Efeu - Die Kulturrundschau

Die Essenz unseres eigenen Potenzials

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2017. Jeff Koons, der die heutige Ausgabe der Welt gestaltet hat, erklärt im Interview, was Picasso, Boucher und da Vinci gemeinsam haben. Der Freitag staunt, wie schön die Flüchtlingsboote vor der Kamera Ai Weiweis aussehen. Auf Zeit online und in der nachtkritik streiten Regisseurin Amy Stebbins und Dramaturg Sebastian Huber über Ayad Akhtars Bühnenstück "Geächtet". Die Zeit stöbert mit Begeisterung durch 60.000 Briefe Felix Mendelssohn Bartholdys. Die taz feiert den Spirit des Jazzsaxofonisten Pharoah Sanders.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.11.2017 finden Sie hier

Bühne


Szene aus Ayad Akhtars "Geächtet" in der Inszenierung von Antoine Uitdehaag am Residenztheater München. Foto: Matthias Horn

Am Sonntag hatte die Regisseurin Amy Stebbins auf Zeit online Ayad Akhtars gerade mit dem Nestor-Autorenpreis ausgezeichnetes Bühnenstück "Geächtet" als rechts und identitär kritisiert: "Der offene Antiislamismus des Textes wird durch die Zeugenschaft des zum Glück ja muslimischen Autors gerechtfertigt. Nicht umsonst verweist so gut wie jede Zeitungskritik des Stückes auf den pakistanischen Familienhintergrund des Autors. Denn der kann's ja sagen - dass Muslime westliche Frauen für Huren hielten, dass das Leid der Palästinenser antisemitische Propaganda sei, dass alle Muslime potenzielle Terroristen seien."

Darauf antwortet jetzt in der Nachtkritik Sebastian Huber, Chefdramaturg am Münchner Residenztheater, wo das Stück gerade in der Inszenierung von Antoine Uitdehaag läuft. Er kann nicht verstehen, dass Stebbins in ihrer Kritik den wichtigsten Aspekt des Stücks unterschlägt: "Der erste und für ein halbwegs zutreffendes Verständnis des Textes allerdings entscheidende Fehler dieser Darstellung besteht darin, dass es sich bei der Hauptfigur des Stücks nicht um einen Muslim handelt. Amir hat dem Glauben, in dem er erzogen wurde, seit langem abgeschworen. Seine Tragik besteht gerade darin, dass es ihm nicht gelingt, seine Umgebung von dieser Tatsache zu überzeugen. Egal, was er sagt und tut, seine Frau, seine Verwandtschaft, seine Vorgesetzten, die Muslime, die Öffentlichkeit - und leider auch die Kommentatorin - behandeln ihn weiterhin als Muslim."

Weitere Artikel: Regisseurin Jette Steckel, die am Burgtheater Ibsens "Ein Volksfeind" inszeniert, erklärt im Interview mit der Presse, warum der Protagonist Tomas Stockmann, ein Arzt, der die Verschmutzung des Wassers in einem Kurbad nachweist, in ihren Augen ein Held ist. Im Standard erklärt Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer, warum er in Wien Orwells "1984" inszeniert: Wegen des "Neusprechs", den auch Donald Trump perfekt beherrsche: "Mich interessiert aber auch die Manipulation von Wahrnehmung, also die Tatsache, dass man unverschämt lügt und am nächsten Tag das Gegenteil behauptet - und es gilt! Das ist reine Machtdemonstration." Julika Bickel berichtet in der Nachtkritik vom Berliner Inklusionstheater-Theaterfestival "No Limits", im Tagesspiegel schreibt darüber Patrick Wildermann. Claudia Wahjudi amüsiert sich beim dritten, vom Gorki Theater veranstalteten Berliner Herbstsalon der bildenden Künste. Keine künstlerische Handschrift nirgends fand Zeit-Kritiker Peter Kümmel bei den Auftaktveranstaltungen der neuen Volksbühne.

Besprochen werden die Theaterproduktion "Do whales dream of tasty sharks?" von Toxic Dreams auf einem Donau-Schiff (Standard), Clemens Sienknecht und Barbara Bürks Inszenierung "Anna Karenina" am Schauspielhaus Hamburg (NDR, SZ) und Arnulf Herrmanns Oper "Der Mieter" in Frankfurt (SWR, SZ, Zeit).
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Kunst

Heute ist die Welt von Jeff Koons gestaltet, was darauf hinaus läuft, dass die Seiten mit Klassikern der Kunstgeschichte illustriert sind. Vom Titelblatt blicken uns die Augen der Mona Lisa an, weiter hinten gibts Boucher, Picasso, Duchamp und natürlich Koons, der im Interview kein Problem damit hat, sich in diese Reihe zu stellen: "Wenn Sie sich die hier abgebildeten Gemälde und Plastiken ansehen, dann stimulieren einen diese Werke innerlich und entfachen die eigenen Möglichkeiten. Der Wert, den wir in diesen Werken finden, ist die Quintessenz unseres Potenzials. Es geht nicht darum, dass speziell diese Bilder wichtig sind. Wichtig ist die Essenz unseres eigenen Potenzials. Darin liegt der Wert der Kunst."

Außerdem erinnert Marc Reichwein in der Welt an das vor 20 Jahren erschienene Kunst-Drama "Jeff Koons" von Rainald Goetz, in dem Jeff Koons gar nicht vorkommt. Jedenfalls nicht direkt. Im Guardian blicken Gilbert und George zurück auf fünfzig Jahre "filth, fury and in-your-face art". Die Schweizer Nationalbibliothek hat über 3000 Reisefotografien Annemarie Schwarzenbachs aus dem Bestand des Schweizerischen Literaturarchivs online gestellt, freut sich Daniele Muscionico in der NZZ.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Bildpresse vor der Erfindung der Fotografie, "Gier nach neu­en Bil­dern", im Deut­schen His­to­ri­schen Mu­se­um in Ber­lin (FAZ) und Gregor Sailers Fotoband "The Potemkin Village" (art).
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Literatur

Arno Widmann berichtet in der FR von der Trauerfeier für die Schriftstellerin und Journalistin Silvia Bovenschen. Die NZZ bringt Auszüge aus Marcel Prousts Druckfahnen seiner "Recherche". Tobias Lehmkuhl berichtet in der SZ von einer Veranstaltung bei der Herta Müller und Marcel Beyer über die Sprache der Gegenwart diskutierten.

Besprochen werden eine Wiederveröffentlichung von Charles Willefords "Hahnenkämpfer", für die Andreas Busche im Tagesspiegel dem Alexander Verlag nicht genug danken kann, Petra Morsbachs "Justizpalast" (FR), Peter Handkes "Die Obstdiebin" (FAZ, mehr dazu hier),Juli Zehs "Leere Herzen" (Berliner Zeitung), Katharina Greves Comic "Das Hochhaus" (NZZ), Jean Echenoz' Spionagethriller "Unsere Frau in Pjöngjang" (Freitag) und Pablo Nerudas "Dich suchte ich" mit Gedichten aus dem Nachlass (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Volker Hagedorn stöbert für die Zeit mit Begeisterung durch die 12 Bände umfassende Gesamtausgabe der 60.000 Briefe Felix Mendelssohn Bartholdys, den er einen Briefeschreiber "von literarischem Rang" nennt. Großes Lob auch für den Essay Peter Gülkes im ersten Band der Briefausgabe, "eine Revision des Klischees von 'Glätte' und 'Konservatismus', die sich seit Mendelssohns Tod um ihn und sein Werk legten, teils antisemitisch motiviert, teils durch Musikologen befördert, die nur die Fortschrittslinie von Beethoven über Wagner bis Schönberg gelten ließen. Sie erlagen dabei, wie der Briefherausgeber Helmut Loos es nennt, auch dem 'spektakulären Männlichkeitskult des rücksichtslosen Originalgenies', für den Mendelssohn nicht zur Verfügung steht."

Ziemlich hin und weg ist tazler Julian Weber vom Auftritt des Jazzmeisters Pharoah Sanders in Berlin, wo dieser das einzige Deutschlandkonzert seiner aktuellen Tournee gegeben hat. Sanders begann mit "Welcome" von John Coltrane: "Urplötzlich kam in seinem Saxofonspiel die sonore Standfestigkeit und der unkaputtbare Spirit zum Vorschein, aber auch die hymnische Intensität, dichte Tremoli und schneidende ­Staccati, Growls und Cries, all jene technisch anspruchsvollen, aber auch seelenvollen Eigenschaften, die Sanders Mitte der Sechziger unentbehrlich an der Seite seines Mentors John Coltrane machten."

Weiteres: Christian Rabenda berichtet in der NMZ vom Pan Music Festival in Seoul. Ebenfalls in der NMZ stellt Roland H. Dippel Diana Pollicarpos Installation für die Komponistin Johanna Magdalena Beyer vor. Jens Uthoff resümiert in der taz das Berliner Loop-Festival. Katja Belousova stellt in der Welt die Austropop-Band Granada vor. Zum gestrigen 75. Geburtstag von Daniel Barenboim gratulieren Frederik Hanssen (Tagesspiegel) und Jürgen Flimm (Berliner Zeitung).

Besprochen werden ein Boxset mit Bob Dylans um 1980 veröfffentlichten religiösen Alben (Welt) und ein Konzert der Einstürzenden Neubauten (Tagesspiegel, Berliner Zeitung).Nerdcore präsentiert außerdem neue Musikvideos, darunter Boxerromantik von Baxter Dury:


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Film

Drei Stunden dauert Hermann Pölkings historisches Material mit einem Voice-Over zusammenstellender, aufs Fragezeichen bewusst verzichtender Kompilationsfilm "Wer war Hitler", neun Stunden sogar in der Festivalversion. Für den Freitag hat Dirk Alt bei dem Filmemacher nachgefragt, welche Absichten er mit seinem Film hegt. Sein Film sei "puristisch", sagt er. "Mehr als 96 Prozent Bewegtbild, keine Inszenierungen, keine Interviews, keine aktuellen Drehs. Nur harte Schnitte. Ich habe eine offene Erzählform, die den Zuschauer zwar lenkt, aber zum Denken auffordert. Ich wollte keine ikonografischen Bilder. Deshalb nutze ich zu 80 Prozent Amateuraufnahmen. Mit denen wollte ich den Text nicht illustrieren, sondern eher konfrontieren. Oder den Zuschauer verstören. Auf jeden Fall aber die Nazi-Inszenierung zertrümmern. ... Der Text soll auf den Bildern lasten" und "fast nie haben wir diese Filme als 'Dokument' verwendet."

Auch Ai Weiweis "Human Flow" wirft Fragen auf zum Verhältnis zwischen dokumentarischer Form, ästhetischer Gestaltung und Sujet. Der in Berlin lebende chinesische Künstler hat dafür weltweit Aufnahmen der globalen Migrationsbewegungen gesammelt. "Ziemlich stark" ist das Ergebnis, sagt Lea Wagner, denn darin finden sich zahlreiche "schöne Bilder, fast majestätisch. Als hätte man Fotografien aus Geo in Bewegtbilder umgewandelt. ... Da ist ein aus der Höhe gefilmtes Flüchtlingsboot, das scheinbar widerstandslos über das tiefblaue Meer gleitet. Ist man nur weit genug weg, sieht das - man traut es sich kaum zu sagen - sehr schön aus. So wie die reflektierenden goldenen Folien, die den Geflüchteten um die Schulten gewickelt werden." Ob  die Passagiere des Bootes sich ebenso sehr darüber freuen, in Berliner Programmkinos ein gutes Bild abzugeben, konnte indessen nicht in Erfahrung gebracht werden. Außerdem schreibt Kerstin Decker im Tagesspiegel über den Film und hält dabei fest, dass dies angesichts der schieren Fülle des Materials ohnehin eher der Film des Schnittmeisters Niels Pagh Andersen sei. Für ZeitOnline spricht Tobias Haberkorn mit Ai Weiwei.

Weiteres: Lukas Foerster resümiert in seinem Blog die Filmwoche Duisburg. Antje Stahl schreibt in der NZZ über das Architektur-Filmfest, das in Zürich stattfindet. In der taz empfiehlt Fabian Tietke hier eine Berliner Reihe mit pädagogischen Filmen von Harun Farocki sowie an dieser Stelle eine Berliner Reihe mit russischen Filmen aus der Zeit der Oktoberevolution. David Steinitz spricht in der SZ mit Fatih Akin über dessen neuen Film "Aus dem Nichts", in dem der Regisseur die NSU-Morde für einen fiktiven Rache-Thriller aufgreift.

Besprochen werden Ali Soozandehs Animationsfilm "Teheran Tabu" (NZZ, taz, Welt), Milo Raus Dokumentarfilm über "Das Kongo-Tribunal" (nachtkritik), Jan-Henrik Stahlbergs "Fikkefuchs" (dem Moritz von Uslar in der Zeit auch unter Berücksichtigung des schmalen, crowd-finanzierten Budgets wenig abgewinnen kann: "Es gibt keinen irgendwie in­teressanten oder charmanten oder halb richtigen Frauenhass, es gibt nur einen vollkommen stumpfen und idiotischen", FR, FAZ, mehr dazu hier), Greg Zglinskis "Animals - Stadt Land Tier" (Berliner Zeitung), , eine DVD-Edition von Isaac Juliens "Frantz Fanon: Black Skin, White Mask" (taz), Kumail Nanjanis Komödie "The Big Sick" (taz, NZZ) und mal wieder ein neuer Superheldenfilm mit Batman und anderen Figuren (NZZ, Tagesspiegel, Standard, Welt).
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