Efeu - Die Kulturrundschau

Feingeistig und edelöde

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05.10.2017. Die Staatsoper Unter den Linden wurde am Einheitstag mit großem Brimborium neu eröffnet. Der Klang ist besser, aber die Kritiker trauern um die verpasste Chance, einen modernen großen Saal zu bauen.  Nur die FAZ ist zufrieden. Der Tagesspiegel porträtiert die Künstlerin Jeanne Mammen. Der Dichter Dirk von Petersdorff berichtet in der FAZ von einem Lyrikertreffen in Peking. Die SZ begleitet das Underdox-Filmfestival in München.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.10.2017 finden Sie hier

Architektur

Am 3. Oktober wurde die Staatsoper Unter den Linden nach jahrelang überzogener Renovierungszeit und -kosten wieder eröffnet. In der taz kann Nikolaus Hablützl - außer dem verbesserten Klang - dem renovierten Haus überhaupt nichts abgewinnen: "Den Architekturwettbewerb für die Sanierung gewann eine in der Tat enorm überzeugende Lösung des historischen Konflikts: in das im originalen Maßstab und Stil wiederhergestellte Gebäude sollte ein völlig neues, elegant und großzügig gestaltetes Ensemble aus Bühne und Saal hineingesetzt werden. Ein Aufschrei der Ewiggestrigen beider Systeme war die Folge, der Senat gab nach, und die unheiligste Koalition der linken und rechten Ränder der Kulturpolitik sorgte dafür, dass ihre politische Restauration auch tatsächlich gebaut wurde. So sieht sie nun aus, die neue Staatsoper: Muffiger Stuck im Geschmack des ZK der SED, dazu ein monströses Gitter unter dem um vier Meter höher gelegten Dach. Es zerstört jede Proportion des Saales und sieht aus wie das Riesenauge eines Aliens."

Julia Spinola sieht das in der NZZ ähnlich: "Zukunftsweisend wirkt das Gesamtpaket in dieser neofeudalen Anmutung nicht gerade."

Auch Welt-Kritiker Manuel Brug hätte sich was moderneres gewünscht - was für das Gebäude wie für die Aufführung der "Szenen aus Goethes Faust" galt: "Dabei hat schon Barenboim, anders als etwa in Berlin Abbado, Harnoncourt und Rattle, zu dem problematischen Werk nichts zu sagen. Das spult sich säuselnd feingeistig und edelöde klingend ab, ohne rechten Höhepunkt, ohne Fortissimo-Entladung, um den Saal wirklich auszutesten."

Ein modernerer Saal hätte vielleicht auch das alte Platzproblem gelöst, seufzt Frederik Hanssen im Tagesspiegel und warnt Besucher vor: "Dass es rund 200 Plätze mit massiver Sichtbehinderung auf die Bühne gibt, ist bekannt. Wer sich ein Ticket kaufen will, wird im Saalplan allerdings nicht explizit darauf hingewiesen. Ebenso wenig auf Plätze, die große Menschen nur in Toter-HahnPosition einnehmen können. Das wäre aber angemessen, zumal es sich etwa bei den mittigen Sitzen in der ersten Reihe des dritten Rangs um Plätze im gehobenen Preissegment handelt, die bei Premieren stolze 105 Euro kosten."

Weitere Stimmen: Peter Uehling lobt in der Berliner Zeitung die neue Akustik im Großen Saal: "Die Staatskapelle schafft selbst in der muffigen Schumann-Instrumentation einen hellen, klar konturierten Klang, weg ist die dumpf-trockene Wohnzimmerakustik." In der SZ urteilt Reinhard J. Brembeck recht verhalten: "Den Akustikwettbewerb mit den beiden anderen Berliner Musiktheatersälen, der Komischen und vor allem der Deutschen Oper, konnte die Lindenoper noch nie gewinnen, jetzt aber sind ihre Chancen etwas besser." In der FAZ gibt Jan Brachmann dem renovierten Retro-Rokoko sein Plazet: Der Klang im Großen Saal ist jetzt "fabelhaft", ansonsten hat man fast nichts verändert, freut er sich. Etwas weniger Originaltreue hätte er sich vielleicht nur an der Außenfassade gewünscht: "Quietschvergnügt grinst die ferkelfarbene Fassade der Berliner Staatsoper Unter den Linden nun durch Wind und Wetter. ... Experten versichern, dass der Anstrich historisch korrekt sei." Na dann.
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Kunst

K. L. Haenchen, Jeanne Mammen in ihrem Atelier in Berlin, um 1946-1947, © Förderverein der Jeanne-Mammen-Stiftung e.V., Berlin
Im Tagesspiegel porträtiert Rolf Brockschmidt die Künstlerin Jeanne Mammen, der die Berlinische Galerie gerade eine große Retrospektive ausrichtet. Mammen war in Frankreich aufgewachsen, musste jedoch während des Ersten Weltkriegs mit ihrer Familie nach Berlin fliehen. In der Nazi-Zeit schlug sie sich als Schaufensterdekorateurin durch: "Zur Tarnung lässt sich die Nazi-Gegnerin in der Reichskammer der bildenden Künste registrieren: 'Eine Frau als Gebrauchsgrafikerin macht Blümchen', schreibt sie. Mammen beschäftigt sich jetzt heimlich mit Kubismus und Futurismus, also mit all dem, was nun als 'entartet' gilt. 1937 sieht sie auf der Weltausstellung in Paris Picassos 'Guernica' und ist tief beeindruckt. Sie schlägt sich als Schaufensterdekorateurin durch und lässt sich als 'Feuerwehrmann' ausbilden, um nach der Entwarnung Brandwache zu schieben. Aber in ihrem Atelier am Kurfürstendamm wehrt sie sich mit immer abstrakteren Bildern, die nur ihre Freunde zu sehen bekommen, gegen den Ungeist der Zeit."

Auch nach dem Krieg war Mammen nicht besonders erpicht darauf, ihr Werk bekannt zu machen, erzählt Birgit Rieger, die einige Künstlerinnen vorstellt, die stark von Mammen beeinflusst sind: "Die Berliner Künstlerin verweigerte die Aufbereitung ihrer Bilder für die Nachwelt. 'Ist mir höchst piepe!', soll sie 1975, ein Jahr vor ihrem Tod, in einem Interview gesagt haben. Inzwischen gehört sie für etliche Künstlerinnen und Künstler der jüngeren Generation zum Kanon der Malereigeschichte."

Besprochen werden außerdem Erik van Lieshouts große Retrospektive "Sündenbock" im Kunstverein Hannover (SZ) und die Paul-Klee-Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel (Zeit).
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Design

Marion Löhndorf schreibt in der NZZ über Mode, Politiker und die allgemeine Kommentier-Wut: "Kein prominenter Politiker scheint gegen die Kleider-Auguren der Medien und des Internets gefeit zu sein."
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Stichwörter: Mode

Literatur

Dirk von Petersdorff war für die FAZ dabei, als in Peking deutsche und chinesische Lyriker zum Austausch aufeinandertrafen. Bei rein sprachästhetischen Debatten beobachtete er eine gesunde Diskussionskultur - undurchsichtig wurde es allerdings, sobald es um die Politik ging, erfahren wir. "Ein altgedienter Übersetzer erklärt auf die Frage, warum er sich entschieden habe, Hans Magnus Enzensberger ins Chinesische zu übertragen, Enzensberger sei Sozialist. Allerdings hatte er zuvor das berühmte Gedicht 'Hommage à Gödel' vorgestellt, mit dem Enzensberger um 1970 gerade seinen Abschied vom Sozialismus und vom Systemdenken vollzog und in dem es heißt: 'Um sich zu rechtfertigen / muss jedes denkbare System / sich transzendieren, / d.h. zerstören.' Auf die Nachfrage, ob hier nicht ein Widerspruch bestehe, folgen die abermalige Antwort, Enzensberger sei Sozialist, und das Lachen der Kollegen."

Außerdem: Die Zeit bringt heute ihre Buchmessenbeilage. Im Aufmacher schreibt Jens Jessen über Daniel Kehlmanns neuen Roman "Tyll" (wir werten die Beilage in den nächsten Tagen aus). Und Iris Radisch empfiehlt Bücher des Gastlandes Frankreich, das zu großer Form aufgelaufen sei: "Ein wenig erschöpft von den Exzessen der Si­mu­la­tion, kehren die französischen Autoren zu einer existenziellen Einfachheit wie zu einer allerletzten Raf­finesse zurück: Sie setzen auf die eigene Ge­schichte, die viel zu lange nur eine Fußnote zur Großen Geschichte und zu ihren Erzähl­mustern war. Und sie vertrauen darauf, dass ihrer höchst individuellen Lebensgeschichte ganz von selbst gesellschaftliche Bedeutung zuwächst - wenn man sie nur aufrichtig und überzeugend genug erzählt. Man kann es so sagen: Wieder einmal haben die französi­schen Literaten einen Epochenumbruch im Moment seines Entstehens erfasst."

Für die taz schlendert Jenni Zylka unterdessen über die German Comic Con Berlin.

Besprochen werden Thomas Lehrs "Schlafende Sonne" (taz), Sven Heucherts "Dunkels Gesetz" (Tagesspiegel), Yaa Gyasis "Heimkehren" (FR), Christian Schünemann und Jelena Volics "Maiglöckchenweiß" (Welt), Charles Lewinskys "Der Wille des Volkes" (SZ), Jo Franks "Snacks" (Freitag), Christoph Helds "Bewohner" (Freitag), Hédi Kaddours "Die Großmächtigen" (SZ) und Michael Roes' "Zeithain" (FAZ).
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Musik

Ueli Bernays plaudert für die NZZ mit dem deutschen Gangsta-Rapper Xatar. In der Welt porträtiert Manuel Brug die Cellistin Camille Thomas. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Gitarristen Gustl Lütjens.

Besprochen werden die Autobiografie von Rammstein-Keyboarder Christian Lorenz (Zeit) und das neue Album von Cold Specks (Standard) und das neue Album "Ash" von Ibeyi (Berliner Zeitung, Pitchfork). Daraus ein aktuelles Video:


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Stichwörter: Rammstein, Xatar

Bühne

Trotz aller Liebe zur alten Volksbühne hat der Ostberliner Autor Robert Miessner in der taz die Nase langsam gestrichen voll von all dem Dercon-Bashing: "Zur Erinnerung: Castorf war 25 Jahre im Amt, Erich Honecker nur 18. Die Diskussion über Dercon ließ einen als Linken an der Linken zweifeln, wenn nicht verzweifeln. Sie wurde und wird in einer Weise geführt, bei der sich die Frage aufdrängte, ob der Mann nicht auch noch für den Klimawandel und den Ukrainekrieg verantwortlich zeichnet."

Außerdem: Michael Laages schickt der nachtkritik einen langen Theaterbrief aus Brasilien.

Besprochen werden Dusan David Parizeks Adaption von Ilija Trojanows Roman "Macht und Widerstand" (Berliner Zeitung), erste Inszenierungen zu Kerouac, Labiche und Uisenma Borchu an den Münchner Kammerspielen (FR), Frank Castorfs Inszenierung eines "Dostojewski-Riesendoppelwhopper", nämlich der Erzählungen "Bobok" und "Ein schwaches Herz" (FAZ, SZ) und die Berliner Performance-Reihen "Der Maulwurf macht weiter" am Hebbel am Ufer und "Tierforme/l/n" in den Sophiensælen (taz).
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Film


Jedes Pixel ist zu sehen: Alexandre Koberidzes "Lass den Sommer nie wieder kommen"

In München beginnt heute das Underdox-Festival. Gezeigt wird unter anderem Alexandre Koberidzes dreistündiger, halbfiktiver Dokumentarfilm "Lass den Sommer nie wieder kommen", der auf französischen Dokumentarfilmfestivals bereits für Aufsehen sorgte. Es geht um einen Mann, der nach Tiflis kommt, wo er Tänzer werden will. Gedreht wurde das aber über weite Strecken mit einem alten Handy, erklärt Philipp Stadelmaier in der SZ: Dadurch ist "jedes Pixel zu sehen" und "die kleine Form wird dabei zum Garanten eines opulenten visuellen Mosaiks, gedreht nicht etwa mit wackeliger Handkamera, sondern vom Stativ aus - was den Einstellungen einen gemäldeartigen Charakter verleiht. ... Der Bereich des Wahrnehmbaren weitet sich und beraubt uns unserer gewohnten Orientierung: Oft können wir nicht wissen, wo genau wir sind, ob innen oder außen, und ob es gerade Tag oder Nacht ist. Gerade in der Dunkelheit entfaltet die kleine Kamera ein faszinierendes Potenzial, weil sie durch die niedrige Lichtempfindlichkeit keine klaren Figuren mehr einfangen kann." Außerdem zeigt das Festival Jean-Luc Godards restaurierte Fernseharbeit "Grandeur et décadence d'un petit commerce de cinéma" von 1986, meldet Fritz Göttler.

Weiteres: Jean-Marie Büttner spricht für den Tages-Anzeiger mit Drehbuchautor Aaron Sorkin, der beim Filmfest Zürich sein Regiedebüt "Molly's Game" vorgestellt hat. In Russland schweigen Kirchenführer zu den Brandanschlägen auf Kinos, die den von der Kirche öffentlich vielgeschmähten Historienfilm "Matilda" gezeigt haben, berichtet Kerstin Holm in der FAZ. Beim Filmfestival in San Sebastián konnten die spanischen Produktionen taz-Kritiker Thomas Abeltshauser nicht überzeugen: Ihnen "fehlt das Politische (...) fast völlig. Sie flüchten sich fast ausnahmslos in historische Stoffe und Genrekino." Susanne Ostwald plaudert für die NZZ beim Filmfestival in Zürich mit Jake Gyllenhaal. Oliver Jungen resümiert in der FAZ das Film Festival Cologne.

Besprochen werden Michael Hanekes "Happy End" (Standard),  Tarik Salehs "Die Nile Hilton Affäre" (SZ), Dome Karukoskis "Tom of Finland" (Berliner Zeitung, Welt), die Serie "The Handmaid's Tale" mit Elisabeth Moss (Tagesspiegel, ZeitOnline), Greg Zglinskis Ehethriller "Tiere" (NZZ), Justine Triets auf DVD veröffentlichte Komödie "Victoria - Männer und andere Geschichten" (taz) und Denis Villeneuves "Blade Runner 2049" (FR, NZZ, ZeitOnline, Perlentaucher - Denis Villeneuve hat alles richtig gemacht, lobt Thomas Groh: "Die Vorlage wird aufgegriffen und weitergedacht, das bestehende Erzähluniversum schlüssig fortgesetzt und aufgefächert. Vor allem aber erweist sich Denis Villeneuves Sensibilität in Sachen Rauminszenierung und Atmosphäre im Sinne der faszinierenden 'Blade Runner'-Welt als fruchtbar: 'Blade Runner 2049' ist eine sagenhaft schön gestaltete, vollgemüllte Ruinenwelt, die in Umkehr zu Ks künstlichen Erinnerungen eine nostalgische Sehnsucht nach einem Weltuntergang bedient, der noch nicht stattgefunden hat.").
Archiv: Film