Efeu - Die Kulturrundschau

Beng-deng-deng-deng-deng - zack

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24.10.2017. In Stuttgart hatte Humperdicks Märchen- und Hungeroper "Hänsel und Gretel" Premiere - ohne den inhaftierten Regisseur Kirill Serebrennikow. SZ, Welt und FAZ loben den engagierten und bewegenden Abend. Die NZZ lernt auch: Wir Konsumenten sind die Knusperhexe. Der Standard betrachtet mit Thomas Bayrle im Wiener MAK das Faszinosum kapitalistischer Massenproduktion. Die FR bemerkt, dass auch in Zombie-Serien Frauen eine andere Rolle spielen. Und im Zeit Magazin bedauert der Gestalter Tom Dixon, dass niemand mit ihm einen Design-Sarg bauen will.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.10.2017 finden Sie hier

Bühne

Kirill Serebrennikows "Hänsel und Gretel" in der Oper Stuttgart. Foto: Thomas Aurin

In Stuttgart sollte am Sonntag Humperdincks Märchen- und Hungeroper "Hänsel und Gretel" Premiere haben. Doch weil Kirill Serebrennikow vom russischen Staat unter ominösen Vorwürfen ins Gefängnis gesteckt wurde, musste das Haus die Oper ohne Regisseur aufführen, wie Reinhard J. Brembeck in der SZ  betont: "Wegen der Angriffe auf Serebrennikow durfte der Regisseur nicht ersetzt werden. Denn das Haus hätte sich zu einem willigen Handlanger Moskaus gemacht, wenn es die Show und das Operngeschäft hätte weiterlaufen lassen, als sei nichts geschehen. Stuttgart muss die Leerstelle in der Aufführung benennen, es muss diesen Opernabend nicht nur als Theateramüsement ausrichten, sondern auch ein politisches Signal setzen, um mit jeder gesungenen und gespielten Note zu fordern: 'Free Kirill.' Also wurde kein Ersatzregisseur benannt. Das Ensemble nahm die Sache selbst in die Hand und inszenierte frei nach Pirandello: 'Sechs Sänger suchen ihren Regisseur.'"

Serebrennikow macht in seiner Inszenierung Hänsel und Gretel übrigens zu Kindern aus Ruanda, einstmals eine deutsche Kolonie. Marco Frei schreibt dazu in der NZZ: "Der deutsche Kolonialismus als frühe 'Saat des Bösen': Dieser Aspekt gehört ganz wesentlich zur Gestalt der Hexe bei Serebrennikow. In seiner Sicht ist die Hexe generell ein Zustand: das System. Dazu gehört auch eine Wirtschaftsordnung, die ganze Erdteile ausbeutet, um den eigenen Konsum zu befriedigen. Deswegen wachen Hänsel und Gretel in dem Film mitten in der glitzernden Konsumwelt Stuttgarts auf. Mit Kameras wird überdies das Publikum im Opernhaus beobachtet und live eingeblendet, denn: Wir selbst, die Konsumenten, sind die Knusperhexe. Wir selbst, die Konsumenten, sind die Knusperhexe."

In der Welt berichtet Manuel Brug bewegt von dem solidarischen Abend, stellt aber schmerzlich auch fest, dass der Regisseur wirklich fehlte. In der FAZ erlebte auch Jan Brachmann den Abend trotz einiger offener Fragen als einnehmend und fröhlich.

Weiteres: In der Berliner Zeitung denkt Dirk Pilz über den Platz des Theater in der demokratischen Gesellschaft nach. Besprochen werden Ersan Mondtags Inszenierung von Aischylos' "Orestie" am Hamburger Thalia Theater (taz, FAZ), die Trash-Party "Feminista, Baby!" am Deutschen Theater (taz, SZ) und Milo Raus Lenin-Stück an der Berliner Schaubühne (die Peter Laudenbach in der SZ kitschig findet, Hanna Lühmann in der Welt nur scheinbar gefällig).
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Literatur

Irene Binal hat für die NZZ bei dem pakistanischen Schriftsteller Mohsin Hamid nach dessen Beweggründen für dessen Migrationsroman "Exit West" nachgefragt: "Ich wollte die Idee untersuchen, dass jeder Mensch von Geburt an ein Migrant ist", antwortet der. "Dass Flüchtlinge nichts Fremdes sind, sondern Archetypen der Menschheit. Wir sehen Migration als etwas Geografisches. Wenn ein Achtzigjähriger sein ganzes Leben in Berlin verbracht hat, bezeichnen wir ihn nicht als Migranten. Aber dieser Mensch kam zur Welt, als Hitler Deutschland regierte, er wuchs in einer zerstörten Stadt auf, vielleicht verbrachte er seine Jugend in der DDR. ... Jede Generation macht die Erfahrung der Migration. Wenn wir erkennen, dass wir alle dieses Schicksal teilen, können wir gemeinsame Werte aufbauen."

Weiteres: Die FAS dokumentiert online nachgereicht Wolf Wondratscheks Dankesrede zum Alternativen Büchner-Preis, den Wondratschek-Mäzen Helmut Maier ausgelobt und vergeben hat. Für die NZZ porträtiert Paul Jandl den Schriftsteller Saša Stanišić und dessen Perspektive auf das Thema "Heimat". Die Welt hat Hannes Steins Gespräch mit Ian Buruma, dem neuen Leiter der New York Review of Books, online nachgereicht. Für die Berliner Zeitung spricht Cornelia Geißler mit Philipp Kerr über Berlin. Im SWR-Essay denkt Manfred Koch über Ingeborg Bachmanns poetisches Testament nach.

Besprochen werden Monika Helfers "Schau mich an, wenn ich mit dir rede!" (SZ), Thomas Campis und Vincent Zabus' Comic "Magritte - dies ist keine Biografie" (Tagesspiegel), Uwe Kolbes "Psalmen" (SZ), Michael Rutschkys "In die neue Zeit. Aufzeichnungen 1988-1992" (taz), Jean Echenoz' "Unsere Frau in Pjöngjang" (FR), Dan Browns "Origin" (ZeitOnline) und Tom Robbins' "Tibetischer Pfirsichstrudel" (FAZ).
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Kunst

Thomas Bayrle: $, 1980. MAK
München und New York widmen dem achzigjährigen Thomas Bayrle nun große Ausstellungen, auch im Wiener Museum für angewandte Kunst ist der Pop-Art-Künstler zu sehen, mit der Schau "Wenn etwas zu lang ist - mach es länger". Im Standard kann Anne Katrin Fessler den Andy Warhol vom Main gut leiden: "Die kapitalistische Massenproduktion ('Beng-deng-deng-deng-deng - zack'), die perfekte Waren am Fließband rausdonnerte, faszinierte und irritierte ihn gleichermaßen. Eine Diskrepanz, die er dem Publikum zurückspiegelt: Beeinflusst von der Op-Art eines Victor Vasarely und Warhols Pop-Art stapelte er Massenprodukte zu Plastiken, die die Warenpyramiden in den Supermärkten parodierten; oder er bildete aus einer unendlichen Zahl von Miniaturbildern eine 'Superform'. Ideologische Unterschiede machte er zwischen politischen, religiösen und Alltagssymbolen nicht. 'Ich mischte - gegen den Protest meiner linken Freunde - kommunistische und kapitalistische Elemente.'"

Weiteres: In der Berliner Zeitung freut sich Ingeborg Ruthe über die Wiederentdeckung der türkischen Malerin Fahrelnissa Zeid, die als türkische Prinzessin zu einer Pionierin der Moderne wurde. Grandios findet SZ-Kritiker Alexander Menden die Ausstellung über die Skythen im British Museum.

Besprochen werden außerdem die Paul-Klee-Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen (Welt) und die Ausstellung "Flüchtige Territorien" im Kunstraum Niederösterreich (Standard).
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Film

In der Zombieserie "The Walking Dead" hat sich ein Wandel der Geschlechterbilder vollzogen, fällt FR-Kritikerin Sonja Thomaser auf: Früher wurde die Handlung noch von Mackern vorangetrieben, doch "je weiter die Serie voranschreitet, umso mehr verschwindet der Unterschied in der Darstellung von Macht, Stärke und Dominanz. ... Die Frauen sind Kämpfer. Die Frauen sind Entscheider. Die Frauen sind Anführer."

Außerdem spricht Robert Weixlbaumer mit der Filmemacherin Marie Dumora über ihre bei der Viennale gezeigte Langzeitstudie "Belinda".
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Design

Im Zeitmagazin-Gespräch mit Carolin Würfel erzählt der Möbeldesigner Tom Dixon davon, wie er für eine Kollaboration mit Ikea an den Türen des Möbelhauses angeklopft hat: "Die allererste Idee war ein Sarg. Den will ich nämlich seit 15 Jahren machen. ... Vor allem Särge werden als Designobjekte bis heute ignoriert, weil die Angst der Menschen vor dem Tod immer größer wird. Einen Sarg zu entwerfen wäre doch ein spannendes Projekt. Leider will es niemand mit mir realisieren. Auch nicht Ikea. Also schlug ich ein Bett vor. Ikea wollte aber lieber ein Sofa. Schließlich haben wir uns auf ein Sofabett geeinigt."

Lange Zeit hat sich das New Yorker Moma nicht mehr mit Mode befasst. Jetzt versucht man dort das Versäumnis mit der Schau "Is Fashion Modern?" nachzuholen, berichtet Miloš Vec in der FAZ. Doch zu seinem Bedauern erfahre man eher wenig über "die Grenzen des Angemessenen und Erlaubten" in der Geschichte der Mode. Immerhin "anschaulich werden wechselseitige Bezüge und interkultureller Austausch in der Modewelt. ... Dafür wirken Theoriebildung, Thesen und Systematik schwach, zumal der Katalog seine Schätze nur alphabetisch ordnet. Das ist weder innovativ noch mutig, und die Ausstellung erscheint am Ende mehr wie die Vorstudie zu einer wirklich interessanten, künftigen Schau, für die das Eis erst noch gebrochen werden musste." (Bild: Is Fashion Modern? Weißes T-Shirt. von Kristin-Lee Moolman und IB Kamara. Moma)
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Musik

Die Zeit hat Christine Lemke-Matweys Gespräch mit Mariss Jansons online nachgereicht, der gerade Gustav Mahlers Fünfte Sinfonie mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eingespielt hat: "Mahlers Werk ist eine musikalische Bibel. Ohne sie ist die Musik für mich unvorstellbar. ... Seine Musik erzählt vom Ganzen, vom menschlichen Kosmos, von der Liebe, vom Tod, von Schmerz, Humor, Sarkasmus, Ironie. Jeder Zuhörer kann in diesem Spiegel sein eigenes Gesicht finden."

Weiteres: Musikproduzent Nick Gold plaudert im Interview mit der NZZ über das von ihm vor 20 Jahren produzierte Album "Buena Vista Social Club". Oliver Maria Schmitt unterhält sich in der FAZ mit dem russischen Rockstar Sergei Schnurow.

Besprochen werden das Debüt von Vienna Rest in Peace (Standard), Nick Caves Berliner Auftritt (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), das Frankfurter Konzert von James Blunt (FR), ein Konzert von Alain Altinoglu und Lise de la Salle in Zürich (NZZ), ein Beethoven- und Rachmaninow-Konzert von Denis Matsuev und den Münchner Philharmonikern unter Valery Gergiev (FR) und ein Mahler-Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters unter Thomas Hengelbrock (Tagesspiegel).

Die Spex weist auf ein neues Video von Andreas Spechtl hin:

Archiv: Musik