Efeu - Die Kulturrundschau

Im Gestrüpp der Wege und Abwege

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2017. Die SZ erlebt in Moskau, wie der Todesengel dem Regisseur Kirill Serebrennikow glühende Kohlen in die Brust legt. In Berlin geht der Streit um Chris Dercon in eine neue Runde, doch der Tagesspiegel findet die Vorwürfe des Spiegels zum Wirtschaftsplan schlecht recherchiert. Im Standard untersucht Andreas Maier mit Blick auf Thomas Bernhard die Unterschiede zwischen deutschen und Österreichern. Die FAZ erlebt beim Filmfestival von Toronto ein großes Liebespaar und Helene Hegeman in der NZZ die Welt auf der Kippe.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.09.2017 finden Sie hier

Bühne

In Moskau hat der russische Regisseur Kirill Serebrennikow trotz seiner Verhaftung ein neues Stück herausgebracht, berichtet Julian Hans in der SZ, und man konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es mit Puschkin von der Inspiration erzählte oder einem Überfall des FSB: "In einem russischen Bahnhofsbistro. Wartebänke, müde Passagiere, in einer Vitrine Sandwiches in Frischhaltefolie. Da tritt der Seraph in den Raum, bleich und furchteinflößend wie ein Todesengel, packt einen der Anwesenden, schmettert ihn zu Boden. 'Und er schnitt mir die Brust mit dem Schwert auf und nahm das zuckende Herz heraus und legte mir glühende Kohle in die Brust.' Was Alexander Puschkin in seinem 'Prophet' als Metapher für die Inspiration des Künstlers schrieb, inszeniert Kirill Serebrennikow 200 Jahre später wörtlich und brutal. Das zuckende Herz landet in der Vitrine des Bistros zwischen den Sandwiches. Der Dichter zerschmettert, die Umstehenden teilnahmslos."


Jussi Myllys in "Lucio Silla" am Theater basel. Foto: Sandra Then
 
In seiner Inszenierung von Mozarts Oper "Lucio Silla" im Theater Basel stilisiert Hans Neuenfels die Figur des römischen Diktators Luvio Silla zum aufgeklärten Herrscher und großen Verzeihenden. Das setzt er mit der für Neuenfels typischen surrealistischen Ironie um, begeistert sich Christian Wildhagen in der NZZ: "Wo der alles und jedem verzeihende Titus bei Sellars mehr und mehr Christus-ähnliche Züge annimmt, changiert die Milde des Silla bei Neuenfels zwischen Ennui und Resignation. Schon früh im ersten Aufzug hat die Inszenierung obendrein den wunden Punkt des Diktators offengelegt: Seine Allmacht ist eine Illusion, er wird selber beherrscht von der Lust. Da er bei der angebeteten Giunia, der Tochter seines getöteten Widersachers Marius, nicht landen kann, befriedigt er sein übermächtiges Verlangen regelmäßig in einem Kabinett mit einer mannshohen Vulva."

Am Wochenende attackierte der Spiegel den Volksbühnenchef Chris Dercon und warf ihm etwa vor, in seinem Wirtschaftsplan für 2018 sämtliche Stellen für "Regie und Dramaturgie" zu streichen. Schlecht recherchiert nennt das Christiane Peitz im Tagesspiegel und kontert: "Bisher gab es unter den Stichworten Dramaturgie, Regie und Produktion insgesamt 16,75 Stellen, ab 2018 sind sie neu unter 'Programm' und 'Produktion' sortiert, mit insgesamt 21 Stellen für Dramaturgen, Regieassistenten, Kuratoren und Programmmacher. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Schwund, sondern einen Aufwuchs." Ulrich Seidler sieht das in der Berliner Zeitung ähnlich, aber zum Beispiel bei den Schauspielerstellen nicht ganz so unproblematisch: "Dass nun die unbesetzten 15 Stellen einfach gestrichen werden, ist mehr als buchhalterische Hygiene."

Besprochen werden Wagners "Parsifal" unter Kent Nagano und Achim Freyer in Hamburg ("Nagano lässt das Orchester so schlicht aufspielen, wie das für erwachsene Musiker möglich ist", schreibt Helmut Mauró in der SZ, FAZ), Jahn Gehlers Theaterfassung von Fatma Aydemirs Coming-of-Age-Geschichte "Ellbogen" am Schauspiel Düsseldorf (taz), das Musical "I Am from Austra" im Wiener Raimund-Theater (Standard), ein Gustav-Meyer-Abend im Theater an der Gumpendorfer Straße/ TAG (Standard), Mpumelelo Paul Grootbooms Theater-Krimi "Die Nacht von St. Valentin" (Nachtkritik), Ulrich Rasches entmoralisierter "Woyzeck" in Basel ("Militaristische Geisterbahnstimmung à la Rammstein", verspürte Simon Strauß in der FAZ) und Tom Stoppards Philosophiekomödie "The Hard Problem" am Staatstheater Wiesbaden (FAZ).
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Kunst


Heba Amin: Wir werden immer oben leben. Bild. Biennale Istanbul

Sehr smart agieren Michael Elmgreen und Ingar Dragset als Kuratoren der Istanbul Biennale und umschiffen geschickt alle heiklen Punkte. SZ-Kritikerin Catrin Lorch hätte es besser gefunden, wenn sich die internationale Kunstszene einer solchen Inszenierung entzogen hätte: "Denn gerade die Beschwörung der Normalität ist das Gefährliche: Wer im Westen von Galerie-Schließungen und der Abwanderung von Künstlern nach Berlin in den Medien liest, ist erstaunt, wie vital die Szene in Istanbul wirkt. Tatsächlich hinterlassen die Künstler, die Galeristen, die Kritiker und Kuratoren, die abwandern, kaum eine Lücke. ... Es gibt wenige Momente, in denen Kritik in all dem Trubel überhaupt gehört worden wäre - die 15. Istanbul Biennale wäre eine Gelegenheit gewesen."

Weiteres: Christian Meixner bilanziert im Tagesspiegel die Berlin Art Week vom Wochenende.
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Literatur

Im Standard denkt der Schriftsteller Andreas Maier über österreichische und deutsche Perspektiven auf Thomas Bernhard nach. Die Österreicher haben es sich demnach mit dem einst umstrittenenen Skandalautor kommod gemacht: "Man lacht immer wieder aufs Neue über das, worüber man zu lachen sich ab den Achtzigerjahren bei Thomas Bernhard gewöhnt hat, als die größere Bekanntheit kam und ganz schnell aufgeräumt wurde mit dem dunklen, düsteren, gefährlichen Bernhard." Und die Deutschen? Für die ist der einst verrufene Bernhard so kompatibel geworden, "wie es früher die Bücher Hermann Hesses waren (oder erdulden mussten). Die Deutschen changieren immer irgendwo zwischen Auskotzen und dem Wunsch nach umfassender Lebensberatung und holen beides meist bei Ausländern."

Arno Widmann hat sich für die FR mit Arundhati Roy zum Gespräch über deren neuen Roman "Das Ministerium des Äußersten Glücks" getroffen. Zu den "Schönheiten Indiens" (auf die hässlichen Seiten kommt sie ebenfalls zu sprechen) zählt für sie das Sprachengewimmel auf Delhis Straßen: "Ich wollte ein Buch schreiben, das wie eine Stadt ist. Da wird etwas geplant und dann wird es doch ganz anders. Da gibt es ganz übersichtliche Hauptstraßen, aber interessant wird es doch erst im Gestrüpp der Wege und Abwege. Immer ist jemand neben ihnen. Sie hören ihn. Ruhe und Konzentration sind seltene Momente. Darum desto schönere. Aber reizvoll ist doch auch das Gebraus, die vielen Stimmen einer Großstadt, in der Menschen aus der ganzen Welt zusammenkommen. Auch Touristen mit 'sank you'."

Weiteres: Schriftsteller Arnon Grünberg berichtet im Standard von seinen Experimenten als Ersatzvater. In der Berliner Zeitung plaudert André Boße mit Ken Follett über dessen neuen, ziegelsteindicken Historienroman "Fundamente der Ewigkeit". Im Deutschlandfunk-Feature befasst sich Lorenz Schröter mit der deutschen Popliteratur seit den 80ern. Die SZ dokumentiert Ingo Schulzes bei den "Darmstädter Gesprächen" gehaltene Rede zum Thema "Warum mich die Frage umtreibt, ob wir so gut leben, weil die anderen so schlecht leben".

Besprochen werden Robert Menasses für den Buchpreis nominierter Roman "Die Haupstadt" (Tagesspiegel), Mosche Ya'akov Ben-Gavriêls Tatsachenroman "Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße" (Standard), Tina Brenneisens Comic "Das gelbe Pony" (Tagesspiegel), G. B. Trudeaus Comic "Trump! Eine amerikanische Dramödie" (taz) und neue Hörspieler, darunter die Bayern2-Adaption von Virginia Woolfs "Der Leuchtturm" (FAZ, hier zum Online-Nachhören).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Martin Lüdke über Kenneth Patchens Gedicht "An der Straßenecke":

"Im nächsten Jahr wird die Erde uns bedecken.
Jetzt stehen wir hier und sehen den Mädchen,
die vorbeikommen, nach und lachen;
..."
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Architektur

In der FR schreibt Christian Thomas zum Tod des Architekten und Stadtplaners Albert Speer: "Seine Rastlosigkeit als Stadtplaner war nicht zu bewältigen ohne eine immense Beweglichkeit. Immerzu mobil. Doch hatte Albert Speer zur Mobilität ein kritisches Verhältnis. Mobilität, heißt es in einem der Bücher, die über ihn und sein Büro veröffentlicht wurden, erzeuge Stillstand." In der taz vermutet Klaus Englert hinter Speers Arbeit auch die Triebfeder, "die Städte von den monströsen Planungen des Vaters zu heilen und menschengerechter zu planen". Niklas Maak nennt ihn in der FAZ einen "Baumeister der Demokratie".
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Stichwörter: Speer, Albert, Mobilität

Musik

Klaus Kalchschmid berichtet in der SZ vom ARD-Musikwettbewerb. Für die Jungle World hat sich Arne Hartwig in der albanischen Musikszene umgesehen.

Besprochen werden eine Aufführung von Mahlers Fünfter in München (SZ), ein Pfitzner- und Bruckner-Abend der Berliner Philharmoniker unter Marek Jankowski (Standard), ein Auftritt von Tori Amos (FR), ein Konzert von Diana Krall (FR, SZ) und das Konzert der Rolling Stones im österreichischen Spielberg (Standard).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Birte Förster über Maximo Parks "Apply some Pressure":


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Film

Mit "Confederate" plant HBO eine Serie über einen alternativen Geschichtsverlauf, in dem die Südstaaten erfolgreich aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen sind. Amazon plant unterdessen eine Serie namens "Black America", in dem die einstigen Sklaven sich von den USA separiert und im Süden eine eigene Nation gegründet haben. In den Augen von Zeit-Autor Patrik Schmidt scheint sich in solchen Versuchen, die amerikanische Geschichte fiktional umzuschreiben, auch "ein fundamentaler Dissens zu offenbaren, der die Züge einer großen Verunsicherung trägt: Es ist, als wisse das Land nicht mehr so recht, was seine Geschichte eigentlich gewesen ist."


Ivana Mladenovic' "Soldiers"

Bert Rebhandl resümiert in der FAZ das Filmfestival in Toronto, wo er insbesondere auf die Rumänin Ivana Mladenovic aufmerksam geworden ist, die bislang Dokumentarfilme drehte, nun aber mit "Soldiers - Story from Ferentari" ihr Spielfilmdebüt vorgelegt hat: Die Filmemacherin bleibe "Beobachterin, auch wenn sie Geschichten aus dem Bukarester Getto Ferentari erzählt. Adi, ein Anthropologe, kommt hierher, um eine Doktorarbeit über die Manele-Musiker zu schreiben. Er gerät an den weitgehend mittellosen Alberto, dem in vielen Jahren hinter Gittern die Intimität mit Männern ganz alltäglich wurde. Diese beiden verlorenen Gestalten sind eines der großen Liebespaare dieses Jahres, in einem wagemutigen Film."

Helene Hegemann hat in Toronto unterdes wenig Glamour gefunden, dafür umso mehr Kritik an gesellschaftlichen Missständen, wie sie in der NZZ berichtet. Am besten hat Hegemann ausgerechnet der Film "Western" von Valeska Griesebach gefallen: "Der Film bedient jede Western-Regel, ohne dass man die ganze Zeit über das Genre nachdenkt. Es gibt keinen richtig Guten. Keine richtig Bösen. Alles steht immer kurz vor der Eskalation, ständig hält jemand ein Messer oder eine Pistole in der Hand, Leute verlieben sich und tanzen. Aber es gibt keine Erlösung, kein Ende, an dem jemand geläutert ein Stückchen weiter Richtung Paradies geschritten wäre. Und das bringt vielleicht etwas Fundamentales auf den Punkt."

Weiteres: Der Verband der deutschen Filmkritik hat seinen Siegfried-Kracauer-Preis für Filmkritik vergeben: Glückliche und verdiente Gewinnerin ist die Kritikerin und regelmäßige Perlentaucher-Autorin Elena Meilicke, die für ihren Text über Mia Hansen-Loves "L'Avenir" ausgezeichnet wird. Wir gratulieren! Die Washington Post meldet, dass der Locationmanager Carlos Munos Portal der Netflix-Serie "Narcos" in Mexiko erschossen aufgefunden wurde. Bert Rebhandl (Standard), Tobias Kniebe (SZ) und Barbara Möller (Welt) schreiben zum Tod des Schauspielers Harry Dean Stanton.

Besprochen werden Steven Soderberghs "Lucky Logan" (FR), Laura Poitras' Dokumentarfilm "Risk" über das zunehmend schwieriger werdende Verhältnis zwischen Julian Assange und der Regisseurin (Freitag), Emir Kusturicas "On the Milky Road" (Freitag), die Neuverfilmung von Stephen Kings "Es" (Welt) und neue DVDs, darunter Massimo Dallamanos "Das Geheimnis der Grünen Stecknadel" (SZ).
Archiv: Film