Efeu - Die Kulturrundschau

Die Einöde der Abstraktion

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02.10.2017. Was für ein Armutszeugnis, stöhnt der Tagesspiegel: In der morgen wiedereröffnenden Staatsoper in Berlin wird alles genauso aussehen wie zuvor. Paul Klee war kein Abstrakter, lernt die NZZ in der Fondation Beyeler. Die SZ erzählt die Geschichte des Angriffsfotografen. In der taz spricht die Autorin Virginie Despentes über die Depression französischer Männer. Die Zeit ergründet die irre Wut des Oskar Roehler.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.10.2017 finden Sie hier

Kunst



Gegenangriff. Anthony Steel in Rom 1958. Bild: Tazio Secchiaroli, Centro Italiano per la Fotografia

Sehr erhellend findet SZ-Kritiker Thomas Steinfeld die Ausstellung "Arrivano i Paparazzi" im Centro Italiano per la Fotografia in Turin. Sie erzählt die Geschichte des Paparazzo, der 1958 als 'fotografo d'assalto', als Angriffsfotograf, in die Welt trat und von jedem Star gebraucht und gehasst wird: "Es ist, als ob das Volk zu viel Gleichheit nicht ertragen könnte, so dass es Menschen aus seiner Mitte zu göttergleichen Figuren erhebt - und kaum, dass diese Menschen zu Stars geworden sind, beginnt das Volk, der Unterwerfung unter die selbstgeschaffenen Idole offenbar überdrüssig, die gerade noch Bewunderten in höchst gewöhnliche Gestalten zurückzuverwandeln. Der Paparazzo aber ist der Chauffeur dieser Bewegungen durch die Hierarchien, und so wie er seine Protagonisten auf dem Weg hinauf zum Starruhm führt, so geleitet er sie auch auf dem Weg herunter."


Paul Klee, Vor dem Blitz, 1923, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler

Paul Klee war kein Abstrakter, erkennt NZZ-Kritiker Philipp Meier, der den Schweizer Maler in einer großen Schau in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel mit ganz neuen Augen sehen konnte: "Während die sogenannten Abstrakten sich ablösen von der Dingwelt, geht Klee den umgekehrten Weg. Dass das Sichtbare eigentlich nur ein Zauber aus Licht und Schatten ist, musste ihm jedenfalls von Anfang an klar gewesen sein. Seine Malerei weist gleichsam den Weg aus der Einöde der Abstraktion in die bunte Lebenswelt. Denn was ist Kunst anderes als der Versuch, die rätselhafte Welt zu erfassen, zu begreifen, zu erklären? Etwas naiv mutet so gesehen die Absichtserklärung der 'Erfinder' der Abstraktion an, alles Gegenständliche als Lug und Trug zu verwerfen. Dem poetischen Träumer, als der Klee gerne gesehen wird, tanzten indes einfach die Lichter und Farben vor den Augen."

Besprochen werden eine Ausstellung über die Pioniere der Infografik Fritz Kahn und Otto Neurath im Deutschen Buch- und Schriftmuseum Leipzig (SZ), die Schau "Nobody spoke" der Konzeptkünstler Art & Language in den Kunstsälen Berlin (SZ), eine "hinreißende" Netsuke-Ausstellung im Ostasiatische Museum in Köln (FAZ) und eine Schau über japanische Architektur seit 1945 im Centre Pompidou in Metz (FAZ).
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Literatur

Um die Gegenwart, französische Literatur und Männer heute geht es auch im Gespräch, dass Tania Martini in der taz mit Virginie Despentes führt. Die Schriftstellerin beklagt unter anderem den Rechtsruck im Verlagswesen, der bald auch vor dem Antisemitismus nicht mehr halt machen werde, und einen allgemeinen konservativen Backlash. Frankreich sei ein depressives Land geworden, sagt sie weiter. "Das ging Anfang des Jahrhunderts los und dann kam 9/11 und hat den Franzosen klargemacht, dass die Karriere der Nation zu Ende ist. Frankreich hat große Probleme mit dem Postkolonialismus, das wurde immer deutlicher. Gleichzeitig ging das Gefühl, eine wichtige Nation zu sein, verloren. Man kann das übrigens am besten an den jungen Männern in Paris sehen, egal welcher Herkunft, sie haben irgendetwas verloren, das ist physisch, sie wissen nicht, wie sie sich anziehen sollen, wie sie sich eigentlich verhalten sollen."

Im Berliner Literaturhaus trafen Camile de Toledo und Mathias Énard aufeinander und diskutierten über schwere Fragen, berichtet Jan Knobloch in der FAZ, natürlich auch über die Malaise des Mannes und Michel Houellebecq. Als Énard ausführte, dass Männer bei Houellebecq ihren Bedeutungsverlust nur verkraften könnten, indem "man ihre Hoden leckt", dämmert Knobloch, "dass im Symptomatischen manchmal ebenso viel Diagnostisches liegt wie im Diagnostischen Symptomatisches"-

Männer jenseits der 50 mit schweren Problemen haben wir hierzulande freilich auch vorzuweisen. Regisseur und Schriftsteller Oskar Roehler etwa, mit dem sich Moritz von Uslar auf einen Abend für die Zeit getroffen hat. Rohlers neuer Roman "Selbstverfickung" rechnet so ziemlich mit allem und jedem ab und inszeniert das Alter Ego seines Autors als einen, der moralisch alles hinter sich gelassen hat. "Die Frage, woher der schreibende Regisseur seine irre Wut nimmt", lasse sich "auch nach längerem tastendem Zwiegespräch am Borchardt-Tisch" kaum beantworten, notiert von Uslar. "So ganz vage lässt sich vielleicht sagen, dass hier einer empört und beleidigt darüber ist, dass er sich - so auf das letzte Drittel seines Lebens - überhaupt noch mit Politik befassen soll. Es ist die Generation Oskar Roehler, die - im Post-Punk-Berlin sozialisiert und in den herrlich unpolitischen und hedonistischen Techno-90er-Jahren aufgewachsen - auf die aufgebrachte Welt von globalem Terror und Flüchtlingskrise mit den ganz normalen Spießer-Affekten Angst und Aggression reagiert."

Weiteres: Das Literatur-Feature auf Deutschlandfunk Kultur begleitet den Schriftsteller Najem Wali auf einer Reise nach Bagdad. Prominent vertreten auf der Buchpreis-Shortlist und ein neues Verlagsgebäude im Bau: Suhrkamp spielt wieder ganz weit vorne mit, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. In der Welt empfiehlt Richard Kämmerlings, in den Antiquariaten nach Viktor Pelewins Kosmonauten-Satire "Omon hinterm Mond" von 1992 Ausschau zu halten - es lohne sich! Im aktuellen "Superman"-Comic tritt der stählerne Held gegen rassistische White Supremacists an, berichtet Ralph Trommer in der taz. Deutschlandfunk bringt eine Lange Nacht über Virginia Woolf.

Besprochen werden Edna O'Briens "Die kleinen roten Stühle" (SZ), Jan Wagners und Tristan Marquardts Lyrikanthologie "Unmögliche Liebe" (ZeitOnline), Thomas Lehrs "Schlafende Sonne" (Zeit), Gerhard Falkners "Romeo oder Julia" (FR), Marion Poschmanns "Die Kieferninseln" (Tagesspiegel), Markus Orths' Biografie über Max Ernst (Freitag), Graeme Macrae Burnets "Das Verschwinden der Adèle Bedeau" (FAZ), sowie Madeleine Prahs' "Die Letzten", Anna-Elisabeth Mayers "Am Himmel" und Simon Strauß' "SIeben Nächte" (Freitag).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Julia Trompeter über Ralf Rothmanns "April in Paris":

"Ich lief und lief und kam nicht von der Stelle
in Paris. Unter mir, in der grommelnden Metro,
..."
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Bühne


Die "Iphigenie" nach Euripides im Hangar 5. Bild: Volksbühne Berlin

Im Hangar 5 des Flughafens Tempelhof hatte die Volksbühne nun ihre erste Premiere. Der syrische Theaterautor Mohammad Al Attar und Regisseur Omar Abusaada zeigten die "Iphigenie" nach Eurides. Tolle Idee, meint Mounia Meiborg in der SZ, auch wenn die Vorlage nicht passt: Die syrischen Frauen, die hier von sich erzählen, haben viel geopfert, aber nicht sich. Auch in der taz sieht Katrin Bettina Müller mit dem Opfer die falsche Frage gestellt und schreibt: "Worüber nicht geredet wird: der Krieg in Syrien, die verlassene Familie, die Flucht, die Probleme hier. Die Texte kreisen mehr um die Frage, warum sie Theater und warum 'Iphigenie' spielen wollen und damit mehr um ihre Befindlichkeit, das Gefühl des Verlorenseins, die Einsamkeit, die Unfähigkeit zur Kommunikation. Und um die Hoffnung, über das Theaterspielen eine Verbindung herstellen zu können. Manchmal folgt dann noch ein kurzer Monolog aus 'Iphigenie' oder ein berührendes Lied. Hat man mehr erwartet? Eigentlich ja." In der Nachtkritik ist das Christian Rakow zu viel Befindlichkeit: "Die radikale Subjektivität des 'So geht es mir' entzieht sich der Kritik." Im Tagesspiegel betont Patrick Wildermann: "Die Darstellerinnen machen ihre Sache toll."

Sehr elegant findet Daniele Muscionico in der NZZ, wie Bastian Kraft in seiner Zürcher Bühnenversion der "Buddenbrooks" das Bürgertum zerlegt: "Wie immer man Glück im Theater definiert, hier wird man es finden. Bastian Kraft legt eine eigene Fassung des als unspielbar geltenden Romans vor, entschlackt zum modernen Krimi. Aus Thomas Mann macht er Arthur Miller."

Weiteres: Peter Iden gratuliert in der FR dem Theaterregisseur Peter Stein zum Achtzigsten, im Tagesspiegel schreibt Rüdiger Schaper.

Besprochen werden Donizettis "Lucia di Lammermoor" an der Opéra de Lausanne (NZZ) und Frank Catsorfs Dostojewski-Abend "Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett" am Schauspiel Zürich (Nachtkritik).
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Film

Die Ankündigung, dass es 2018 ein paar neue Folgen des Sitcom-Klassikers "Roseanne" geben wird, lässt in Dierk Saathoff und Dennis Göttel keine guten Hoffnungen aufsteigen. Wie sie in der Jungle World schreiben, produziere sich Hauptdarstellerin und Serien-Mastermind Roseanne Barr gern mit einer querfröntlerisch müffelnden Krawall-Rhetorik und antiintellektueller Pose: "Barr wirft sämt­liche Themen der Zeit in einen Topf und kommentiert sie wirr, widersprüchlich und zusammenhanglos. Sie ist, gerade in der Beliebigkeit und Inkonsequenz ihrer Aussagen, ein wahrhaft postmodernes Subjekt. Irgendwie meint sie es gut, irgendwie ist sie auf der Seite der Ausgebeuteten, doch scheint sie nur eines im Sinne zu haben: die Schuld zu ­kompensieren, dass sie selbst durch die Darstellung einer White-Trash-Mom zu Geld und Ruhm gekommen ist."

Weiteres: Netflix entdeckt das ältere Publikum, schreibt Barbara Schweizerhof auf ZeitOnline. Urs Bühler berichtet in der NZZ von seinem Treffen mit Regisseur Rob Reiner, der in Zürich einen neuen Film präsentiert hat. Für die NZZ am Sonntag spricht Christian Jungen mit dem Regisseur Rolf Lyssy über dessen Sterbehilfe-Komödie "Die letzte Pointe". Katja Belousova und Elmar Krekeler führen in der Welt durch den Serien-Oktober.

Besprochen werden Tom Lass' "Blind und hässlich" (Freitag), David Simons neue HBO-Serie "The Deuce" (Freitag), eine Ausstellung samt Filmreihe zum Schaffen Harun Farockis (FR) und ein auf DVD veröffentlichtes Biopic über den Boxer Chuck Wepner, der Pate für die Filmfigur Rocky stand (SZ).
Archiv: Film

Musik

Zum Tag der Deutschen Einheit öffnet die Berliner Staatsoper - und macht dann bis zum Dezember gleich nochmal dicht. Mit allzu kühnen Hoffnungen sollte man das frisch sanierte und erweiterte Haus ohnehin nicht betreten, warnt Frederik Hanssen im Tagesspiegel: In der Tektonik des hiesigen Klassikbetriebs sei mit Erschütterungen nicht zu rechnen. "Die Lindenoper ist keine Elbphilharmonie. Sie ist kein Produkt kühner Bürgerfantasie, die sich in einem genialen Wurf zeitgenössischer Architektur manifestiert. Sie ist auch kein Haus für Zukunftsmusik, kein neues städtisches Wahrzeichen. ... Das Beharren auf dem Tradierten aber kann nicht die künstlerische Vision sein. Im Gegenteil, wo das Ambiente dem Gestrigen huldigt, da stehen die Künstler in der Pflicht, den Beweis anzutreten, dass ihre Arbeit Relevanz für die Gegenwart hat." Außerdem breitet Hanssen die Skandale rund um die Staatsoper-Sanierung in einer Chronik aus. Jetzt online ist auch Volker Hagedorns Artikel aus der Zeit, in dem er einen deprimierten Blick auf die Programme im kommenden Musikherbst wirft, die von Repertoireschlachtrössern geprägt sind.

Bei der Musica Viva in München standen die Arbeiten des vor wenigen Wochen gestorbenen Komponisten Wilhelm Killmayer im Vordergrund. Reinhard J. Brembeck würdigt ihn in der SZ als "Klangminimalist wie Anton Webern. Doch dessen spröde Klanggestrüpp-Weise war nicht nach seinem Geschmack. Viel lieber setzte er mit so hinterfotzigem wie hintergründigem Grinsen einen reinen Durklang, der die Modernisten empörte, die Traditionalisten begeisterte." Lange hatte man Killmayer auf die Position des Regionalkomponisten verwiesen - zu Unrecht, meint Max NYffeler in der FAZ. Bei den Konzerten jetzt "ahnte man: Diese Musik hat eine Zukunft , sie ist das Gegenbeispiel zur schnell verderblichen Festivalware andernorts." Gespielt wurde unter anderem Killmayers Dritte Sinfonie, laut Nyffeler "eine sprachmächtige, von Botschaften gesättigte Musik."



Weiteres: Die NZZ bietet eine Aufnahme des Eröffnungskonzerts der Zürcher Tonhalle Maag. Im Standard würdigt Christian Schachingers David Bowies vor vierzig Jahren erschienenes Album "Heroes". Wir erinnern uns mit:



Besprochen werden die Autobiografie des Ex-Kraftwerk-Drummers Karl Bartos (Freitag), das neue Album "Hey Sexy" von Fortuna Ehrenfeld (Welt), ein Konzert des Deutschen Sinfonie Orchesters im Berliner Kraftwerk (taz) und ein Konzert von Tori Amos (Tagesspiegel),

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Philipp Krohn über "People Get Ready" von den Impressions.

Archiv: Musik