Efeu - Die Kulturrundschau

Der Rausch solcher Erleuchtung

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15.11.2017. SZ und Zeitonline sind sich uneins: Ist Jan Henrik Stahlbergs "Fikkefuchs" der wichtigste deutsche Film des Jahres oder ein frauenfeindliches Machwerk? Auch Theaterkriege sind nur Theater, beruhigt Chris Dercon in der NZZ. In der FR ahnt die Schriftstellerin Nnedi Okorafor: Wenn Aliens in Afrika landen, dann zuerst nach Lagos. Die taz testet schon mal afrikanische Kolonien im Weltall.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.11.2017 finden Sie hier

Film


Entlarvte Widerlinge: Szene aus Jan Henrik Stahlbergs "Fikkefuchs"

Über Jan Henrik Stahlbergs an den Fördergremien vorbei gedrehte Männer-Satire "Fikkefuchs" werden sich Oliver Kaever (ZeitOnline) und Tobias Kniebe (SZ) in diesem Leben wohl nicht mehr einig. Der Film handelt von einem alternden Aufreißer, der auf einen jungen Aufreißer trifft - bzw. von beider wirrem Verhältnis zu Frauen. Kniebe sah einen "erstaunlich gnadenlosen, erstaunlich komischen, erstaunlich entlarvenden Film" und sowieso ist "Fikkefuchs" wohl "der lustigste und womöglich auch der wichtigste deutsche Film des Jahres". Und zumindest der ältere der beiden Aufreißer "ist nah genug dran an der Wirklichkeit, um bei seinen Geschlechtsgenossen Fremdschämattacken, schrilles Auflachen und echte Erkenntnisqualen zu provozieren. Was für Frauen dann ja auch sehr aufschlussreich sein dürfte."

Oliver Kaever lehnt diesen Film dagegen mit geradezu schäumender Vehemenz ab - zumal er in den "Leerstellen" dieser "immer unangenehmer und ekliger werdenden" Parade "widerlicher Figuren" auf eine "atemberaubende Misogynie" gestoßen ist. Dass in dieser Satire über kaputte Typen nur kaputte Typen zu sehen gibt, hält er für infam - kein partnerschaftswilliger Mann weit und breit. Auch das Frauenbild des Films sei "zum Gruseln". Die Entlarvung nimmt er Regisseur und Hauptdarsteller Stahlberg nicht ab: Wenn es in "Fikkefuchs" fiesen Sexismus zu sehen gibt, dann "immer ironisch verharmlosend. Ist doch nur Spaß."

Wo sind dann die interessanten Frauenfiguren? Vor allem im Fernsehen skandinavischer Provenienz, schreibt die Filmwissenschaftlerin Kerstin Stutterheim in der NZZ. Andere Produktionsstandorte hinken hinterher, sagt sie: "In angloamerikanischen Serien werden die wenigen zentralen Frauenfiguren oft demontiert, bevor sie allenfalls über Aspekte wie Schwangerschaft oder Mutterglück zu gleichwertigen, positiven Hauptfiguren ausgestaltet werden können."
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Literatur

Die Schriftstellerin Nnedi Okorafor, deren Eltern aus Nigeria in die USA migriert sind, schreibt preisgekrönte, in Afrika spielende Fantasy-Romane und hat vor einigen Jahren mit ihrer Kritik an der Büste des World Fantasy Awards, die H.P. Lovecraft - der mitunter stark rassistische Ansichten pflegte - zeigt, eine bis heute geführte Debatte innerhalb der Fantasy- und SF-Szene ausgelöst. Im Interview mit der FR erzählt Okorafor unter anderem, warum Lagos in ihrem Werk so eine große Rolle spielt: "Wenn Aliens nach Afrika kämen, wo würden sie hingehen? Natürlich würden sie nach Lagos gehen. Wohin denn sonst? Lagos ist eine unglaublich hektische, furchteinflößende, wundervolle, verblüffende, verrückte, sich entwickelnde, gigantische Stadt. ... Jedes Mal, wenn ich dort war, habe ich Unglaubliches gesehen." Berüchtigt ist etwa der Straßenverkehr der Stadt: "Da sah ich einen Mann, der mit einer Peitsche auf die Autos einschlug, als seien sie Pferde. Ich sah eine Frau in einem majestätischen Kleid, die sich selbst offenkundig sehr darin gefiel und in aller Ruhe die dichtbefahrene Straße kreuzte. Einen Autofahrer störte das und statt zu hupen, stupste er sie mit seinem Wagen an, damit sie schneller ginge."

Andere Beobachtungen wiederum im Straßenbild Berlins machte die Schriftstellerin Deborah Feldman, die vor ihrer ultraorthodoxen jüdischen Familie in den USA Reißaus genommen und jetzt in Deutschland lebt: Zwar gefällt es ihr gut hier erklärt sie im SZ-Gespräch Thorsten Schmitz, ein Nachteil sei aber, "dass viele Deutsche zwanghafte Charakterzüge aufweisen, Neurosen pflegen, die therapiert gehörten. Ein Nachteil ist auch, dass hier jeder Polizist sein will. Ich beobachte das sogar jetzt schon bei mir. Manchmal packt mich das Bedürfnis, auf dem Radweg Fußgänger anzubrüllen. ... Viele Deutsche haben eine große moralische Sehnsucht, erlöst und gereinigt zu werden von diesen zwanghaften Charakterzügen. Das gefällt mir."

Dem "Kampot Readers and Writers Festival" ist es in diesem Jahr nicht gelungen, kambodschanische Gegenwarts-Schriftsteller aufzutreiben, berichtet Marco Stahlhut in der FAZ. Das mag mit der blutigen Geschichte des Landes  zu tun haben, schreibt er, doch gebe es durchaus kambodschanische Gegenwartsliteratur: "Dass an sie nicht un­be­dingt in­ter­na­tio­na­le Maß­stä­be an­ge­legt wer­den kön­nen, kann an­ge­sichts der jün­ge­ren Ge­schich­te nicht über­ra­schen. Aber soll­te ein Le­ser- und Au­to­ren­fes­ti­val nicht die Tat­sa­che ih­rer Exis­tenz, ih­re Wi­der­stands­kraft und Neu­ge­burt fei­ern - als klei­nes Wun­der in die­sem Land, des­sen Schrift­stel­ler aus­ge­löscht wer­den sollten?"

Weiteres: Jana Volkmann porträtiert für den Freitag den politischen Krimiautor Leonhard F. Seidl. Ab heute können die Studierenden der Berliner Alice-Salomon-Hochschule über den Verbleib von Eugen Gomringers Gedicht "Avenidas" an der Fassade des Lehrgebäudes abstimmen, berichtet Katja Belousova in der Welt. Im Deutschlandfunk Kultur erinnert Anette Schneider an die vor 75 Jahren gestorbene Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach.

Besprochen werden Péter Nádas' "Aufleuchtende Details" (taz), Juli Zehs "Leere Herzen" (ZeitOnline), John Burnsides "Ashland & Vine" (Tagesspiegel), Jean Echenoz' Agententhriller "Unsere Frau in Pjöngjang" (ZeitOnline) und Salman Rushdies "Golden House" (Standard).
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Musik

Die Kritiker machen aus dem neuen Album von Taylor Swift ein Großereignis: Die Sängerin "verabschiedet sich endgültig vom Country- und Radiopop ihres Frühwerks", erklärt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Sie schwenke um "auf die härteren Gangarten, die der US-Mainstream hergibt. ... Es gibt Sex, Lügen und Alkohol, aber Partystimmung will nicht aufkommen." Was auch damit zu tun habe, dass Swift auf dem Album all ihre Twitter-Fehden und Männergeschichten im Popbiz der letzten Jahre aufarbeitet. Doch dabei "entwickelt sie keinen Spaß daran, sich die Hände schmutzig zu machen", schreibt Gerhardt weiter. Das Album bleibe "freud- und ohrwurmlos".

Auf die Musik kam es bei Taylor Swift ja sowieso nie so richtig an, hält Andreas Borcholte auf SpOn dagegen: In erster Linie ist sie "eine große Pop-Erzählerin, die ihre inneren Widersprüche und Konflikte in pointierte Lyrics und stimmungsvolle, auch klanglich immer wieder ambivalente Song-Szenerien übersetzen kann. Aber geht das? Romantisch verliebte Prinzessin und männerverschlingender Vamp zu sein, Opfer und Täterin, Subjekt und Objekt der Begierde zugleich?" Ein "schönes Muskelalbum" hörte Tobi Müller von der Berliner Zeitung: In ihrem aktuellen Video - siehe unten - zieht Swift gar "in den Krieg der Bilder und fragt sich, warum sich das so gut anfühlt. Ihr amerikanisches Drama genießt, was Europa verschreckt: den Spaß im Stahlbad." Den das führende US-Popmagazin Pitchfork allerdings so gar nicht genießen will: "Indem sich Swift einer konventionelleren Konzeption des Superstars beugt, rückt sie von dem, was ihr Genie im Kern ausmacht, ab", schreibt dort Jamieson Cox.



Weiteres: Im Standard spricht Ljubisa Tosic mit dem Komponisten Gerhard E. Winkler. Besprochen werden ein Hammerklavier-Konzert von Kit Armstrong (SZ), das neue Morrissey-Album (Spex), ein Konzert von Princess Nokia (taz), ein Auftritt der Fleet Foxes (Tagesspiegel), ein Konzert von Moses Sumney (Tagesspiegel), eine Luxusedition von Metallicas Thrash-Metal-Klassiker "Master of Puppets" (Standard) und ein von Wladimir Jurowski und Igor Dronow dirigiertes Konzert in Moskau mit Musik aus der russischen Revolution (FAZ).
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Bühne

Im NZZ-Interview mit Daniele Muscionico bedauert Chris Dercon, nicht mit Castorf, Pollesch, Fritsch oder Marthaler ins Gespräch gekommen zu sein, die seinen Worten zufolge verbrannte Erde hinterlassen haben, hält aber fest: "Ein Krieg ist ein Krieg, ein Theaterkrieg ist nur Theater." Muscionico bespricht auch seinen Volksbühnenauftakt mit Tino Sehgals Performances. Im Standard porträtiert Ronald Pohl den Wiener Schauspieler Florian Teichtmeister: "Sein eigentlicher Lebenssaft ist die Galle der Melancholie." Sophie Diesselhorst verteidigt Milo Raus Kongo-Tribunal über die ausbeuterischen Verbrechen in den östlichen Provinzen gegen den Vorwurf des Neokolonialismus. Sie sieht seinen globalen Realismus durchaus anschlagen, "wenn auch zuweilen mit dem Holzhammer".

Besprochen wird "Anna Karenina" als performatives Live-Hörspiel unter der Regie von Barbara Bürk und Clemens Sienknecht am Schauspiel Hamburg (taz).
Archiv: Bühne

Kunst


Salome Asega & Reese Donohue & Tongkwai Lulin, ASM(V)R, 2017, VR Still. © The Artists. Zeppelin Museum.

Richtig aufregend findet hat taz-Kritikerin Donna Schons die Ausstellung "Schöne neue Welten" im Friedrichshafener Zeppelin Museum, die digitale Realitäten erforscht: "Virtuelle Realität zeigt ihr revolutionäres Potenzial in dieser Ausstellung vor allem dort, wo parallele Lebensformen entworfen werden - etwa in der Arbeit des kenianischen Nest Collective. Sein afrofuturistischer Science-Fiction-Film 'Let this be a warning' versetzt Zuschauer mithilfe einer 360-Grad-Perspektive in die Rolle von Astronauten, die auf einem weit entfernten Planeten auf eine afrikanische Kolonie treffen. Dem Vorwurf, dass menschliche Entdeckungsfreude in Wahrheit bloß Ausdruck von Bedürfnissen nach dem blanken Konsum anderer Kulturen ist, mag man umringt von Soldaten mit Maschinengewehren nicht allzu viel erwidern."

Bei aller Schönheit und allem Menschheitspathos will Antje Stahl in der NZZ mit dem Louvre in Abu Dhabi nicht ihren Frieden machen: "Wer sich in den Rausch solcher Erleuchtung und in den Bann dieser atemberaubenden Architektur ziehen lässt, bezahlt mit nicht weniger als dem Erbe der Aufklärung. Das kritische Bewusstsein muss zwar keiner bei den Sicherheitsbeamten am Eingang lassen, aber in der Präsentation dieser Sammlungsgegenstände aus der ganzen Welt wird es hart auf die Probe gestellt. Wer die Konflikte der Gegenwart, historische Religions-, Rassen- oder Weltkriege, Revolutionen, Emanzipationsbewegungen von Arbeitern, Frauen oder Schwulen nicht vergessen möchte, muss der schönen Oberfläche dieser Ästhetik widerstehen können."

Kritik übt Stahl auch an Brigitte Macron, die das Museum mit eröffnete, obwohl sie bei der Veranstaltung die einzige Frau war: "Das Museum, das ein 'neues Licht auf die Humanität' werfen möchte, kommt ohne Frauen aus. Nicht nur die Scheichs haben sie zu Hause gelassen. Auch Frankreich hat kaum eine aus seinen Museen mitgebracht. Sind es wirklich nur drei Künstlerinnen, die mit einem Werk in der 'Geschichte der Menschheit' vertreten sind? Habe ich richtig gezählt? Der Besucher wird definitiv Auguste Rodin, aber nicht Camille Claudel, Man Ray, aber nicht Meret Oppenheim kennenlernen. Wen interessiert's?"

Weiteres: Das Magazin Monopol kürt Anne Imhof zur wichtigsten Akteurin des Kunstjahrs 2017. Angesichts der krassen Ungleichheit im Kunstbereich fürchtet Gabriele Detterer in der NZZ, dass eine Gratiskunst-Schau wie "Take Me (I'm Yours)" im Mailänder Pirelli Hangar Bicocca nicht mehr funktioniert: "In Zeiten, in denen Werke der internationalen Spitzenverdiener unter dem Heer an Kunstschaffenden astronomisch hohe Preise erzielen, könnte man die von Top-Künstlern angebotene Gratiskunst als nette caritative Geste deuten."

Besprochen werden die Schau der wiederentdeckten türkischen Malerin Fahrelnissa Zeid in der DB-Kunsthalle in Berlin (Tagesspiegel) und die Ausstellung der ame­ri­ka­ni­schen Ma­le­rin Ali­ce Neel in den Hamburger Deichtorhallen (FAZ).
Archiv: Kunst