Efeu - Die Kulturrundschau

Elektrische Gedanken

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24.11.2017. In Berlin stellte Frank Castorf mit gegenwartskritischem Widerwillen in der Stimme seine geplante, sechseinhalb Stunden lange Inszenierung von Victor Hugos "Die Elenden" am BE vor. Die NZZ wandert mit Monteverdi, Schostakowitsch und Mozart im Ohr durchs Victoria & Albert Museum. Die taz hörte eine Hommage auf die Sängerin Barbara. Im Perlentaucher fordert Lukas Foerster mehr Experimentierlust der Berlinale nach Dieter Kosslick. Nachtrag: Auf SpiegelOnline fordern 79 Regisseurinnen und Regisseure eine internationale, paritätisch besetzte Findungskommission für die Kosslick-Nachfolge.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.11.2017 finden Sie hier

Film

"Die Berlinale muss wieder Experimentierfeld werden", fordert Lukas Foerster im Perlentaucher und greift damit eine gestern im Freitag von Matthias Dell angestoßene Debatte über die nahende Post-Kosslick-Zeit des wichtigsten deutschen Filmfestivals auf. Anders als viele seiner Kritiker-Kollegen stört ihn nicht, dass das Festival unter Kosslick wie ein Hefeteig auseinander gegangen ist, "sondern die Indifferenz, mit der die Filme präsentiert werden. Die Vielfalt der Sektionen könnte eine wunderbare Spielwiese des Gegenwartskinos sein, auf der einander widersprechende Vorstellungen davon, was Filme können, sollen oder einfach nur sind, gegeneinander in Stellung gebracht werden. Aber dafür bräuchte es zuallererst den Willen, diese Vorstellungen zu artikulieren, und damit ein Gespräch übers Kino, das über eine bloße Aneinanderreihung von Geschmacksurteilen heraus geht, in die interessierte Öffentlichkeit hinein zu tragen. Dass ein Filmfestival idealerweise nicht nur eine Agglomeration von vielen Menschen und vielen Filmen auf engem Raum sein sollte, sondern ein Forum fürs Nachdenken und Debattieren: Einen solchen Gedanken lässt die Berlinale der Ära Kosslick nicht einmal zu."

Nachtrag: SpiegelOnline bringt ein von 79 Regisseurinnen und Regisseuren unterzeichnetes Positionspapier. Auch sie sehen den anstehenden Wechsel an der Führungsspitze des Festivals als Chance für die Zukunft und fordern eine internationale, paritätisch besetzte "Findungskommission, die auch über die grundlegende Ausrichtung des Festivals nachdenkt. Ziel muss es sein, eine herausragende kuratorische Persönlichkeit zu finden, die für das Kino brennt, weltweit bestens vernetzt und in der Lage ist, das Festival auf Augenhöhe mit Cannes und Venedig in die Zukunft zu führen." SpiegelOnline-Filmredakteurin Hannah Pilarczyk deutet dies im anhängenden Kommentar als Absage an Kirsten Niehuus vom Medienboard BerlinBrandenburg, die derzeit als aussichtsreiche Anwärterin auf die Nachfolge gehandelt wird. "Mit ihr würde nach Kosslick, der einst von der Filmstiftung NRW zur Berlinale wechselte, eine weitere deutsche Funktionärspersönlichkeit das Festival leiten - und die programmatische Neukonzeption (...) höchstwahrscheinlich wegfallen."

Weitere Artikel: Im Freitag schreibt Barbara Schweizerhof über die Filmreihe "1917 - Revolution" im Berliner Zeughauskino. Im epdFilm-Blog berichtet Gerhard Midding von der Stummfilm-Galarevue "Kino Varieté" in der Komischen Oper Berlin, wo Rainer Bieling, wie er im Perlentaucher berichtet, Oleksandr Dowschenkos russischen Stummfilmklassiker "Arsenal" (hier in der Arte-Mediathek) in einer neu restaurierten Fassung sehen konnte. Auf Indiekino Berlin gratuliert Jan Künemund Rosa von Praunheim zum 75. Geburtstag, den dieser morgen begeht. Für die Berliner Zeitung hat Susanne Lenz den Regisseur besucht.

Besprochen werden Kathryn Bigelows "Detroit" (Tagesspiegel, Standard, FR, Perlentaucher), Fatih Akins "Aus dem Nichts" (Zeit, Perlentaucher), eine Ausstellung zu 100 Jahre UFA im Filmmuseum in Berlin (Tagesspiegel) und der von ZDFInfo (aus Sendeschema-Gründen ärgerlicherweise nur gekürzt) online gestellte Film "Tickling Giants - Humor als Waffe" des ägyptischen Satirikers Bassem Youssef (FR).
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Kunst




Lynn Hershman Leeson, Disaster Aesthetics combine Trayvon, 2013, courtesy die Künstlerin / the artist & Waldburger Wouters, Brüssel

Eine interessante Ausstellung über Bilder und soziale Medien hat Sven von Reden im Düsseldorfer Ausstellungshaus Kai 10 besucht, "Affect Me. Social Media Images in Art": Die Schau, schreibt Reden im Standard, "zeigt, wie der Imperativ im Titel schon andeutet, viele herausfordernde, drastische, gewalthaltige Bilder. Die Kuratorinnen Julia Höner und Kerstin Schankweiler sehen gerade in diesem 'hohen Affizierungspotenzial' das Besondere an der Bildproduktion der sozialen Medien. Anders formuliert: In sozialen Medien setzen sich Bilder durch, die ganz unmittelbar starke Gefühle hervorrufen, gerade sie werden gelikt, geteilt und bearbeitet und dadurch noch einmal in ihrer Wirkung potenziert. Es verwundert nicht, dass auch Künstler sich dieser neuen 'magischen' Bilder annehmen, sie analysieren, dekonstruieren und in ihre Arbeiten integrieren - mit einer Mischung aus Faszination, Skepsis und manchmal vielleicht auch in der Hoffnung, ihre starken Wirkungen mögen abfärben."

Shostakovich's First Symphony, oil painting, Pavel Filonov, 1935, Russia. © State Tretyakov Gallery, Moscow / Bridgeman Images
Vollkommen hingerissen wandert Marion Löhndorf - Kopfhörer auf, Monteverdi, Mozart und Wagner in den Ohren, hier einen Kostümentwurf von Dalí bewundernd, dort einen Kaffeefleck auf einem Notenblatt von Schostakowitsch studierend - durch die Ausstellung "Opera: Passion, Power, Politics" im Victoria & Albert Museum: "Das Spektakuläre mit dem Lehrreichen, das Feierliche mit dem Politischen, das Majestätische mit dem Bodenständigen, das Virtuose mit dem Einfachen so zu verbinden, als ob es ganz einfach wäre: All dies gelingt der Ausstellung".

Weiteres: In der NZZ betrachtet Philipp Meier die Zürcher Ausstellung "Look Closer" mit Werken von Till Könneker und Peter Baracchi zum Thema Natur und Pornografie mit den Augen Camille Paglias. Besprochen werden außerdem Ed Atkins' CGI-Installation "Old Food" im Berliner Martin-Gropius-Bau (taz) und die James-Rosenquist-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig (FR).
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Bühne

Ulrich Seidler war für die Berliner Zeitung dabei, als Frank Castorf im Berliner Ensemble "mit ausgestellter Anstelligkeit" in einem "überaus gesitteten Pressegespräch" seine geplante Inszenierung von Victor Hugos "Die Elenden" vorstellte, "natürlich nicht in der Hollywood-Version, sondern den ganzen 1700-Seiten-Schinken": "'Mehr als sechseinhalb Stunden hat mir Oliver nicht erlaubt, das gehe gewerkschaftlich nicht', sagt er und legt seinen gesamten gegenwartskritischen Widerwillen in die Stimme, auch wieder ironisch gebrochen natürlich. Er wisse noch nicht, ob er sich botmäßig zeigen werde. Überhaupt die Tatsache, dass er ein Pressegespräch gibt, deutet immerhin auf eine gewisse Kooperationsfreude hin."

Gut amüsiert bei der Vorstellung hat sich auch Tagesspiegel-Mitarbeiter Patrick Wildermann, der gerührt Castorfs 20-minütigem Monolog lauschte: "Hugos Roman jedenfalls wird in diesem Bewusstseinsstrom mit elektrischen Gedanken für seine Abbildung brutaler sozialer Verhältnisse gelobt - eine verarmte Alleinerziehende lässt sich für Geld die Haare scheren und die Zähne rausreißen. Klar, so was kommt in der Hollywoodverfilmung nicht vor. Und auch klar, solche Zustände kapieren wir Mitte-Menschen mit unseren teuren Sneakers nicht. Vielleicht sollten wir, so Castorf später, mal 'nach Marzahn fahren und uns in die Fresse hauen lassen'."

Weitere Artikel: Theresa Steininger stellt in der Presse Wiens erstes Beethoven-Museum vor. Die nachtkritik dokumentiert Thomas Oberenders Rede beim Bundesforum vom Bündnis der Freien Darstellenden Künste zu Perspektiven einer Künstlerförderung auf Bundesebene. Besprochen wird Jérôme Junods Versuch, Boschs Weltgerichtstriptychon auf die Bühne zu bringen (Standard).
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Literatur

Besprochen werden Petra Morsbachs "Justizpalast" (NZZ), der Gesprächsband "Das Leben wortwörtlich" von Jakob Augstein und Martin Walser (Tagesspiegel), Karan Mahajans "In Gesellschaft kleiner Bomben" (NZZ), Dany Laferrières "Die Kunst, einen Schwarzen zu lieben ohne zu ermüden" (SZ), Michael Opitz' Biografie über den Dichter Wolfgang Hilbig (SZ), Tanguy Viels Krimi "Selbstjustiz" (Ẁelt) und John Williams' "Nichts als die Nacht" (Tagesspiegel).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

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Musik

Auf einem großen Hommage-Album an die vor 20 Jahren gestorbene Sängerin Barbara versammelt der Pianist Alexandre Tharaud zahlreiche Musiker und Künstler, erklärt Elise Graton in der taz nach einem Gespräch mit Tharaud: "Von Jane Birkin bis zum Popstar Dominique A., von der Sängerin Juliette Noureddine über Bénabar bis zu Albin de la Simone, aus allen möglichen Genres von Jazz über Indietronica bis zur Fanfare kommen die InterpretInnen. Tharaud inszeniert ihre Coverversionen von Barbaras Songs wunderbar schlicht mit Klavier, Akkordeon und Drums. Jedes Lied findet einen zu ihm passenden Interpreten." Hier ein kleiner Eindruck von den Studioarbeiten:



Und hier das Original:



Nur begrüßen kann Lukas Klemp im kaput magazin Björks Rückkehr in den Sonnenschein des Lebens, den sie mit ihrem heute erscheinenden Album "Utopia" zelebriert: "Versiert wechseln sich hier mehrschichtige Choräle, zur Strecke gebrachte Drumbreaks, zwischen organisch und technoid changierendes Vogelgezwitscher und explodierte Flötenorchester ab, fließen zusammen und fallen auseinander. ... Die hauptsächlich von Björk und Arca arrangierten Beats verschließen sich allzu klaren Strukturen. 'Utopia' rutscht immer wieder in die Clubkultur und kommt doch zum Orchestralwerk zurück."

Weiteres: Annastassia Boutskou meldet in der FAZ, dass in den Archivbeständen des russischen Klassiksenders Orpheus, dem Nachfolger des sowjetischen Senders Gosteleradio, zahlreiche Noten des russischen Avantgardisten Alexander Mossolov gefunden wurden (mehr dazu im Deutschlandfunk).

Besprochen werden LeRoy Hutsons "Anthology 1972-1984" (taz), Auftritte von Gabriela Montero und der Geschwister Pekinel beim Lucerne Festival (NZZ), ein von Mirga Gražinytė-Tyla dirigiertes Konzert des City of Birmingham Symphony Orchestra in München (SZ), ein Konzert von Laibach (Tagesspiegel), ein Konzert der Berliner Staatskapelle unter Lorenzo Viotti (Tagesspiegel), ein Konzert von Alice Cooper (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter Sufjan Stevens' Weihnachtsalbum "The Greatest Gift" (ZeitOnline). Eine Hörprobe:

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