Efeu - Die Kulturrundschau

Gegen die Welt entworfen

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19.09.2017. Die taz streift mit Alexander Kluge durchs Pluriversum und stößt auf das zweifache Eigentum des Menschen. Die Welt lernt von Pierre Bonnard, wie Kunstschönheit funktioniert. Die FAZ bedankt sich bei Karin Beier, die in Hamburg recht verschwenderisch "Tartare Noir" servierte. Der Tagesspiegel freut sich über die Abenteuerlust, zu der Justin Doyle den RIAS Kammerchor mit Monteverdi verführt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.09.2017 finden Sie hier

Kunst


Alexander Kluge: Arbeit - Antiarbeit - Jetztzeit, 2017. Kairos Film

"'Es gibt kein richtiges Leben im falschen Hasen', lernt taz-Kritiker Max Florian Kühlem in der Ausstellung "Pluriversum", die der Gefühlchronist, Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge für das Folkwang Museum kuratiert hat. Und wie immer zieht er seine eigenen Bahnen durch den "Stream der Gegenwart": "Auch wenn dies auf den ersten Blick so wirken mag, hat man es hier nicht mit einem Sammelsurium von Merkwürdigkeiten eines Messie-Intellektuellen zu tun. Alle Gegenstände und Bilder sind Spezialfälle und umkreisen Alexander Kluges Themen. 'Menschen haben zweierlei Eigentum: ihre Lebenszeit, ihren Eigensinn', heißt es in seinem schriftstellerischen Hauptwerk, der 'Chronik der Gefühle' - und damit sind zwei Hauptthemen benannt."

Die große Schau zu Matisse und Bonnard in der Frankfurter Schirn Kunsthalle ist bereits mehrfach gefeiert worden, in der Welt stellt Hans-Joachim Müller noch einmal klar: "Man täte Bonnards Malerei ziemlich unrecht, wenn man ihr Opposition, gar Feindschaft gegenüber der entwickelten Moderne unterstellte. So als stemmten sich seine Bilder anderen Bildern entgegen. Nein, der bleibende Triumph dieser Malerei liegt in der Intelligenz begründet, mit der sie zeigt, wie alle Kunstschönheit schon immer gegen die Welt entworfen ist." (Pierre Bonnard: Akt vor dem Spiegel, 1931. Schirn Kunsthalle)

Besprochen wird außerdem die Ferdinand-Hodler-Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn (SZ).
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Bühne


Alles zerfällt: Karin Beiers "Tartare Noir" am Hamburger Schauspielhaus

Zum Saisonstart hat Karin Beier am Hamburger Schauspielhaus die Groteske "Tartare Noir" inszeniert. Es geht um Europa, die Spaßgesellschaft und Vegetarismus. "Schrecklich, sinnfrei, unerträglich!" ruft Katrin Ullmann erschrocken in der taz nach dem Abend in einem Kannibalenhaus. In der SZ lässt sich Till Briegleb die Farce auf den Fleischkonsum "Tartare Noir" als "Horrorlein mit Blutekel" gefallen. In der FAZ sieht Irene Bazinger dagegen die Skala zwischen Witz und Wahnsinn souverän auf- und abgespielt: "Warum nun also das Thema Kannibalismus? Warum nicht, sagt Karin Beiers raffinierte Inszenierung einfach und lässt das Theater amüsant-ergreifend und herrlich verschwenderisch zeigen, was es kann: Direktheit der Emotionen, Gleichzeitigkeit von Ereignissen, Phantastereien live."

Peter Hagmann hat in Genf für die NZZ drei Abende hintereinander drei verschiedenen Adaptionen des "Figaro" gesehen, neben Mozarts und Rossinis Versionen gab es außerdem eine moderene Figaro-Inszenierung von Elena Langer "Figaro gets a divorce" - alle drei ein Erfolg, meint Hagmann.

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Anne-Sophie Schmidt vom Fest des Denkens, zu dem Andres Veiel ins Deutsche Theater in Berlin geladen hatte. Ebenfalls im Tagesspiegel unterhält sich Patrick Wildermann mit den Schauspielerinnen Corinna Kirchhoff und Constanze Becker über ihre Rückkehr ans Berliner Ensemble. Besprochen wird Torsten Fischers "Zauberflöten"-Inszenierung ("Lahm" fand sie Ljubisa Tosic im Standard).
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Film


Georg Stefan Troller

In Bad Saarow, beim "Film ohne Grenzen"-Festival, hat Georg Stefan Troller seinen Film "Schwierigkeiten beim Zeigen der Wahrheit" aus seiner "Pariser Journal"-Fernsehreihe präsentiert, berichtet Verena Lueken in der FAZ und staunt Bauklötze, wie wagemutig öffentlich-rechtliches Fernsehen in den Sechzigern gewesen ist: Der Film wirke heute "wie ein Fundstück des Experimentellen. Nicht nur der Titel ein Brecht-Zitat, die Montage an Eisenstein geschult, der Rhythmus schnell, Jazz als treibende Musik. Sondern auch ein Fernsehfilm, in dem der Regisseur tatsächlich etwas wissen will." Lueken fragt "sich, wann sich zum letzten Mal im deutschen Fernsehen jemand solche Fragen gestellt hatte. Wann zum letzten Mal ein politisches Feuilleton gedreht wurde, bei dem der Regisseur künstlerisch auf der Höhe seiner Zeit, nein, seiner Zeit voraus zu sein schien." Und warum enthält das heutige öffentlich-rechtliche Fernsehen seinem Publikum diese Archivschätze eigentlich vor?

Weitere Artikel: Hannes Stein berichtet in der Welt von Michael Moores Trump-kritischer Filmtour durch die USA. Zum hundertsten Geburtstag der UFA wünscht sich Hanns-Georg Rodek in einem Welt-Beitrag, den wir gestern übersehen haben und somit nachreichen, diesem Land "eine Versöhnung mit seiner Filmgeschichte."

Besprochen werden eine Ausstellung im Lenbachhaus München über den Super8-Underground der Achtziger (Deutschlandfunk Kultur, SZ), Gabe Klingers "Porto" (SZ, unsere Kritik hier) und die umfangreiche Dokumentarfilm-Serie "Vietnam", an der die beiden Autoren Ken Burns und Lynn Novick zwar "über sechs Jahre" gearbeitet haben, die Arte aber dennoch bloß in einer nahezu um die Hälfte gekürzten Ausgabe zeigt (Berliner Zeitung).

Und: Abel Ferrara hat den Viennale-Trailer in diesem Jahr als Hommage an den vor kurzem verstorbenen Leiter des Festivals Hans Hurch konzipiert.

Archiv: Film

Literatur

Paul Jandl freut sich in der NZZ auf einen "literarisch luxuriösen Herbst" und kann von sinkender Lesebegeisterung im deutschsprachigen Raum nichts merken: "Mit Podiumsdiskussionen und Veranstaltungen, die als Wasserglaslesung mitunter den Sex-Appeal von Lehrer-Cordsakkos haben, aber dennoch funktionieren."

Bei den wiederbelebten Darmstädter Gesprächen ging es den teilnehmenden Schriftstellern unter der Leitfrage "Wer ist Wir?" nicht darum, "eine bestimmte Antwort" auf diese Frage zu finden, sondern um "differenzierende Nachfragen und die Verunsicherung stereotyper Vorstellungen von Gruppenidentität", betont Volker Breidecker in der SZ. Herwig Finkeldey befasst sich auf Tell mit Thomas Mann und dessen Verhältnis zum Konservatismus. Kerstin Holm gratuliert in der FAZ dem Schriftsteller Viktor Jerofejew zum Siebzigsten.

Besprochen werden Sasha Marianna Salzmanns Debüt "Außer sich" (Zeit), Omar El Akkada "American War" (taz), Gerhard Falkners "Romeo oder Julia" (SZ) und Éric Vuillards "Traurigkeit der Erde" (FAZ).
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Musik

Mit Musik von Claudio Monteverdi hat Justin Doyle seinen Einstand als Leiter des RIAS Kammerchors gegeben - der Andrang war überwältigend, Leute "flehten um Einlass", berichtet Jan Brachmann in der FAZ. Drinnen saß Tim Caspar Boehme von der taz und war mit dem Dargebotenen sehr zufrieden: "Im Pierre Boulez Saal künden schon die ersten Bläserfanfaren der Capella de la Torre, über denen der Rias Kammerchor den strahlenden Eingangschor singt, eine hochgradig expressive Form des Gotteslobs an, das keine Berührungsängste mit Elementen aus Oper oder Ballettmusik kennt. Wenn man so feurig besungen wird, möchte man gern Muttergottes sein." Brachmann bezeugt in der FAZ zwar einen "schönen Anfang", sieht aber auch noch "Verständigungsarbeit" auf Chef und Klangkörper zukommen: "Manchmal piekst sein Finger auf den Halteton einer Stimme, den er akzentuiert wissen will, weil der Ton gleich zur wichtigen Vorhaltsdissonanz werden wird. Doch der Akzent bleibt eher sicht- als hörbar." Ein wenig Abenteuerlust bescheinigt Ulrich Amling dem Abend im Tagesspiegel: "Lächelnd führt Doyle den Chor an Grenzen, wo der kultivierte Wohlklang des Ensembles allein nicht weiterhilft. Monteverdis subversive Technik der zeitlichen Verrückung etwa katapultiert den Rias Kammerchor hörbar hinaus aus der eigenen Komfortzone."

Weiteres:  Daniel Ender berichtet im Standard vom Festival Klangspuren Schwaz. Udo Badelt besucht für den Tagesspiegel das International Chamber Music Festival in Jerusalem, das sein 20-jähriges Bestehen feiert. Für ZeitOnline plaudert Jens Balzer mit dem Berliner Zopf-Rapper Romano.

Besprochen werden Daniel Behles Interpretation von Schuberts "Wanderer" in Frankfurt (FR), Konzerte von Diana Krall (Tagesspiegel), Vladimir Jurowski und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (Tagesspiegel), Jen Cloher (Tagesspiegel), DJ Shadow (Tagesspiegel) und der Auftakt der "grenz.wert"-Reihe des Ensembles für zeitgenössische Musik unter Sylvain Cambreling (Standard).

Außerdem: Das neue Video von Björk:



(Sehr schön auch dieses Video, in dem man sieht, wie ihr Gucci-Kostüm für das Video genäht wird ...)
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