01.11.2017. Die taz feiert die Rückeroberung des öffentlichen Raums bei der Biennale in Karatschi, allerdings nur unter Polizeischutz. Außerdem genießt sie den akademischen Jazz des Komponisten Tyshawn Sorey. Die FAZ bewundert im Brüsseler Théâtre de la Monnaie, wie Antonello Manacorda einen Teenager bändigt. Die NZZ erzählt von der verrückten Liebe der Iraner zur Dichtung. Der Standard wäre in Wien vornehmer Auktionsgesellschaft beinahe auf Trophäenjagd gegangen.
Kunst, 01.11.2017
taz-Kritiker Ingo Arend schickt Eindrücke aus dem bitterarmen und undurchdringlichen Karatschi, in das die pakistanische Kunstwelt zur ersten Biennale lud: "Der große Erfolg der Biennale jedoch ist die Wiedereroberung des Öffentlichen. Keine Kleinigkeit in einem Land, das im Westen als failed state geschmäht wird. Und in einer Stadt, die noch vor wenigen Jahren einem Labyrinth des Terrors glich. Ob es nun der Bandenkrieg zwischen den Nachfahren der indischen Einwanderer und zugezogenen Paschtunen war, bei dem sich jeden Morgen Leichenberge in den Straßen häuften. Oder die Terroranschläge der pakistanischen Taliban auf die liberale Hafen- und Handelsmetropole wenig später. Trotzdem igeln sich alle weiter in ihren stacheldrahtbewehrten Domizilen ein. Besonders für die wenigen ausländischen Besucher ist Vorsicht geboten: Die Künstler, Kuratoren und Journalisten, die zur Biennale-Eröffnung nach Karatschi eingeladen waren, wurden auf Schritt und Tritt von einer bewaffneten Polizeieskorte begleitet." (Bild: Karatchi Biennale 2017. Ungenannter Künstler)
Im Standardmeldet Olga Kronsteiner, dass Wiens Dorotheum in letzter Minute von der geschmacklosen Idee abgesehen hat, bei der Auktion "Tribal & Curiosity Sale" Totenköpfe aus Neuguinea, Borneo, den Philippinen und Nigeria zu versteigern: "Im Detail geht es um historische Trophäen, die, mit menschlicher Haut überzogen und mit Haaren verziert, von Stammesfürsten als Kopfschmuck getragen wurden."
Marian Brehmer schreibt in der NZZ über das Verhältnis Irans zu seinen Dichtern: "Dichtung ist in Iran mehr als nur eine antiquierte Ziersprache, sie ist eine eigenständige Form der Alltagskommunikation. Iraner denken in Gedichten. Sie zitieren ihre Dichter, wo sie nur können, und halten sie in so hohen Ehren wie kein anderes Volk. So sollte es nicht verwundern, wenn ein sonst genervter Taxifahrer im Teheraner Stau aus Langeweile plötzlich eine Rumi-Hymne anstimmt oder graue Hauswände in der iranischen Hauptstadt mit den bunten Kalligrafien beliebter Verse verziert werden."
Weiteres: Marta Kijowska porträtiert in der NZZ den Schriftsteller JózefHen, der im autobiografischen Teil seines Schaffens die Erinnerung an die untergegangene jüdische Kultur Polens bewahrt. Judith Leister blickt in der NZZ voraus aufs Gastland Georgien der Frankfurter Buchmesse im kommenden Jahr. Die Zeit hat Ursula März' Text über den gegenwärtigen Boom des Dorfromansonline nachgereicht. Besprochen werden eine dem Übersetzer PeterUrban gewidmete Ausstellung in Berlin (NZZ), BachtyarAlis "Die Stadt der weissen Musiker" (NZZ), neue Lovecraft-Ausgaben und -Biografien (Welt), iOTillettWrights "Darling Days - Mein Leben zwischen den Geschlechtern" (Tagesspiegel), NorbertHorsts Krimi "Kaltes Land" (Welt) und JeanEchenoz' "Unsere Frau in Pjöngjang" (FAZ).
Bühne, 01.11.2017
Mozarts "Lucio Silla" am Théâtre de la Monnaie. Foto: Hofmann
Schade, dass die Musiker der Komischen Oper Antonello Manacorda nicht als Generamusikdirektorhaben wollten, meint Jan Brachmann in der FAZ, denn im Théâtre de la Monnaie in Brüssel zeigt er mit der Oper "Lucio Silla" des jungen Mozart, was kann: "Manacorda lässt in den Bravourarien, von denen es hier entschieden zu viele gibt, die Bässe federn und die Streicher perlen, dass ein festlich-schwungvoller Strom zu fließen beginnt, aus dem dann Szenen wie die Totenanrufung im ersten Akt oder die Accompagnato-Rezitative des Cecilio wie der Giunia im zweiten Akt herausragen. Man muss Stabilität und Ordnung beschrieben haben, um die Fetzen fliegen lassen zu können, wenn der Teenager plötzlich Sturm-und-Drang-Musik schreibt."
Weiteres: Im Tagesspiegelberichtet Sandra Luzina vom Berliner Festival "Radikal", das Brüssels kosmopolitische Tanzszene präsentiert. In der NZZunterhält sich Daniele Muscionico mit der DDR-Schauspielerin Irma Münch, die nach 27 Jahren in Kontanz wieder auf der Bühne steht.
Besprochen werden Falk Richters Uraufführung von Elfriede Jelineks "Am Königsweg" am Hamburger Schauspielhaus ("Schlechtes altes Poptheater", mosert die FAZ, FR), Anselm Webers Bühnenfassung von Anna Seghers' Roman "Das siebte Kreuz" am Schauspiel Frankfurt (FR), die Bühnenversion von Wolfgang Herrndorfs "Tschick" am Theater Kanton Zürich (NZZ) und Cesare Lievis Reformationsstück "Hier stehe ich - ich kann nicht anders" am Stadttheater Klagenfurt (Standard).
Film, 01.11.2017
Nach Missbrauchsvorwürfen gegen KevinSpacey, der sich bei dieser Gelegenheit zum Zorn der Sozialen Medien abwehrend als homosexuell geoutet hat, hat Netflix das Ende der Serie "House of Cards" angekündigt - wobei die Tatsache, dass es sich bei der kommenden Staffel um die letzte des einstigen Aushängeschilds des Internet-Fernsehsenders wohl eh schon seit längerem intern beschlossen gewesen sein dürfte, wie Claudia Schwartz in der NZZfesthält: Schließlich sei die Serie zuletzt "allzu offensichtlich auf ein bedauerlich tiefes Niveau gesunken. ... Dass geplante Fortsetzungen von Serien - oder eben auch deren Ende - von Staffel zu Staffel kommuniziert werden, gehört indes schlicht zum werbeträchtigen Spannungsbogen; das ist das Kapital, mit dem diese epische Erzählgattung von Cliffhanger zu Cliffhanger auch wuchert. Netflix wollte ganz offensichtlich nicht vor dem Start der letzten Staffel die Vorfreude auf die große Abschiedsparty verderben."
Bert Rebhandl resümiert in der FAZ die HoferFilmtage, wo ihm JulianAmershis und MartinRiecks Dokumentarfilm "Der Motivationstrainer" über JürgenHöller als "einer der interessantesten aktuellen Filme über dieses Land" aufgefallen ist: "Gerade deswegen, weil sich hier eine Kultur zeigt, von der das Kino in der Regel wenig weiß. Die ersatzreligiösen Aspekte sind offensichtlich. Früher beteten die Menschen zu Gott, nun versuchen sie, sich so zu positionieren, dass sich das Universum vor allem ihnen zuspricht - in Form von Ideen, Schwingungen oder am besten gleich direkt Geld."
Weiteres: Beim Filmfestival im tschechischen Jihavla dominierten Dokumentarfilme über Politiker das Programm, berichtet Dominik Kamalzadeh im Standard: Ein Boom, der "mit Sicherheit auch eine Reaktion auf die populistische Zuspitzung in der (Bilder-)Politik" darstelle. Verena Lueken gratuliert dem Dokumentarfilmemacher MarcelOphüls in der FAZ zum 90. Geburtstag. Die Berlinale hat ein Panel mit ihm über dessen Film "The Memory of Justice" online gestellt:
Besprochen werden VérénaParavels und LucienCastaing-Taylors experimenteller, bei der Viennale gezeigter Traumessay-Film "Somniloquies" (Standard), das Biopic "Maudie" über die Künstlerin MaudLewis (FAZ), die zweite Staffel der Netflix-Serie "Stranger Things" (taz) und mal wieder ein neuer Marvel-Comicfilm über den Superhelden Thor (taz, FAZ).
Architektur, 01.11.2017
Dezeenfreut sich für das Londoner Architekturbüro dRMM über den Stirling Prize, den es für seine Erneuerung des Seebrücke vpn hastings erhält. FAZ-Korrespondentin Gina Thomas besucht in St Ives in Cornwall den Erweiterungsbau der dortigen Tate Modern.
Design, 01.11.2017
Die FAS hat Verena Luekens Gespräch mit der Modedesignerin JilSanderonline nachgereicht. In Frankfurt wird sie am kommenden Wochenende ihre erste Ausstellung eröffnen.
Musik, 01.11.2017
Steffen Greiner porträtiert in der taz den Jazzmusiker und Komponisten TyshawnSorey, der beim diesjährigen Jazzfest Berlin als erster Artist in Residence das Festival mit insgesamt vier Konzerten begleiten wird. Der fühlt sich in seiner Arbeit bislang zu oft auf "das Stereotyp des schwarzen Entertainers" reduziert: "'Schwarze sollen nach wie vor unterhaltsam sein. Wenn ich mit meinem Trio spiele, merke ich das nicht, es wird verstanden, dass ich die Tradition des Klaviertrios aufgreife und etwas Interessantes damit mache, etwas Persönliches', sagt Sorey. 'Aber wenn ich Kunst aus einer akademischen Perspektive mache, wenn ich als Schwarzer versuche, dieGrenzen, dieunsauferlegtsind, die uns sagen, wir könnten nur Jazz machen, zu durchbrechen, wird das beschwiegen.'" Auf Bandcampgestattet er Einblicke in seine Arbeit:
Christian Wildhagen hat für die NZZ das LucerneFestivalOrchestra unter dessen neuem Chefdirigenten RiccardoChailly auf deren Tour durch Japan und China begleitet. Der Überschwang des vor Begeisterung geradezu glühenden Publikums wirft ihn glatt um: "Eröffnete uns die konsequenteEvent-Vermarktung und Kommerzialisierung eben noch einen Blick in die mögliche Zukunft auch des europäischen Musikbetriebs, so erlebt man punkto Personenkult (...) das genaue Gegenteil - ein Flashback in die große Epoche der Stab-Heroen und Pult-Stars. Hier gilt der Dirigent, wie zu des seligen Karajan Zeiten, wirklich noch als Maestro, zum Gott geadelt durch die Kunst."
Weiteres: Für die NZZbesucht Thomas Ribi das Haus im Nidelbad, in dem JohannesBrahms den Sommer 1874 verbrachte. Stefan Hentz porträtiert in der NZZ die Jazzsängerin Cécile McLorin Salvant. Auf Pitchforkspricht John Carpenter über die Musik, die ihn im Laufe seines Lebens geprägt hat.
Besprochen werden das neue Album "Plunge" von FeverRay (Pitchfork, Spex, TheQuietus), ein Konzert des KammerorchestersBasel unter TrevorPinnock (NZZ), ein Konzert von SXTN (Tagesspiegel), das neue Album der Wiener Blues-Punks AshMyLove (Standard) und ein Konzert von ArchieShepp (FAZ).
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