Efeu - Die Kulturrundschau

So geht elitär!

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29.11.2017. Auf Screen Daily bringt Tom Tykwer die Frage auf, ob Berlinale-Jahrgänge jemals so schlecht gemacht waren wie manche Berichte über Dieter Kosslick. Die NZZ hätte gern von Reinhard Jirgl gewusst, warum er sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Der Standard verbringt mit dem Theaterkollektiv Signa eine ziemlich lustige Nacht in einem Hamburger Obdachlosenheim. Die taz feiert eine vorbildlich krititisch kuratierte Schau lateinamerikanischer Kunst im Frankfurter MMK. Und die SZ feiert die japanische Architektur des Verschwindens.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.11.2017 finden Sie hier

Kunst


Cildo Meireles, Inserções em circuitos ideológicos: 1-Projeto Coca-Cola, 1970, Daros Latinamerica Collection, Zürich. Foto: Dominique Uldry, Bern © Cildo Meireles.

Vorbildlich findet Isabel Rith-Magni in der taz, wie das Frankfurter Museum für Moderne Kunst mit der Ausstellung "A Tale of Two Worlds" Experimentelle Kunst aus Lateinamerika der vierziger bis achtziger Jahre zeigt. Kritisch kuratiert von einem Team aus Frankfurt und Buenos Aires: "Neben Konsum- und Kapitalismuskritik und der Fokussierung auf den Körper klingt thematisch auch der spirituelle Bereich immer wieder an (Schamanentum, Rituale, Kosmologien)... Ein wiederkehrendes Motiv ist zudem die politische Aufladung, die den uruguayischen Künstler Luis Camnitzer zu der Gesamteinschätzung kommen lässt, eine wirkliche Abgrenzung ergebe sich bei den lateinamerikanischen Künstler erst insofern, als die Kategorie der Kunst von geringerer Bedeutung sei als die der Krise: 'Für sie ist die Kunst nicht Herstellung von Objekten oder ein persönliches Statement, sondern ein Werkzeug für politisches und kulturelles Handeln.'"

Wie man es eher nicht macht, erlebt Guardian-Kritiker Jonathan Jones bei der Ausstellung "Surrealismus in Ägypten" in der Londoner Tate Gallery: Sie zeige nur mittelmäßige Künstler, die sich artig in Richtung Paris verneigen.

Weiteres: Steffi Unsleber und Gesa Steeger stellten in der taz den Aktionskünstler Artúr van Balen vor, der auf Demonstrationen Luftballons statt Pflastersteine werfen möchte und jetzt in Moskau eine riesige Raupe durch die Straßen führt. Im Art Magazin vermutet Mirja Rosenau, dass das Documenta-Defizit genutzt werden soll, um eine Kulturinstitution zu demontieren. Denn der Kasseler Bürgermeister will aus der gemeinnützigen GmbH gleich eine reguläre machen: "Eine nicht-gemeinnützige GmbH sei viel besser in der Lage, Erträge zu erwirtschaften und 'zeitgemäßes Merchandising' als Einnahmequelle zu etablieren."

Besprochen werden die Schau "Never Ending Stories" über den Loop in der Kunst im Kunstmuseum Wolfsburg (taz, Tagesspiegel), eine Ausstellung des Kunstberserkers Hermann Nitsch in der Kunsthalle in St. Christoph am Arlberg (NZZ) und die Ausstellung "Remastered" mit Kunst über Kunst in der Kunsthalle Krems (Standard).
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Literatur

Der Schriftsteller Reinhard Jirgl hat seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit verkündet - und setzt dies bereits so konsequent um, dass Paul Jandl von der NZZ schon keine Antworten mehr auf Nachfragen erteilt. Angesichts von Jirgls "melancholisch-zornigem Blicks, der auf eine formzerstörende Allgegenwart des Kommunizierens fällt", leuchtet Jandl dieses Manöver soweit auch ein, wie er anhand einer programmatischen Passage aus Jirgls "Die Unvollendeten" unterstreicht, die von der "kalkulierten Weichheit kampagnehafter Bücherfluten voll aufgestocherten Meinungsschlamms" spricht. "So geht elitär! Die Entscheidung, für die Schublade zu arbeiten, ist ein Privileg des Schriftstellers. Kein Metzger und kein Postbeamter würde der Öffentlichkeit auf diese Weise seine Meisterwerke entziehen, keines seiner halbgaren Frühwerke würde im Dunkel eines Möbels auf bessere Zeiten warten. Auf qualifizierte Öffentlichkeit."

Weiteres: Nicolas Freund und Sonja Zekri sprechen in der SZ mit Colson Whitehead über dessen Roman "Underground Railroad", mit dem der Autor gerade auf kleiner Lesetour in Deutschland ist. Im Logbuch Suhrkamp begibt sich Stephan Thome "auf die Spuren von Gottes chinesischem Sohn".

Besprochen werden Han Kangs "Menschenwerk" (NZZ), Elvira Dones' "Hana" (NZZ) und der Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Lew Kopelew (FR).

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Bühne


Aber mit Vergnügen: Signas soziale Installation "Das halbe Leid". Foto: Arthur Köstler & Erich Goldmann. Schauspielhaus Hamburg

Beeindruckend und bewegend findet Bernhard Dopller im Standard, wie das dänische Theaterkollektiv Signa ihm "Das halbe Leid" nahe bringt, mit der Installation eines Obdachlosenheims in einer stillgelegten Maschinenfabrik in Hamburg-Barmbeck: "Und doch, es ist nicht zu leugnen, bereitet die Nacht des Elends komödiantisches Vergnügen: das Verwildern und Herausfallen aus der Mitte der Gesellschaft! Der Stricher und Drogenjunkie Blondi zum Beispiel ist ein Dichter. In einem der angebotenen Schreibkursworkshops trägt er seine Gedichte vor. Wie theatralisch, wenn Lori immer leicht beleidigt ihre Runden durch die Halle macht oder Pamela sich von ihrer Babypuppe nicht trennen kann! Wie präzise allein die tänzerischen Bewegungen, wenn Keller-Reini auf einmal ohne Rollator sich vom Boden zu erheben versucht."

Besprochen werden außerdem Olivier Pys Meyerbeer-Inszenierung "Le Prophète" an der Deutschen Oper Berlin (die Eleonore Büning in der NZZ einen "musikalischen Triumph und ein szenisches Desaster" nennt), Simon Stephens "Heisenberg" am Renaissance-Theater (Tagesspiegel).
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Film

Tom Tykwer hat den Aufruf deutscher Filmschaffender, nach dem Ende der Ära Kosslick einen Neuanfang der Berlinale zu wagen, zwar nicht unterschrieben, hält ihn aber für weitgehend vernünftig, zitiert das Branchenblatt ScreenDaily den Filmemacher. Nur die Debatte darum macht ihn zornig: "Wie die Presse den Text im Anschluss ausgelegt hat, ist völlig empörend und richtig nervig. Auf Spiegel Online hatte es einen extrem ärgerlichen Text gegeben, der einfach nur hingerotzt war und absolut nichts mit der ursprünglichen Pressemitteilung zu tun hatte." Tykwer sitzt bei der kommenden Berlinale der Wettbewerbsjury als Präsident vor.

In der Welt unterhält sich Jan Küveler mit Baran bo Odar, der gerade in Brandenburg die erste deutsche Netflix-Produktion, die Mystery-Serie "Dark", gedreht hat. Dabei erklärt der Regisseur auch, warum es dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen einfach nicht gelingen will, international satisfaktionsfähige Serien auf die Beine zu stellen: Hierzulande werde "zu wenig in Nischen gedacht. Alle erfolgreichen Serien, die alle so mögen, sind Nischenserien. 'Mad Men' zum Beispiel ... Das Set-up ist eine Nische. 'Breaking Bad': wahnsinnig nischig, ein Chemielehrer wird ein Drogenkingpin?!" Hierzulande versuche das Fernsehen jedoch, "so viel abzudecken, statt zu sagen, lass uns ganz speziell sein, am Anfang nur wenige anzusprechen und darauf zu vertrauen, dass es sich, wenn's gut ist, schon rumsprechen wird". Elmar Krekeler ärgert sich in der Welt unterdessen, dass der gute alte Vorabend-Krimi mit seinem "Drang zur Überlänge" mittlerweile auseinander geht wie Hefeteig. Deutsche Serien sind besser als ihr Ruf, beharrt Christian Meier ebenda.

Weiteres: Den Berlinern gibt Ekkehard Knörer Tipps zur Französischen Filmwoche. Vom Freitag reichlich spät online nachgereicht, erfahren wir nun von Nikolaus Perneczky, was man Mitte November beim Afrikamera-Festival in Berlin alles verpasst hat. Elena Meilicke resümiert auf Cargo die Duisburger Filmwoche.

Besprochen werden die vom ZDF täglich ab 22 Uhr im Internet ausgestrahlte Mafia-Serie "4 Blocks" (FR), Robin Campillos Aids-Drama "120 BPM" (SZ), der Pixar-Animationsfilm "Coco" (FAZ) und Spike Lees für Netflix produziertes Serien-Remake seines Klassikers "She's Gotta Have It" (ZeitOnline).
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Architektur


Takeshi Hosaka, Hoto Fudo, Yamanashi, Japan © Takeshi Hosaka Architects.

Das Centre Pompidou Metz zeigt gerade in der großen Schau "Japan-ness" japanische Architektur seit 1945, und SZ-Kritiker Joseph Hanimann ist total fasziniert: "Interessant ist vor allem das, was in der Ausstellung ab den Siebzigern als 'Architektur des Verschwindens' vorgestellt wird. Gemeint sind damit etwa die Winzig-Projekte auf Restgrundstücken der Stadt in der Folge von Takamitsu Azumas 'Tower House' auf 20 Quadratmeter Grundfläche. Aber auch der überwältigende Minimalismus von Tadao Andō in der Licht-Kirche von Ibaraki gehört dazu. Mit der matt-weißen Halbtransparenz beim Duo Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa vom Büro Sanaa oder mit Toyo Itos bis zur knorpelartigen Trägerstruktur durchsichtigen Mediathek von Sendai setzt sich diese ausgeklügelte Zurücknahme der Baukörper noch heute fort."
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Musik

Die Entscheidung der öffentlich-rechtlichen Sender, ein Konzert von Roger Waters nicht im Radio zu übertragen, weil dieser sich seit Jahren lauthals für die antisemitische BDS-Kampagne stark macht, begrüßt Jens Balzer auf ZeitOnline sehr. Dass Waters und Konzertveranstalter Marek Lieberberg darin einen Angriff auf die Meinungsfreiheit sehen, sei an den Haaren herbeigezogen, so Balzer: Gerade umgekehrt begrenzen ja Waters und BDS mit ihren toxischen Kampagnen die Meinungsfreiheit Anderer: "Sie drohen und schüchtern ein, sie üben Druck aus." Die Reaktion der Sender kommt allerdings reichlich spät, meint Harry Nutt: "Warum schaut man erst jetzt so genau auf den Musiker, der seine anti-israelischen Affekte nie verborgen hat", fragt er sich in der Berliner Zeitung.

Weiteres: Bernhard Uske (FR) und Juana Zimmermann (NMZ) berichten von der cresc-Musikbiennale. Für die SZ porträtiert Peter Münch die Cellisten Stjepan Hauser und Luka Šulić, die mit Coverversionen von Pop- und Rockklassikern gerade einen sagenhaften Erfolg hinlegen. Marlen Hobrack hat für den Freitag Jan Kummer von der DDR-Band AG Geige in Chemnitz besucht. Jan Brachmann berichtet in der FAZ von der Verleihung des Kulturpreises der Deutschen Katholiken an den Komponisten Mark Andre. Jeremy Allen befasst sich für The Quietus mit Serge Gainsbourgs letztem Album "You're Under Arrest", in dem sich der französische Sänger vor dreißig Jahren mit Hiphop geflirtet hat. Hier das, sagen wir mal: sehr eigenwillige Titelstück:



Besprochen werden ein von Mariss Jansons dirigiertes Konzert des BR-Symphonieorchesters in Wien (Standard), Günther Anders' "Musikphilosophische Schriften" (NZZ), Sufjan Stevens' "The Greatest Gift" (Pitchfork, hier zum Anhören), das Protomartyr-Album "Relatives in Descent" (Standard), ein Auftritt von Ian Svenonius (taz), ein Konzert von Gregory Porter (FR) und ein Konzert von Trevor Dunn, Balázs Pándi und mOck in Berlin (taz).
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