Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Parade langer, nackter Beine

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2017. In der NZZ beschwört Alexandre Gefen den Geist eines neuen Humanismus in der französischen Literatur. Nur warum kommt davon so wenig in den französischen Zeitungen an?, fragt Frédéric Wandelère ebenfalls in der NZZ. Der Tagesspiegel besingt die poetischen Momente aufrichtiger Aufmerksamkeit. Die FAZ erlebt mit György Ligetis "Grand Macabre" exzellentes Musiktheater in Meiningen. Die Welt erlebt, wie Werner Herzog die Kontrolle verliert. Und die SZ erliegt dem Größenwahn der Pariser Modeschauen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.10.2017 finden Sie hier

Design

In Begeiterungstaumel versinkt SZ-Autorin Tanja Rest bei den Modeschauen in Paris: "Die Arroganz. Das Pathos. Der Größenwahn. Nirgendwo können sie das besser als hier. Von der New Yorker Fashion Week wandern die Designer gerade in Scharen ab an die Seine, in Mailand halten sie die Füße still und verzehren sich vor Neid. Dabei ist dieses Défilé für Frühjahr/Sommer 2018 vor allem eine Parade langer, nackter Beine. An den Füßen ein Paar rasante Stiefel, überm Hintern knappe Shorts, dazu einen Glitzersmoking oder eine flatternde Piratenbluse: Das bleibt Anthony Vaccarellos Vision für Saint Laurent. Man weiß, dass die Vision begrenzt ist. Man weiß auch, dass man gerade manipuliert wird. Aber von einem schmutzigen Winkel der eigenen Psyche aus betrachtet, ist es eben trotzdem sehr, sehr geil." (Foto: Chanel/PR)
Archiv: Design

Bühne


Ligetis "Gran Macabre" als Koproduktion der Theater Meiningen und Luzern. Foto: Ingo Höhn

"So geht Musiktheater!" ruft FAZ-Kritikerin Christiane Wiesenfeldt voller Begeisterung über Herbert Fritschs Inszenierung von Ligetis "Grand Macabre" am Staatstheater Meiningen: "Die in Meiningen durchweg exquisiten Sänger können sich in diesem wild phantasierenden, musikalischen Niemandsland austoben. Herausragend taumelt Diana Schnürpel als Venus und überdrehter Polizeichef-Gockel Gepopo von einer Koloratur-Höchstleistung in die nächste. Wunderbar doppelbödig zwischen Aggression und Begehren nuancierend lässt Sarah Alexandra Hudarew (Mescalina) ihrer unbefriedigten Lust sängerischen Lauf. Vuyani Mlinde (als Astrologe Astradamors) und Robert Maszl (als Säufer Piet vom Fass) bilden mit Otelli (Nekrotzar) und Wild (Go-Go) ein Blödelquartett vom Feinsten."

Auch Joachim Lange von der neuen musikzeitschrift ist begeistert: Das Fritsch-Theater sei hier "auf wundersame Weise maßgeschneidert. Fritsch macht keine Politsatire daraus - für die ja genügend untergangssüchtiges Ausgangspersonal zur Verfügung stünde. Die Frisur und die Krawatte des twitternden US-Präsidenten etwa wären im Original durchaus fritschkompatibel. Solche Rückschlüsse zu ziehen oder zu lassen überlässt er klugerweise dem Publikum. Er begnügt sich mit der Absurdität der Figuren, wie sie erdacht und komponiert sind. Und da staunte man in Meiningen nicht schlecht, wie viel vokale Wucht sie entfalten können, wenn sie so exzellent besetzt sind".

Weiteres: Im Tagesspiegel labt sich Christiane Peitz an der "süßen Weltenmüdigkeit", mit der Robert Wilson und der Berliner Rundfunkchor Bach-Motetten würzen (Berliner Zeitung).

Besprichen werden Stephan Kimmigs Inszenierung von Goethes "Faust I" mit Texten aus Elfriede Jelineks "FaustIn and out" in Stuttgart (Nachtkritik, FAZ), Feridun Zaimoglus "Luther" am Theater Kiel (Nachtkritik), Burkhard C. Kosminskis Uraufführung von Noah Haidles Stück "Für immer schön" mit Ulrike Folkerts am Nationaltheater Mannheim (Nachtkritik) und Wayne McGregors Choreografie "Autobiography" am Sadler's Wells Theatre in London (FAZ).
Archiv: Bühne

Film



Im Freitag lobt Jan Künemund Alain Gomis' kongolesisches Drama "Félicité": Erstaunlich sei, "wie konsequent der Film seine Bilder aus sozialen Verhältnissen herausarbeitet und sie gleichzeitig durchgängig ambivalent macht." Zu sehen gibt es jedoch "keine Zupoetisierung eines trostlosen Alltags, keine Verzauberung der Verhältnisse. Jedes Bild beharrt darauf, mehrdeutig gelesen werden zu können. Gomis öffnet für seine Heldinnen und Helden (...) selbstgemachte Schwellenfreiräume." Hier unsere Kritik von der Berlinale, wo der Film den Silbernen Bären gewann.

Jan Fehses Komödie "Unter deutschen Betten" mit Veronica Ferres hat in SZ-Kritiker Philipp Bovermann definitiv keinen Freund gefunden: "Der Film ein Lehrstück für alles, was an deutschen Komödien blöd ist: schriller Hupsala-Humor, der keinem wehtut, großzügige Ignoranz gegenüber der Außenwelt."

Weiteres: Hanns-Georg Rodek spricht in der Welt mit Michael Haneke über dessen neuen Film "Happy End". Jenni Zylka denkt auf ZeitOnline über Actionheldinnen nach und die Frage, ob deren Häufung auf der Leinwand nun aus feministischen Gründen zu befürworten sei. Urs Buehler zieht in der NZZ Bilanz nach dem Filmfest Zürich. "Verdientermaßen" wurde dort die Regisseurin Kirsten Tan für ihren Film "Pop Aye" ausgewiesen, schreibt Susanne Ostwald ebenfalls in der NZZ.

Besprochen werden der Trickfilm "My Little Pony" (FAZ) und die Ausstellung "Alles dreht sich... und bewegt sich - der Tanz und das Kino" im Filmmuseum in Potsdam (taz).
Archiv: Film

Literatur

Literarisch sehr grundsätzlich geht es heute zu. In der NZZ attestiert Alexandre Gefen der französischen Literatur, sich in einem neuen Humanismus wieder dem Subjekt zuzuwenden. Er sieht eine neue therapeutische Literatur, die heilen, pflegen, helfen oder zumindest guttun kann: "Unseren Demokratien sind die großen hermeneutischen und spirituellen Rahmenwerke verloren gegangen, die das Kollektiv zusammenhielten; und es scheint mir, als sähe man nun im literarischen Text die Verheißung, dass er das Einzigartige denken, den pluralisierten Identitäten Sinn verleihen, disparate Geografien wieder miteinander verweben und Gemeinschaften schaffen könnte. Die Instandsetzung tritt an die Stelle emanzipatorischer Perspektiven."

Wenn man Frédéric Wandelères Darlegungen in der NZZ Glauben schenken kann, dann findet die Poesie in der französischen Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr statt: "Das führt dazu, dass mit wenigen Ausnahmen alles, was nicht in den Rahmen von Fiktion und kommerzieller Literatur passt, von der Presse nicht mehr aufgenommen und somit von einem potenziellen Publikum abgeschnitten wird: Der Buchhandel folgt dieser Entwicklung, und etliche Bereiche der Literatur verschwinden in einer Art Geheimzone, einem Underground, dem sich fortan nur noch Spezialisten, begeisterte Spinner und vielleicht ein paar Literaturwissenschafter nähern."

Matthew Zapruder singt im Tagesspiegel-Essay ein Loblied auf die Poesie: Poeten schaffen "Räume, in denen die Imaginationen der Einzelnen aufeinandertreffen und interagieren können. ... Die Poesie verdrängt unsere gewöhnlichen Sprachgebräuche und Denkungsarten, damit wir auf andere Art denken und fühlen können", was Zapruder insbesondere angesichts der der immer größeren Rolle von Sozialen Medien in unserem Leben für umso wichtiger hält: "Je mehr Bedeutung die mobilen Kommunikationsmedien und die mit ihnen einhergehenden Informationsströme und 'Erfahrungen' bekommen, desto dringender brauchen wir ein Gegengewicht, Momente aufrichtiger Aufmerksamkeit."

Ball flach halten, ruft Arno Frank derweil in der taz all jenen zu, die angesichts der Ankündigungen einiger rechter Verlage, auf der Frankfurter Buchmesse präsent zu sein, bereits zu hyperventilieren beginnen - lasse sich die Zahl der rechten Stände doch an einer Hand abzählen: "Bei knapp 7.150 Ausstellern aus aller Welt - darunter gewiss auch viel fragwürdiger Mist - ist das nicht gerade eine Invasion zu nennen."

Weiteres: Im Standard unterhält sich Stefan Brändle mit Leila Slimani. "Die ukrainische Wortkunst blüht prächtig auf", berichtet Kerstin Holm in der FAZ vom Literaturfestival in Odessa. Und die SZ porträtiert auf der Seite 3 die französische Autorin Christine Angot.

Besprochen werden Manja Präkels' Debüt "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" (Freitag), Salman Rushdies "Golden House" (Zeit), Karin Schneuwlys "Glück besteht aus Buchstaben" (NZZ), Sasha Marianna Salzmanns "Außer sich" (Freitag, Standard), Gerhard Falkners "Romeo oder Julia" (Standard), Daniel Kehlmanns "Tyll" (Tagesspiegel), Franzobels "Floß der Medusa" (FR), Kengo Hanazawas Manga "I am a Hero" (Tagesspiegel), Brian van Reets "Beute" (Freitag), Petri Tamminens "Meeresroman" (Freitag) und Jana Hensels "Keinland" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Gert Loschütz' Gedicht" "Johannes Schenk baut einen Stuhl":

"Es ist alles ganz einfach
ein Stuhl sagt er
hat vier Beine einen Sitz eine Rückenlehne
..."
Archiv: Literatur

Kunst


Aufgenommen bei den Dreharbeiten zu Herzogs "Fitzcarraldo". Foto: Beat Presser

Hanns Georg Rodek hat die Ausstellung des Fotografen Beat Presser Berliner Galerie Egbert Baqué Contemporary genutzt, um einen Blick auf dem Film zu erhaschen, der am Set von Werner Herzog entstanden sind, aber eigentlich der großen Öffentlichkeit untersagt: "Dann sitzen maximal fünf Besucher vor einem Bildschirm und sehen die Sklaven von 'Cobra Verde' in ihren Ketten, und den Regisseur Werner Herzog, der sie dirigiert. Doch nein, es ist Klaus Kinski, der sie dirigiert. Mit einem Wortschwall, und den Schauspieler Peter Berling schubst er hin und her, dass dem Hören und Sehen vergeht - und der Regisseur verzieht sich aus dem Bild, irgendwohin. Es ist wie die Flucht vor einer Urgewalt."

Weiteres: Adrien Searle tummelt sich für den Guardian auf der Frieze Masters in London. Christa Benzer berichtet im Standard vom Galerienfestival Curated by in Wien. Nicola Kuhn stellt im Tagesspiegel die Künstlerin Beatrice Minda vor, die gerade als Stipendiatin des Auswärtigen Amts in Berlin ist.

Besprochen wird die große Raffael-Ausstellung in der Wiener Albertina (Welt).
Archiv: Kunst

Musik

Im Tagesspiegel berichtet Nadine Lange vom Glück, das ihr das Debütalbum "Take Me Apart" der "R'n'B-Avantgardistin" Kelela bereitet: "Allein schon das quecksilbrigere Schillern, das der Gesang durch Hall, Autotune, Vervielfältigung und zahllose zusätzliche Ahs und Ohs bekommt, ist atemberaubend. Auf höchste Intimität folgt maschinelle Distanziertheit, ein ewiges Warm-Kalt-Wechselspiel." Hier ein aktuelles Video:



Andreas Hartman staunt in der taz über Konrad Sprengers Fähigkeiten als Klangerzeuger: Er lässt seine Gitarre vom Computer per Algorithmus traktieren - und wie er es dabei "hinbekommt, dass seine Wundergitarre dann mal klingt wie eine Orgel, ein Spinett, eine Triangel und ein Hackbrett, ja teilweise wie ein ganzes Orchester verschiedener Instrumente, das ist schon ziemlich eigentümlich und geheimnisvoll. Irgendwann klingt es gar, als würde ein Zug vorbeirauschen; so viel aus einer E-Gitarre konnte nicht einmal Jimi Hendrix rausholen." Und das klingt dann alles in allem so.

Weiteres: Ueli Bernays denkt in der NZZ über den langsam verwehenden Ruhm von Lady Gaga nach. Mira Sonia Bahl porträtiert in der taz die Rapperin Ace Tee. Das Konzert der Wiener Philharmoniker in der Berliner Staatsoper nutzte Udo Badelt  im Tagesspiegel noch einmal zur ausgiebigen Klangprobe.

Besprochen werden ein Dokumentarfilm über Krautrock-Produzent Conny Plank (Freitag), das neue Album von "Schockhistoriker" Marilyn Manson (ZeitOnline), das neue Album von Cold Specks (Jungle World), ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit Mitsuko Uchida am Klavier (Tagesspiegel), das neue Soloalbum von Liam Gallagher (Welt), Berthold Seligers Buch "Klassikkampf - Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle" (FR), die Werkschau "Das ist DAF" (Standard), ein Konzert von Barry Guy (Standard) und eine große Edition mit Live-Aufnahmen von Maria Callas aus den Jahren 1949 bis 1964 (FAZ).
Archiv: Musik