht auf das gesellschaftliche Klima in Indien. Solche Tweets kursieren zu Tausenden."

In der NZZ huldigt Roman Bucheli Georges Perecs rätselhaftem Traumbuch "Die dunkle Kammer", dessen Veröffentlichung Perec angeblich bereut und das Jürgen Ritte nun ins Deutsche übertragen hat: "Schmuckloser könnte ein Buch nicht sein. Widersprüchlicher allerdings auch nicht. Sind das nun Träume, die Georges Perec zwischen Mai 1968 und August 1972 aufgezeichnet hat, fein säuberlich nummeriert von 1 bis 124? Oder sind es imaginierte Träume? Bald sind es nur Fetzen, die Perec niederschreibt, bald sind es ganze Szenen, die sich zu kleinen Geschichten entwickeln. Nicht selten sind es, was sonst, Albträume."

Weiteres: Beim Literaturfest in Berlin stellte auch die österreichische Comicautorin Ulli Lust ihre neue Arbeit "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein" über ihre Jahre als Anarchistin in den 90ern vor, berichtet Annika Glunz in der taz. Alexander Diehl porträtiert in der taz den Schriftsteller Eliot Weinberger. Lutz Göllner (Tagesspiegel) und Holger Kreitling (Welt) schreiben zum Tod des Comiczeichners Len Wein.

Besprochen werden Elena Ferrantes "Die Geschichte der getrennten Wege" (SZ), Sasha Marianna Salzmanns "Außer sich" (Berliner Zeitung), Marion Poschmanns "Die Kieferninseln" (FR), Mariana Lekys "Was man von hier aus sehen kann" (FR) und James Pattersons Thriller "The Store", der sich eine dystopische Zukunft ausmalt, in der ein Online-Buchhändler eine Überwachungsdiktatur eingerichtet hat (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Die Musikindustrie reagiert skeptisch auf das Angebot von Facebook, es den Nutzern des Netzwerks gegen eine Auslöse von "hunderten Millionen Dollar" zu gestatten, urheberrechtlich geschützte Songs in Videos hochzuladen, berichtet Jens-Christian Rabe in der SZ. Nana Heymann berichtet im Tagesspiegel von ihrer Begegnung mit dem Rapper Rin (mehr über ihn hier). Breitbart und Co. versuchen derzeit, Taylor Swift für die extreme Rechte zu vereinnahmen, berichtet Julia Bahr in der FAZ.

Besprochen werden Neil Youngs bereits im Jahr 1976 aufgenommenes Album "Hitchhiker" (Pitchfork), das neue Album von The National (Berliner Zeitung), das Konzert von MusicAeterna beim Musikfest Berlin (Tagesspiegel), Alex Camerons neues Album "Forced Witness" (SZ) und das neue Album von Mount Kimbie (Pitchfork).

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Kunst

Die spontan entwickelte Schau "Zoom-In Chongqing" in der Kunsthalle Darmstadt zeigt Arbeiten der Kunsthochschule Sichuan Fine Arts Institute. Von der Fülle überwältigt, verzeiht Katharina Cichosch in der taz die fehlenden Erläuterungen: "Nur eine Auswahl: Fröhliche Bauern mit meterdicken Kartoffeln, beeindruckende Blütenteppiche, eine verwackelte Halsverlängerung, Wetterphänomene am Himmel, fotorealistische Motive von kühler Eleganz, grafische Farbflächen. Ästhetisch vertraut die Bildsprache der fünf ausgestellten Videoarbeiten: Poetische Dokumentaraufnahmen vom gesichtslosen Fischer im Eismeer sind dabei, eine Bild-Ton-Schere marschierender Garden zu während der Kulturrevolution verbotenem Liedgut, und auch Hui Taos lakonischer Monolog einer Kopftuch tragenden Frau, gespielt von ihm selbst, die ihren Körper biologistisch-detailliert erörtert." (Still aus Hui Tao, Talk about Body, 2013).


Regina Schmeken: Enver Şimşek (38), 09.09.2000 Nürnberg. Martin-Gropius-Bau

Für die NZZ besucht Bettina Maria Brosowsky über die Fotoaustellung "Topografien des NSU Terrors" im Berliner Gropiusbau, für die die Fotografin Regina Schmeken großformatige Schwarzweißaufnahmen von den Schauplätzen der NSU-Morde gemacht hat: "Schmeken ist sich der Gratwanderung ihrer Arbeit bewusst. Sie erzählt, dass sie anfangs den Kontakt mit den Familien der Opfer bewusst mied. Am Boden liegend, von Blut überströmt, wurden die Ermordeten stets aufgefunden. Daraus entwickelte sie ihre Bildstrategie: Viele Fotografien sind in ungewöhnlich tiefer Untersicht angelegt, oft als Weitwinkelaufnahme. Alle zeigen sie triste Topografien ohne direkten Hinweis auf ein Verbrechen, mit banalem Alltagsgeschehen rundherum."

Martin Parr, selbst Magnum-Fotograf und Autor zahlreicher Fotobücher, hat durch sein dreibändiges Kompendium "The Photobook: A History" entscheidend dazu beigetragen, dass das Fotobuch als künstlerisches Medium wahrgenommen wird. Das British Journal of Photography meldet jetzt, dass die Tate Modern Parrs 12.000 Bände starke Fotobuchsammlung kauft: "Dieser Erwerb macht die Tate zur führenden Institution in der Welt, was die Darstellung von Fotobüchern angeht."

Besprochen werden die Biennale für aktuelle Fotografie "Farewell Photography" in Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen (SZ), das Künstlerinnen-Projekt "Goldrausch 20" im Kunstquartier Bethanien (Tagesspiegel) und Wenzel Habliks "Expressionistische Utopien" im Berliner Gropiusbau (FAZ).
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Film


"In den letzten Tagen der Stadt" von Tamer El Said

Tamer El Said ist mit seinem Film "In den letzten Tagen der Stadt" ein Meisterwerk gelungen, staunt Philipp Stadelmaier in der SZ. Es geht um einen Filmemacher, der am Vorabend der Ägyptischen Revolution in Kairo einen Film drehen will, aber mit der Situation hadert. Die Dreharbeiten selbst fanden vor den Ereignissen am Tahrir-Platz statt: Damit ist der Film "auch ein Dokumentarfilm über eine bestimmte Zeit in der ägyptischen Geschichte. Er zeigt einen Filmemacher, der mit seinem Film kämpft, nicht aus Überdruss und Schaffenskrisen, wie wir das von Selbstbespiegelungen westlicher Regisseure kennen, sondern weil die Welt, in der er lebt, komplex und chaotisch ist." Zur Berlinale 2016 hatten wir den Film in unserem Festivalblog besprochen.

Mit seiner zweiten Doku über Klimaschutz "Immer noch eine unbequeme Wahrheit" macht der ehemalige amerikanische Vizepräsident Al Gore einen entscheidenden Fehler, schreibt Ingo Arzt in der taz. Zwar stimme es schon, dass man Leute mit der guten Botschaft weniger über nüchterne Fakten, sondern über Emotionalisierung erreicht. Doch "wer nicht glühender Anhänger ist, der ist nach einer halben Stunde von den Al-Gore-Festspielen schlicht genervt".

Außerdem melden die Presseagenturen, dass der libanesische Regisseur Ziad Doueiri, dessen Drama "The Insult" bei den Filmfestspielen Venedig gefeiert und mit einem Preis ausgezeichnet wurde, bei seiner Rückkehr aus Italien am Flughafen verhaftet wurde, da ein früherer Film von ihm in Israel und mit israelischen Darstellern entstanden ist. Die Vorwürfe wurden nach einem drei Stunden langen Verhör jedoch fallengelassen.

Weiteres: Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Regisseurs Nobert Kückelmann. Besprochen wird David Simons neue HBO-Serie "The Deuce" (FR).
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