Efeu - Die Kulturrundschau

Das Niveau ist hoch

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26.09.2017. Der Schriftsteller Robert Menasse erklärt im Freitag seine Liebe für Europa: "Die verschissenen Nationen produzierten autoritäre Systeme." Die Berliner Zeitung erlebt mit Didier Eribon in der Berliner Schaubühne die Bürden der gehobenen Klassenzugehörigkeit. Der Tagesspiegel spürt in der besetzten Volksbühne die Sehnsucht nach den neunziger Jahren. Der Standard erquickt sich mit dem Kunstkollektiv Time's Up in der Medusa Bar der Turnton Docklands. ZeitOnline untersucht den Pferdefilm. Und die FAZ aalt sich im gluckernden Bauch der Maria Callas.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.09.2017 finden Sie hier

Kunst


Bettina Rheim: Karen Mulder with a very small Chanel bra, 1996, Courtesy Bettina Rheims, Foto: Axel Schneider. MMK

Frech, lustig und erhellend findet Katharina Rudolph in der FAZ, wie Regisseur Ersan Mondtag das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt in ein Theaterstück verwandelt. "I am a problem" kommt ganz ohne lebende Darsteller aus: "Stattdessen machte er die Werke des MMK zu Protagonisten seines Stücks. Eines Stücks, das keiner linearen Handlung folgt, sondern um einen weit gefassten Themenkomplex kreist, der von Selbstoptimierung, Identität und idealen Körpern ebenso erzählt wie von den Schattenseiten des Perfektionierungswahns: von Selbstverstümmelung und Deformation. Anders als im Theater bewegen sich in der Schau im MMK nicht die Darsteller, sondern die Zuschauer, die einen Parcours wie in einer Geisterbahn durchlaufen. Nur, dass sie sich nicht in irgendeinem Spukschloss befinden, sondern im gluckernden Bauch der Maria Callas. Und zwar zusammen mit einem riesigen Bandwurm."


Im Wind getrocknete Ente aus der Volksrepublik Kanada und Qullencocktail: Die Medusa Bar in Turnton Docklands. Foto: Foto: maschekS / Lentos Linz.

Ziemlich toll findet Roman Gerold im Standard die Zukunftsvision, die das Linzer Künstlerkollektiv Time's Up für seine bis ins kleinste Detail ausgearbeitete Schau "Turnton Docklands" im Lentos ersonnen hat: "Was einen vor allem umwirft, ist die Aufbereitung. Die Turnton Docklands sind ein Stadtteil einer fiktiven Metropole, der raumnehmend beschworen wird. Man betritt das Hafenviertel über eine Holzbrücke und findet sich inmitten angedeuteter Hausfassaden wieder. Aus der 'Medusabar' gegenüber dem Leuchtturm tönt erquickliche Musik, im Meer, markiert durch dünne Plastikfolie, treiben dafür skelettierte Fische. Gut, dass es auch eine 'Ocean Recovery Farm' gibt. Architekturen, Objekte, Projektionen, Sounds werden aufgeboten, um Betrachter in eine Art Filmset zu versetzen. Wie 'der Neue in der Stadt' fühlt man sich."

Weiteres: Nicola Kuhn berichtet im Tagesspiegel von der Biennale in Lyon.
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Literatur

Für den Freitag hat Katharina Schmitz mit Robert Menasse über dessen neuen Roman "Die Hauptstadt" gesprochen. In Schmitz' Augen zeichnet den Roman eine liebevolle Zeichnung der europäischen Hauptstadt aus, die für sie fast etwas Joseph-Roth-Artiges hat: Er "habe dem Roman ein Gemüt mitgeben wollen", sagt Menasse dazu. Brüssel sei "gewissermaßen ein Labor, wie die Habsburgermonarchie vor den beiden Weltkriegen. Die war ein multiethnisches, vielsprachiges Gebilde mit gemeinsamer Verwaltung, einem gemeinsamen Markt, einer gemeinsamen Währung, dem Gulden. Es gab eine Staatlichkeit, ohne den Anspruch, eine Nation zu werden. Die Nationalisten haben das Gebilde zerstört. Ich sage es brutal - die verschissenen Nationen produzierten autoritäre Systeme, Bürgerkriege, Misere, Trümmerhaufen. Die Laborsituation zeigt sich heute wieder in Brüssel. Brüssel ist die Hauptstadt eines Landes, das keine Nationsidee hat."

Weiteres: In Frankfurt haben die Shortlist-Autoren des Deutschen Buchpreises gelesen, berichtet Andrea Pollmeier in der FR.

Besprochen werden Orhan Pamuks "Die rothaarige Frau" (NZZ), David Whish-Wilsons Krimi "Die Ratten von Perth" (Welt), Ines Geipels "Tochter des Diktators" (SZ), Maggie Nelsons Essay "Die Argonauten" (Tagesspiegel) und Christoph Höhtkers "Das Jahr der Frauen" (FAZ).
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Bühne


Nina Hoss bei der "Rückkehr nach Reims". Bild: Schaubühne Berlin

Thomas Ostermeier hat zusammen mit Nina Hoss Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" für die Schaubühne inszeniert. Sehr geschickt findet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung, wie die Inszenierung den Stoff gleich dreifach rahmt: "Der Abend spiegelt nicht nur die eigene gehobene Klassenzugehörigkeit, sondern auch das von Eitelkeiten und Zwängen in Schach gehaltene Bemühen um gesellschaftliche Relevanz in der Kunst und schließlich gar das Erbe vorangegangener Generationen anhand des Vaters der Hauptdarstellerin Nina Hoss." In der taz sieht Jan Feddersen darin kaum mehr als eine "wohlige Anklage gegen allen sogenannten Neoliberalismus" oder auch "eine Dramatisierung des Goodwills der guten Kreise".

Die Volksbühne bleibt besetzt, Intendant Chris Dercon fordert die Politik zum Handeln auf, Kultursenator Klaus Lederer lehnt eine Räumung ab. "Irgendwie ist hier jeder gegen jeden", stellt Christian Maier in der Welt fest. Gerrit Bartels spaziert für den Tagesspiegel durch die besetzten Räume der Volksbühne und verspürt eine große Sehnsucht nach dem alten Berlin, als noch so vieles möglich war: "Der Charme besteht darin, dass das Ganze an die 'Kongresse' erinnert, die es in der Volksbühne vor allem in den späten neunziger- und frühen nuller Jahre gab - nur dass diese von innen, von der Volksbühne selbst organisiert wurden, mit viel theoretischem Überbau und viel gutem Willen, das Chaos stets mit im Visier. 'Das Niveau ist hoch, aber keiner ist drauf', zitierte seinerzeit Carl Hegemann einen alten Spontispruch."

Jaja, das waren Zeiten, als die Bewegung noch Bedeutung besaß, seufzt Bernhard Schulz im Tagesspiegel: "Darin liegt der große Unterschied zum Volksbühnen-Spektakel. Nicht einmal symbolisch kommt hier das Ringen um eine 'gute' Politik zum Ausdruck. Ein Theater ist ein Theater und eben kein Spekulantenwohnhaus. In der Studentenbewegung wurde derlei als 'Sektierertum' gegeißelt." Inzwischen fallen Proben aus für die ersten Aufführungen unter der Dercon-Intendanz, berichten Mounia Meiborg in der SZ und Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. Ebenfalls in der SZ geben dreizehn Theaterchefs guten Rat, von Annemie Vanackere bis zu Ulrich Khuon. Matthias Lilienthal rät, diesen Zustand "zwischen Glücksfall und Vollkatastrophe" auszuhalten. Und: "Reden. Reden. Reden. Trinken. Trinken. Trinken."

Besprochen werden mit "Hunger" der Abschluss von Luk Percevals Zola-Trilogie im Hamburger Thalia (FR), Johan Simons DeLillo-Adaption "Cosmopolis" für die Ruhrtriennale (taz), Barrie Koskys "Tschaikowsky-Inszenierung "Pique Dame" am Zürcher Opernhaus (NZZ), Euripides' "Iphigenie in Aulis" im Wiener Volkstheater (SZ), Michael Thalheimer Brecht-Inszenierung "Der Kaukasische Kreidekreis" am Berliner Ensemble (Standard, FAZ), Sibylle Bergs "Nach uns das All" im Berliner Gorki Theater (Berliner Zeitung, Nachtkritik).
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Musik

Dreitagebart, kräftiges Auftreten, Mannsbilder voller Abenteuerlust: In dieser Aufmachung lässt sich Manuel Krug von der Welt die neuen Soloalben der Tenöre Jonas Kaufmann und Juan Diego Flórez schon rein optisch gut gefallen. Insbesondere Kaufmann imponiert ihm sehr: "Authentisch begleitet von Bertrand de Billy und dem Bayerischen Staatsorchester ist der baritonal eingedunkelte Kaufmann über das feine Tschilpen ganz junger Liebesküken wie Massenets Werther oder Gounods Roméo, über deren Wallungen und zarte Höhen längst hinaus. Jacques Offenbachs an sich und dem Leben besoffenen Dichter Hoffmann und dem auch vokal baumstämmigen 'Les Troyens'-Aeneas von Hector Berlioz hat er im wahren Karriereleben abgesagt, auf CD tönen sie nun als Versprechen." Hier einige Kostproben (sowie hier welche aus dem Album von Flórez):



Mit einem "kühnen" Programm hat Vladimir Jurowski seinen Antritt als neuer Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin bestritten, berichtet Wolfgang Schreiber in der SZ: Es war ein Abend "harscher Gegensätze. Mit suggestiver Zeichenpräzision beschwört er die Spannungsbögen, die symphonischen Sprengkräfte, und die Zuhörer fordert er heraus mit Musikwerken, die politische Botschaften enthalten."

Weiteres: Auf Pitchfork erinnert Jenn Pelly an die feministische Postpunk-Band The Raincoats. Besprochen werden das Comebackalbum von LCD Soundsystem (Jungle World), das Debüt des Dirigenten Alain Altinoglu bei den Berliner Philharmonikern (Tagesspiegel), ein Schubert-Konzert von Julien Prégardien (FR) und das Solodebüt des New Yorker Indiemusikers Rostam (SZ).
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Design

Die Herbstmode steht in diesem Jahr im Zeichen des Quilt, erklärt Tillmann Prüfer im ZeitMagazin: "Bei Calvin Klein Collection fallen Mäntel auf, deren Brust- und Rückenteil aus Quilt bestehen, während die Ärmel klassisch grau kariert sind. Chanel bietet futuristische Capes in Pink und Silber. Bei Dries Van Noten bestehen etliche Mäntel ausschließlich aus Quilt, der mit floralen Mustern bedruckt ist, bei Jil Sander sieht man monochrome Looks in Gelb und Beige."

Im California Sunday Magazine erzählt Ann Friedman die Geschichte, wie die Modedesignerinnen Kate und Laura Mulleavy von Rodarte mit "Woodshock" einen experimentellen Kunst-Spielfilm mit Kirsten Dunst in der Hauptrolle gedreht haben. Der Trailer lockt mit verführerisch kristallinen Bildern, die Kritiker schlachten den Film derweil.
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Film

In der Reihe "10 nach 8" auf ZeitOnline denkt Jennifer Borrmann über das Genre des Pferdefilms und dessen Verhältnis zu Frauenbildern nach. So gebe es zahlreiche "Werke, die mit dem Topos des pferdeliebenden weiblichen Wesens fragwürdige Idealvorstellungen von Weiblichkeit bis hin zu kaum verschlüsselten Männerfantasien präsentieren. Man denke nur an Kristina Söderbaum, die vom eigenen Ehemann Veit Harlan für 'Opfergang' 1944 auf einem ungesattelten Schimmel inszeniert wurde. Da scheint der Weg nicht weit bis zu Joe D'Amatos 'Black Emanuelle - Stunden wilder Lust' (1976) mit seiner Zoophilie-Szene. ... Dahinter steckt die Vorstellung, dass eine Frau nicht ohne Mann sein kann. Und sobald dieser fehlt - sei es durch den Kriegseinsatz oder weil ein junges Mädchen ganz einfach noch sexuell uninteressiert ist - dient das Tier als Ersatz für das abwesende Maskuline." Die angesprochene Szene aus dem Harlan-Film steht auf Youtube:



Weiteres: Caity Weaver porträtiert in Gentlemen's Quarterly den Dude Jeff Bridges. Michael Pekler weist im Standard auf eine Filmreihe zur Geschichte der österreichischen Produktionsgesellschaft Lisa Film hin, die sich mit Softsex, Splatterfilmen und Thomas-Gottschalk-Komödien einen Namen gemacht hat.
 
Besprochen werden Destin Daniel Crettons Verfilmung von Jeannette Walls' Erinnerungen "Schloss aus Glas" (SZ), die neue "Star Trek"-Serie "Discovery" (Welt) und Andreas Pichlers Dokumentarfilm "Das System Milch" über Kühe (FAZ).
Archiv: Film