Efeu - Die Kulturrundschau

Den Leser zum Weinen bringen

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03.11.2017. Der Guardian stellt unbequeme Fragen: Ist es in Ordnung, das antisemitische Ende eines Shakespeare-Stücks zu ändern? Und darf man Bilder von Menstruationsblut in der U-Bahn zeigen? Zeitonline liest von Künstlicher Intelligenz verfasste Kurzgeschichten aus Japan. Das artmagazin erlebt bei der Off-Biennale in Budapest eine Gegenwelt zur reaktionären Stimmung in Ungarn. In der taz spricht Lars Eidinger über sein erstes HipHop-Album.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.11.2017 finden Sie hier

Literatur

Für ZeitOnline hält Philipp Bovermann Ausschau nach den ersten Schriftstellern, die keine Menschen mehr sind, sondern Computer mit Künstlicher Intelligenz. In Japan hat es eine von einer KI verfasste Kurzgeschichte immerhin schon auf die Shortlist für einen Science-Fiction-Preis geschafft - ohne dass die Juroren gewusst hätten, aus wessen Feder das Werk eigentlich stammt - "allerdings hatten die japanischen Programmierer zentrale Parameter der Handlung und der Figuren vorgegeben", denn ansonsten entstehe allenfalls buchstäblich écriture automatique mit entsprechendem Kauderwelsch. Man müsse Algorithmen mit konkreten Zielvorgaben füttern. Etwa "bringe den Leser zum Weinen. 'Das wäre ein Ziel, das wir sogar in den nächsten Jahren formulieren könnten', sagt KI-Experte Frank Feulner." Eine Hypothese: "Texte werden mit ihrem Leser interagieren und sich seinen Bedürfnissen anpassen können. Wie ein gelangweilter Leser aussieht, das wissen wir. Auch einer Software wäre es leicht beizubringen. Sensoren am E-Book-Lesegerät könnten die Gesichtszüge erfassen und gegebenenfalls das Erzähltempo hochfahren."

Weiteres: Fabian Busch porträtiert in der NZZ die flämische Schriftstellerin Lize Spit, die mit ihrem Debütroman "Und es schmilzt" in Flandern und den Niederlanden sagenhaft erfolgreich war. Für die SZ unterhält sich Lars Langenau mit Walter Moers, der nach langer Publikationspause nicht nur einen neuen Roman, sondern auch einen neuen Comic aus seiner Fantasywelt Zamonien veröffentlicht. Außerdem spricht Alexander Menden in der SZ mit Richard Harris über dessen neuen Roman "München", der vom britischen Premier Neville Chamberlain und dem Münchner Abkommen handelt.

Besprochen werden die Brecht/Benjamin-Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin (FAZ), Nina Jäckles "Stillhalten" (SZ), Kurt Steinmanns Neuübersetzung von Homers "Ilias" (NZZ), Martina Clavadetschers "Knochenlieder" (NZZ), Rafik Schamis "Sami und der Wunsch nach Freiheit" (Tagesspiegel), Emilia Smechowskis "Wir Strebermigranten" (Tagesspiegel), eine Ausstellung über 60 Jahre "Homo Faber" im Max-Frisch-Archiv in Zürich (NZZ), eine Ausstellung über den im 19. Jahrhundert immens erfolgreichen Benziger Verlag in Einsiedeln (NZZ), und Michael Farins heute beim BR ausgestrahlte Hörspielbearbeitung von Nanni Balestrinis Roman "Der Verleger" über den linken Publizisten Giangiacomo Feltrinelli, der 1972 beim Versuch, einen Strommast zu sprengen, ums Leben kam (taz).
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Kunst

Bild: Sven Johne. A Sense of Warmth.

Als "großen Wurf" würdigt im artmagazin Susanne Altmann die Budapester Off-Biennale, die unter dem Titel "Gaudiopolis" - angelehnt an die gleichnamige, heute fast vergessene Kinderrepublik, die sich Waisen- und Kriegskinder von 1945 bis 1951 in Ungarn schufen - eine "hoffnungsvolle Gegenwelt" zur reaktionären Stimmung in Budapest entwirft. "Macht jetzt endlich wieder Republik" scheinen die Künstler und Kuratoren zuzurufen, meint Altmann: "Auf dem Dach einer Forschungssternwarte etwa, hoch auf den Hügeln von Buda, stellen die Kanadier Richard Ibghy und Marilou Lemmens mittels Miniaturlaboren Versuche an manipulierten Tieren nach: der Hase, der als Sensor für giftige Luft abgerichtet ist, die kastrierten Hunde, die auf Befehle oder die Raben, die auf Fleischbrocken reagieren. Hier oben atmet es sich leichter und man mag kaum glauben, dass da unten im majestätischen Flusstal, namentlich im nun spielzeugklein wirkenden Parlamentsgebäude immer wieder neue Perfidien gegen das freie Denken ersonnen werden."

Dass Bonn und Bern die Gurlitt-Ausstellung wenigstens nicht als "rauschendes Kunstfest" inszeniert haben, rechnet Welt-Kritiker Hans-Joachim Müller den Kuratoren hoch an. Vor allem in Bern hätte er aber gerne mehr über die Verflechtung der Schweiz in den NS-Kunsthandel erfahren: "Aber wohl ist es für ein helvetisches Publikum schon eine Zumutung, wenn es erfährt, dass nun auch in Bern die gesamten Museumsbestände auf fragliche Provenienzen hin untersucht werden sollen. 40 Prozent der verwahrten Werke, schätzt die zuständige Kunsthistorikerin Nikola Doll, seien derzeit noch ohne gesicherte Herkunftsnachweise."

In der Berliner Zeitung lobt Ingeborg Ruthe die "nüchterne" Ausstellung im Berner Museum, das eine eigene Provenienzwerkstatt gründete. Aber: "freilich unkten in der Schweiz Zweifler, die Gabe könne sich, laut griechischer Sage, gar in eine Art König-Midas-Geschenk verwandeln. Also in Gold, aus dem fatale Folgen erwachsen würden." Michael Kohler, ebenfalls in der Berliner Zeitung, attestiert der Bonner Ausstellung vor allem "symbolischen Wert": "An der Sammlung Gurlitt wird ein Exempel statuiert, allerdings mit dem Beigeschmack einer Entrümpelung: Jedes Werk, das zurückgegeben werden kann, bezeugt den guten Willen und rechtfertigt die auch juristisch fragwürdigen Umstände des Falls - etwa die vermutlich illegale Durchsuchung der Wohnung von Cornelius Gurlitt." Für den Tagesspiegel bespricht Bernhard Schulz beide Ausstellungen.
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BBild: Twitter: Tova @ptitpainsuedois
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Bild: Twitter: Tova @ptitpainsuedois

Während hierzulande vor einigen Wochen noch über die religiösen Kacheln, die Markus Lüpertz in der Karlsruher U-Bahn anbringen will, diskutiert wurde (unser Resümee), versetzen derzeit Grafiken der schwedischen Künstlerin Liv Strömquist, die Frauen mit unrasierten Beinen und sichtbarem Menstruationsblut zeigen, die Pendler in der schwedischen Metro, der tunnelbana, in Aufruhr, meldet Elle Hunt im Guardian. Martina Viklund, Sprecherin der Stockholmer Transport Gesellschaft, erklärt: "Kunst ist eine Traditionsform, in der der menschliche Körper immer Gegenstand der Interpretation gewesen ist. Durch das Zeigen der Kunst von Liv Strömquist wollen wir den Körper in all seinen Ausprägungen und Formen feiern.
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Musik

Jan Paersch porträtiert in der taz den Trompeter Ambrose Akinmusire, der für das Jazzfest Berlin eine Arbeit über die Erfahrungen schwarzer Frauen im Gefängnis komponiert hat. Die Versuche des Jazzfests Berlin, sich zu verjüngen, sind im übrigen geglückt, berichtet Jan Kedves derweil in einer Zwischenbilanz in der SZ: Das liege auch an Acts wie Shabaka Hutchings und seinem Ensemble The Ancestors: "Ist Jazz neben Hip-Hop gerade wirklich die politischste aller populären Musiken", fragt sich da der Kritiker nach dem Konzert und beobachtet außerdem: "Jazz wirkt im Jahr 2017 nicht allein deshalb zeitgenössisch, weil er von jungen Menschen für ein junges Publikum gespielt wird, sondern weil er (...) größtmöglichen Abstand zur digitalen Ästhetik und Taktung hält."

Als ein Heilsbringer zur Verjüngung des Jazz gilt seit geraumer Zeit auch Kamasi Washington. Dessen Auftritt beim Zürcher Festival Jazznojazz konnte Ueli Bernays indessen nicht richtig viel abgewinnen: Die Musik "versetzte einen nicht in die klangliche Zukunft. ... Vielmehr wurde man an die sechziger und siebziger Jahre erinnert", schreibt er in der NZZ. Zu kurz kam auch "das dialogische Zusammenspiel." Immerhin bringen Washington und seine Band "die afroamerikanischen Essenzen des Jazz wieder vermehrt ins Bewusstsein und unter das Publikum."

Lars Eidinger plaudert im Gespräch mit der taz über sein Instrumental-HipHop-Album, das er vor über 20 Jahren eingespielt hat und das in diesen Tagen wiederveröffentlicht wird. Den heutigen Theaterstar hatten damals "noch mehr als DJ Shadow die Beastie Boys beeindruckt, die viel mit Samples gearbeitet und immer wieder rein instrumentale Stücke aufgenommen haben. Ich war damals einfach auf der Suche nach Musik ohne Gesang, wollte aber nicht gleich Jazz hören. Das hat mich zum Instrumental-HipHop gebracht."

Weiteres: Sylvia Prahl befragt Robert Forster für die taz zu seinem neuen Buch über seine Zeit bei den Go-Betweens. In der taz spricht Andreas Fanizadeh mit Schorsch Kamerun über die Pläne für den nach einem Brand wiedereröffneten Hamburger Golden Pudel Club, für den es am kommenden Samstag eine Benefizveranstaltung in Berlin geben wird. Ueli Bernays schreibt in der NZZ zum Tod des Jazz-Avantgardisten Muhal Richard Abrams. Und beim Logbuch Suhrkamp präsentiert Thomas Meinecke eine neue Folge seiner "Clip//Schule ohne Worte". Hier die Videos in einer Playlist:



Besprochen werden das neue Album von James Holden und den Animal Spirits (Spex, The Quietus), das von Riccardo Muti dirigierte "Requiem" von Verdi (SZ), Konzerte von Nick Cave (Standard), 2raumwohnung (Berliner Zeitung), Amirtha Kidambi und Steve Lehman (Berliner Zeitung) sowie neue Popveröffentlichungen, darunter ein Coveralbum von Gregory Porter (ZeitOnline). Hier eine Hörprobe:


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Film

Das DOK Leipzig begeht seinen 60. Jahrgang. In der taz blickt Denis Giessler auf die bewegte Geschichte des Festivals im Ost/West-Konflikt zurück. Als in den späten 80ern plötzlich die Perestroika aus der Sowjetunion über das Festival hereinbrach, zeigte sich die SED-Führung irritiert, erfahren wir: Die russischen Filme thematisierten offen die Schieflagen im Sozialismus. "Das Publikum ist begeistert, das SED-Zentralkomitee wegen der 'ideologischen Entgleisungen' aus der Sowjetunion entsetzt." Im nächsten Jahr werden die sowjetischen Filme "von höchster Stelle separat geprüft - und zensiert. Der politische Umbruch lässt sich dadurch nicht aufhalten: Auf Weisung der SED wird eine Reportage des DDR-Fernsehens über den ersten DDR-eigenen 1-Megabit-Chip mit einem Preis geehrt. Dabei hinkt die Technik im internationalen Vergleich um mehrere Jahre hinterher. 'Das Publikum durchschaute das verlogene Schauspiel und lachte die Preisträger aus', erzählt der Journalist Nobert Wehrstedt."

Die Viennale 2017 unter dem Interimschef Franz Schwartz wird als Übergangsjahr in die Festivalgeschichte eingehen, resümiert Dominik Kamalzadeh im Standard. Außerdem wünscht er sich, dass der im August überraschend verstorbene Festivalleiters Hans Hurch durch ein Team ersetzt wird: "Keine Einzelperson hat die Übersicht über eine jährlich weiter wuchernde Anzahl von Filmen." Zahlreiche Besprechungen zu den aktuellen Viennale-Filmen bietet der Standard an dieser Stelle.

Weiteres: In der Berliner Zeitung porträtiert Harry Nutt Tom Tykwer, der der kommenden Berlinale als Jurypräsident vorstehen wird.

Besprochen werden Benny und Joshua Safdies Thriller "Good Time" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), die neue Staffel der Netflix-Serie "Stranger Things" (NZZ), Nicolas Wackerbarths Satire "Casting" (Zeit, Welt, hier unsere Kritik), die Künstlerbiografie "Gauguin" mit Vincent Cassel in der Titelrolle (SZ), "The Secret Man" mit Liam Neeson als Watergate-Informant "Deep Throat" (Welt), das Biopic "Professor Marston & The Wonder Women" (FR), der russische Historienfilm "Mathilde" mit Lars Eidinger (FR) und die Sitcom "Better Things" (Freitag).
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Bühne

Bild: Szene aus "Sand in the Eyes". Joachim Dette.

In der Nachtkritik hat sich Alexander Jürgs Rabih Mroués Stück "Sand in the Eyes" am Staatstheater Wien angesehen, in dem sich der libanesische Regisseur mit einer dokufiktionalen Performance den Propagandavideos der IS-Terroristen widmet, und fragt: "Warum unterscheiden wir zwischen den fiktiven Bildern des Tötens, den opulenten Schlachten des Hollywood-Kinos, dem Kitzel des Sonntagabendkrimis, und den Bildern von realen Tötungen? Warum ertragen wir die aus der Ferne und in Schwarzweiß aufgenommen Drohnen-Videos, die den Tod von Menschen, von unschuldigen Zivilisten genauso wie Terroristen, zeigen, wenn wir sie in Dokumentationen oder der Tagesschau zu sehen bekommen? Warum ertragen wir dagegen die Propaganda-Videos der Bildkünstler des Islamischen Staats nicht, die unverpixelt und in HD-Qualität zeigen, wie einem Gefangenen der Kopf abgetrennt wird?"

Das australische Theaterensemble Bell Shakespeare hat für seine Aufführung des "Kaufmanns von Venedig" im Opernhaus Sydney Shakespeares antisemitischen Schluss kurzerhand geändert, erzählt im Guardian Clarissa Sebag-Montefiori, die das ziemlich fragwürdig findet: "Ist es nicht wirkungsvoller, Vorurteile der Vergangenheit anzuerkennen und sich damit zu konfrontieren, anstatt zu versuchen, die Geschichte neu zu schreiben? Shakespeare so stehen zu lassen, wie er ist - mit allen Auswüchsen - hat einen Sinn: Es entlarvt die unangenehme Seite der antisemitischen Gesellschaft und eine Vergangenheit, die wir im 21. Jahrhundert kennen müssen, um sicherzustellen, dass wir sie nicht wiederholen."

Für den Tagesspiegel porträtiert Patrick Wildermann die israelische Autorin Sivan Ben Yishai, die mit ihrem von Sasha Maria Salzmann inszenierten Stück "Die Geschichte vom Leben und Sterben des neuen Juppi Ja Jey Juden" die "Radikalen Jüdischen Kulturtage" im Berliner Maxim Gorki Theater eröffnet: "Als sie nach Berlin kam, erzählt Ben Yishai, da wollte sie den Widerstand gegen die Politik der israelischen Regierung und die Okkupation über die Grenzen ihres Landes tragen. Eine internationale Debatte vorantreiben. Was ihr jedoch oft begegnete, das war die einseitige Sicht von vermeintlichen Musterschülern der Geschichte, die sich auf der sicheren, zivilisierten Seite wähnten. Und die mit Schaulust und Gruselgenuss einen Eindruck von der Gewalt und den Verfehlungen in Israel bekommen wollten."

Weiteres: Neun Tanzarbeiten aus Belgien sind nun im Berliner Radialsystem zu sehen, berichtet Astrid Kaminski in der taz und unterzieht Berlin und Brüssel, die beiden inoffiziellen Tanzhauptstädte Europas, einem Vergleich. In der SZ lobt Jürgen Becker Amir Reza Koohestani Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" und Mpumelelo Paul Grootbooms Stück "Crudeland" als gelungenen Neustart des Intendanten Peter Carp am Freiburger Theater. 

Besprochen werden das vom Ensemble Skart inszenierte Stück "Tunix!" auf Kampnagel (nachtkritik), Willy Deckers Neuproduktion von Claudio Monteverdis Oper "Heimkehr des Odysseus" an der Hamburgischen Staatsoper (taz), Erik Schäfflers Inszenierung von Daniel Kehlmanns "Ruhm" am Hamburger Theater im Zimmer (taz), Sharon Eyals Choreografie "Soul Chain" im Mainzer Staatstheater (FR), Emmanuelle Bastets "Hochzeit des Figaro" am Staatstheater Darmstadt (FR), Riccardo Mutis Aufführung von Verdis Requiem in München (SZ), Frederick Ashtons "Marguerite and Armand", Kenneth MacMillans Schostakowitsch-Ballett "Concerto" und Wayne McGregors Tanzstück "Eden/Eden" am Wiener Staatsopernballett (FAZ).
Archiv: Bühne