Efeu - Die Kulturrundschau

Vulkanisch rülpsende Klangströme

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02.11.2017. Wo bleibt die Aufarbeitung der Schuld der Museen, fragen sich die Kritiker nach dem Besuch bei der "Bestandsaufnahme Gurlitt" in Bonn und Bern. Auch der NS-Kunstsammler kommt ihnen zu gut weg. In der Zeit fordert der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, verpflichtende Restitution auch für private Sammler. In der Nachtkritik plädiert der Dramaturg Necati Öziri für politisches Theater jenseits weißer Denksysteme. Die Kritiker vergeben Bestnoten für Nicolas Wackerbarths Fassbinder-Experiment "Casting".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.11.2017 finden Sie hier

Kunst

Bild: Max Beckmann, Selbstbildnis am Griffel. Blatt 19 der Mappe "Gesichter". 1919. Kunstmuseum Bern, Legat Cornelius Gurlitt 2014. Provenienz in Abklärung.

Unter dem Titel "Bestandsaufnahme Gurlitt" eröffnen in Bern und Bonn diese Woche gleich zwei Ausstellungen, die sich der Sammlung des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt widmen. Während in Bern nur jene Bilder ausgestellt werden, die frei vom Raubkunst-Verdacht sind, zeichnet die Ausstellung in Bonn insbesondere Gurlitts Verstrickungen ins NS-System nach.  In der Zeit erlebt Hanno Rauterberg eine durchaus "anregende Konfusion" zwischen Avantgarde- und Enteignungsgeschichte, vermisst aber eine Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung der Museen: "Un­aus­ge­spro­chen bleibt al­ler­dings, wie sehr es den Mu­se­en bis heu­te nützt, dass es schon bald nach dem Krieg zur Staats­rä­son ge­hör­te, un­be­dingt für mo­der­ne Kunst zu schwär­men, weil sie ja ein Op­fer der Na­zis ge­wor­den war. Un­aus­ge­spro­chen bleibt eben­falls, wie lan­ge sich die Mu­se­en zu­gleich wei­ger­ten, ih­re ei­ge­ne Tä­ter­rol­le zu be­fra­gen und ih­re Be­stän­de nach Raub­kunst zu durch­fors­ten."

In der SZ kann Jörg Häntzschel das Bemühen der Kuratoren, vor allem Gurlitts Engagement für die Avantgarde auszustellen und das Konvolut zu sortieren und zur Sammlung zu "adeln", nicht ganz nachvollziehen: "Ohne es zu wollen, werten sie Hildebrand Gurlitt mit all dem nicht nur als Sammler auf, sie machen ihn auch zum tragisch-zynischen Antihelden der Ausstellung, zu einem Geschichts-Chamäleon, dessen Lebensweg wir gebannt und mit einiger Sympathie verfolgen - bis zu seinem Grab. Die Gräber der jüdischen Sammler, deren Bilder Gurlitt zusammenkaufte, sind nicht abgebildet."

NZZ-Kritiker Philipp Meier kann sich der "Schönheit" der ausgestellten Kunstwerke trotz der "hässlichen Umstände" nicht entziehen. Dennoch: "Mit ihrer einheitlich und schlicht weißen Rahmung erinnern sie aber auch ein wenig an Patienten." In der Berliner Zeitung erscheint Harry Nutt der Titel der Ausstellung eher als "gut gemeinte Absichtserklärung als eine angemessene Bezeichnung des Gezeigten". Für die FAZ haben sich Rose-Maria Gropp und Julia Voss die Ausstellungen in Bonn und Bern angesehen.

Im Zeit-Gespräch mit Stefan Koldehoff kritisiert Ronald Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, nicht nur jene Häuser, die weiterhin keine Provenienzforschung betreiben, sondern fordert auch verpflichtende Restitution für private Sammler: "Ich be­fürch­te, dass pri­va­te Samm­lun­gen da­für mehr An­rei­ze brau­chen wer­den. Für mich ist das ei­ne der wich­tigs­ten Auf­ga­ben der Bun­des­re­gie­rung. Ich plä­die­re da­für, dass al­le re­le­van­ten Ak­teu­re - die Bun­des­re­gie­rung, das Deut­sche Zen­trum Kul­tur­gut­ver­lus­te, die Op­fer­or­ga­ni­sa­tio­nen - hier eng zu­sam­men­ar­bei­ten."

Wie konnte ein derart "vielfältiges" und bedeutendes Werk aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Welt so lange vorenthalten werden, fragt SZ-Kritiker Gottfried Knapp nach seinem Besuch der großen Gabriele-Münter-Schau im Münchner Lenbachhaus: Sie "hat die Farben und Formen, die sie in der Welt vorfand, als Aufforderung zur Wiedergabe empfunden; sie hat das Vorgefundene so kraftvoll verdichtet, dass Akkorde entstanden, die vergleichsweise natürlich wirken und doch viele erklügelte männliche Farbanstrengungen blass aussehen lassen." Bild: Gabriele Münter. Bildnis Marianne von Werefkin. 1909. Lenbachhaus München.

Weiteres: In der Berliner Zeitung gratuliert Antje Kraschinski der Dada-Künstlerin Hannah Höch zum 128. Geburtstag. Besprochen wird die Fahrelnissa-Zeid-Ausstellung in der Deutschen Bank Kunsthalle (FR) und die Gerhard-Richter-Ausstellung im Stedelijk Museum voor Actuele Kunst in Gent (Standard).
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Bühne

Die Nachtkritik hat die Rede online nachgereicht, die der Autor und Dramaturg Necati Öziri bei den 45. Römerberggesprächen in Frankfurt hielt. Necati plädiert hier für ein politisches Theater neuen Typus, das den gesellschaftlichen Pluralismus jenseits "weißer Denksysteme" abbilde. Das Schauspielhaus Frankfurt zum Beispiel habe Nachholbedarf, meint er: Auf der großen Bühne inszeniere "keine einzige Frau, im Ensemble gibt es keine*n einzige*n schwarze*n Schauspieler*in, unter den Autor*innen nicht eine*n mit einem sogenannten türkischen 'Migrationshintergrund'. Bei einer Stadt, so divers wie Frankfurt, deren Bevölkerung zu 50 Prozent eine Migrationszuschreibung hat, lässt sich das nicht nur mit fehlendem Bewusstsein erklären."

Bild: Szene aus "Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?"

Auf den letzten Metern scheint Rene Pollesch am Schauspiel Stuttgart die "Puste" auszugehen, glaubt SZ-Kritikerin Adrienne Braun, nachdem sie das Thesenstück "Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?" gesehen hat: "Privates gegen Politisches, Hippie und Bürger, Avantgarde und Popkultur - Pollesch wirft viele Gegensatzpaare in den Ring, um sie doch nur ad absurdum zu führen. Denken und Fühlen, Innen und Außen, Individuum und Kollektiv, im oder am System vorbei, die Kategorien werden obsolet und provozieren mit Bedacht die völlige intellektuelle Überforderung."

Weiteres: In der Berliner Zeitung porträtiert Petra Kohse die tunesische Dramatikerin, Regisseurin und Juristin Meriam Bousselmi.  Besprochen wird Alexander Riemenschneiders Inszenierung von Michael Köhlmeiers "Das Mädchen mit dem Fingerhut" am Deutschen Theater in Berlin (taz) und Wayne McGregors Gruppenstück "Eden", das den Auftakt des Premieren-Triple "MacMillan/McGregor/Ashton des Staatsballetts in der Wiener Staatsoper bildet (Standard).
Archiv: Bühne

Architektur

In der NZZ bewundert Antje Stahl die gelungene Mischung aus Transparenz und Undurchsichtigkeit im von dem Architekturbüro OMA umgebauten Regierungsgebäude in Den Haag: "Anders als der neue Saal à la Kubrick wirken diese nur nicht wie Bausteine einer Verschwörungstheorie. Der alte Kopf des Gebäudes aus Beton wurde verglast, so gewinnt jeder auf den 16 Etagen einen Ausblick über das flache Land bis nach Rotterdam. Und die Architektin öffnete den Eingangsbereich. Theoretisch kann dort nun jeder neben merkwürdigen weißen Plasticgrashalmen verschnaufen."
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Literatur

Für die NZZ spricht Carsten Hueck mit der Schriftstellerin Deborah Feldman über deren autobiografische Erzählung "Überbitten". Marc-Oliver Frisch gratuliert im Tagesspiegel dem Comiczeichner Steve Ditko zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die Benjamin/Brecht-Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin (SZ), Tristan Garcias "Faber - Der Zerstörer" (SZ) und Petra Morsbachs "Justizpalast" (FAZ).
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Film


Andrea Sawatzki in Nicolas Wackerbarths Impro-Satire "Casting"

In seiner weitgehend improvisierten Satire "Casting" erzählt Nicolas Wackerbarth von den Turbulenzen am Set der Dreharbeiten zu einem Remake des Fassbinder-Klassikers "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" - den Kritikern gefällt der Spaß ganz außerordentlich. Dieser Film "kommt als Spielfilm daher und wirkt wie ein Dokumentarfilm, von unruhiger Handkamera hautnah eingefangen, die Hysterie geschickt Stufe um Stufe steigernd, bis alle Nerven blank liegen", schreibt Christina Tillmann in der NZZ. "Aus der lustvollen Verwischung der Grenzen zwischen Sein und Spiel, gewinnen alle Beteiligten maximale Glaubwürdigkeit" - zumal das Ensemble "sich die Seele aus dem Leib spielt." Andreas Busche vom Tagesspiegel gratuliert restlos beglückt allen Beteiligten - Cast, Kamera, Regie, auch der Redaktion des SWR, die für diesen Film verantwortlich zeichnet, kriegen für diesen bösen Film von "scharfer Beobachtungsgabe" Bestnoten.

Dem Regisseur gehe es nicht darum, "die Experimente von Fassbinder nachzustellen, sondern mit dessen Ideen neu zu experimentieren", verrät Bert Rebhandl in der FAZ. Und versichert: "'Casting' ist ein großartiger Film über die Übergänge, aus denen künstlerisch etwas entsteht: eine Figur, ein Moment, eine Idee. Dass vieles dabei auch verlorengeht, ist der Preis, den Wackerbarth nicht verschweigt." Ziemlich unterhaltsam findet Barbara Schweizerhof in der taz auch, wie "präzise" die Figuren "den schwammigen, stammelnden Nettigkeitston der aktuellen Umgangssprache treffen, in dem sich hinter einem harmlosen 'Ist das okay für dich?' weitreichende Übergriffe verstecken können." Unsere Berlinale-Kritik hier.

Sehr begeistern kann sich die Filmkritik auch für "Good Time" der Brüder Benny und Josh Safdie, in dem zwei tappsige Brüder einen Banküberfall und dessen Nachspiel sehr eindrucksvoll vergeigen. Die Hauptrolle spielt Robert Pattinson, dessen Versuch, seinen Bruder aus der Haft rauszuholen, eine beeindruckende "Adrenalinreise in die leuchtende Dunkelheit der Neon-Nacht" darstellt, wie Thomas Groh im Perlentaucher schreibt. Ganz nebenbei zeigt dieser New-York-Film auch "die versteckte, aber verlässliche Solidarität der Armen", erklärt Jenni Zylka in der taz und freut sich über die "Vehemenz, mit der sich die amerikanische Independentszene (...) zu behaupten vermag." Juliane Liebert von der SZ hingegen glaubt, dass "es mehr Spaß macht, sich mit diesem Film zu profilieren als ihn wirklich anzusehen." Immerhin freut sie sich dann aber doch daran, wie sich hier "sozialer Realismus, Genrefilm und eine - auch durch die Musik - zum Teil regelrecht fantastisch anmutende Großstadtpoesie" überlagern. Den Soundtrack im kühlen 80s-Stil hat Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never komponiert:



Weiteres: In der taz empfiehlt Ekkehard Knörer die im Berliner Kino Arsenal gezeigten Filme von Pascale Ferran. Für ZeitOnline spricht Georg Etscheit mit "Heimat"-Regisseur Edgar Reitz über die Renaissance des Heimatbegriffs. Helmut Merker gratuliert im Tagesspiegel Marcel Ophüls zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Josef von Sternbergs 1953 in Japan entstandener, jetzt auf DVD veröffentlichter Film "The Saga of Anatahan" (taz), Alexei Utschitels in Russland von Skandalen und Anschlägen begleiteter Historienfilm "Mathilde" mit Lars Eidinger (eine "Schmonzette", die des Aufhebens nicht wert sei, urteilt Bernhard Schulz im Tagesspiegel), "Professor Marston & The Wonder Women", der die Entstehung der Comic-Superheldin Wonder Woman aus dem Geist einer Dreiecksbeziehung heraus erzählt (Tagesspiegel, SZ), William Oldroyds "Lady Macbeth" (SZ), Mariano Cohns und Gastón Duprats "Der Nobelpreisträger" (taz) und Fernando Pérez' "Últimos días en La Habana" (NZZ).
Archiv: Film

Musik

Ein geschichtsträchtiges Ereignis, da sind sich alle Feuilletons einig: Maestro James Levine, der wegen seiner Parkinson-Krankheit im Rollstuhl sitzt, dirigierte in Berlin Gustav Mahlers Dritte Sinfonie - jedoch nicht vor den Berliner Philharmonikern, wie es 74-Jährige im Laufe seiner Karriere sonst stets vorgezogen hatte, sondern erstmals vor Daniel Barenboims Staatskapelle. Und diese schlug "an diesem Abend jedwede Konkurrenz", schwärmt Eleonore Büning in der NZZ. Das Orchester "verwandelt sich unter Levines Händen zum symbiotischen Wunschtraum jedes Dirigenten: Biegsam und präzis bis in alle Extreme, alert im Zusammenspiel, machtvoll, brutal und glänzend in den Tutti, lieblich, weich und farbenintensiv in allen Stimmgruppen und dazu ein Pianissimo, leicht und flüchtig wie eine Erinnerung."

Heute spiele man Mahler "mit rasenden Tempi, brutalen Akzenten und überhitzten Klangexzessen", erklärt Wolfgang Schreiber in der SZ. Doch dieser Mode verweigere sich Levine: Er "hat, seinem Alter entsprechend, bei aller konzentrierten Anspannung zu einer abgrundtiefen Gelassenheit gefunden, abgeklärt durch Mahlers Partitur blätternd. Das Ergebnis ist die schier berauschende Plastizität der Klangdetails und der ins Große führenden symphonischen Architektur." Im Deutschlandfunk Kultur hatte Matthias Nöther vorab mit Levine gesprochen.

Weiteres: Jan Paersch unterhält sich in der taz mit dem Jazzmusiker John Beasley, der am kommenden Sonntag beim Jazzfest Berlin ein Konzert mit Thelonious-Monk-Arrangements spielen wird. Stefan Michalzik resümiert in der FR das 48. Jazzfestival in Frankfurt. Thomas Lindemann freut sich in der taz auf die Tour von Mogwai. Besprochen werden ein Konzert von MusicAeterna und Teodor Currentzis in Frankfurt (FR) und das neue Album von Fink (Jungle World).
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Design

Immer mehr vernetzte Gadgets durchdringen, messen, protokollieren und stützen unseren Alltag - eine interessante Herausforderung fürs Design, meint Oliver Herwig in der NZZ: "Wie lässt sich das Nichts gestalten? Noch gibt es greifbare Portale zur Netzwelt: Mobilfunkgeräte, Computer und Geräte wie Amazon Alexa oder Google Home: Dinge, die aussehen wie Kaffeevollautomaten oder Kieselsteine, aber eigentlich nicht mehr notwendig sind in einer Welt des ununterbrochenen Informationsflusses. ... Die Rolle der Designer verschiebt sich von der Formfindung, der Hardware, zur Gestaltung des Systems dahinter. Sie definieren die Übergänge von Objekt, Selbst und Raum, die Nutzeroberflächen, und damit unseren Zugang zur Gemeinschaft, zur Welt."
Archiv: Design
Stichwörter: Benutzeroberfläche, Gadgets