Efeu - Die Kulturrundschau

Alles gehört abgeschafft

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02.12.2017. In der Volksbühne hatte Susanne Kennedys "Women in Trouble" große Premiere. Die Nachtkritik feiert mit ihr eine "Messe der Oberflächlichkeit". Die NZZ jubelt. Der Merkur erlebte ein Theater der Affektvernichtung. Die Welt findet das Stück dagegen so stromlinienförmig und heimatlos, wie es Chris Dercons Kritiker befürchtet haben. Die Berliner Zeitung betrachtet die Bilder Jürgen Hohmuths und fragt sich noch einmal, wie fröhlich die Ostzone war. Die taz unterhält sich mit der iranischen die Schriftstellerin Négar Djavadi. Die SZ ruft mit dem Frankfurter Architekturmuseum zur Rettung der Betomonster auf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.12.2017 finden Sie hier

Bühne


Marie Groothof in Susanne Kennedys "Women in Trouble". Bühnenbild Lena Newton. Volksbühne Berlin 2017. Foto: Julian Röder

Jetzt also die große Stunde der Wahrheit: die große Premiere an Chris Dercons Berliner Volksbühne mit Susanne Kennedys Stück "Women in Trouble". "Es ist ein Sieg!", jubelt Daniele Muscionico in der NZZ: "Das alles ergibt in seiner Summe einen Erfolg für Chris Dercon." In der SZ nimmt Mounia Meiborg es als Requiem auf die Menschheit, ohne sich weiter festzulegen: "Dercons erbitterte Kritiker wird die Inszenierung kaum besänftigen. Man muss sie lesen, fühlen und ja, auch aushalten wollen. Dann aber entfaltet sie einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Wo man auch hinschaut: Die Menschen leiden. An sich selbst, an Krankheiten, an Müttern, Kollegen, Liebhabern. Angelina Dreem ist die Hauptfigur in diesem Schmerzenskabinett. Sie ist Krebspatientin, aber zugleich Schauspielerin in einer Fernsehserie, die ihre Krankheit zum Thema macht. Fiktion und Realität sind nicht mehr zu trennen." Auch in der Nachtkritik kann Michael Wolf Kennedys schöner cleaner Bühnenwelt etwas abgewinnen: "Sie feiert eine Messe der Oberflächlichkeit und bejaht ihr schwereloses Bühnengeschehen als positive Utopie einer nahen Zukunft. Man muss dem inhaltlich nicht zustimmen, um die Stärke der Botschaft zu goutieren: 'Kill dirty things!' Körper, Materie, Tod, Liebe - alles gehört abgeschafft, gerne auch das Theater." 

Im Merkur-Blog sieht Ekkehard Knörer ein "Theater der Affektvernichtung": "Wobei man zweieinhalb Stunden lang fast vergisst, dass es so etwas wie Affekt, sagen wir hier im Theater, sagen wir überhaupt jemals gab. Postaffektives Theater vielleicht. Zum dem, was man sieht, hat das Stück, das keins ist, keine erkennbare Haltung. Es dreht sich halt mit. Es ist nicht einmal klar, ob einem der Nullpunkt des Affekts im Hyperambiente eine Diagnose sein soll oder die Krankheit selbst ist, an der dieser Abend hoch ansteckend leidet. Enjoy your life, heißt es gegen Schluss, nach dieser so ausgefeilten wie nicht enden wollenden Ode an die Freudlosigkeit. Zynismus? Ironie? Sarkasmus? Oder einfach egal."

In der Welt ätzt Manuel Brug: "Das mutet fast wie eine Parodie der Dercon-Gegner an. Denn das Ganze wirkt genauso glatt, stromlinienförmig, austauschbar und heimatlos wie es Kritiker von Dercons Abspielplattform der Künste stets befürchtet haben." Ähnlich sieht das Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung: "Der kulturpolitische Konfliktknoten, der sich um den Intendanten- und Systemwechsel an der Volksbühne gebildet hat, ist auch künstlerisch nicht geplatzt. Er zieht sich weiter zusammen."

Weiteres: Der Standard meldet, dass die Verfahren gegen den früheren Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann zum Teil eingestellt werden. Untreue wird ihm nicht mehr zur Last, nur noch eine "grob fahrlässige Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen".

Besprochen wird Jacopo Spireis Inszenierung von Nicola Porporas Barockoper "Mitridate" in Schwetzingen (FAZ).
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Literatur

In ihrem literarischen Debüt "Desorientale" über eine Familiengeschichte im Spiegel der Geschichte des Iran rechnet Négar Djavadi mit ihrer Heimat ab, aus der sie nach der Revolution 1979 fliehen musste. Das hat auch damit zu tun, in welche Rolle sie im Westen selbst von Wohlwollenden gesteckt wurde, erzählt sie Elise Graton im taz-Gespräch: Sie wollte "darstellen, wie das Land im Laufe des 20. Jahrhunderts vom Feudalismus über die Modernität bis in ein islamisches Regime überging. In Paris musste ich mir oft anhören: Ach, du bist Iranerin, fällt es dir nicht schwer, kein Kopftuch mehr zu tragen? Paradox, aber wahr: Man flüchtet vor einem Regime und wird dann zu dessen Repräsentantin. Ständig musste ich mich rechtfertigen und erklären. Mit dem Buch habe ich es ein für allemal getan."

Für die NZZ besucht Roman Bucheli Schriftsteller Paul Nizon in Paris. Unter anderem geht es bei dem Gespräch auch um seine Zeit als Kunstkritiker bei der NZZ: "Erst jetzt sehe er, wie enorm viel er damals geschrieben habe. Im Rückblick glaube er ja manchmal, sie hätten damals nur gesoffen. Aber zugleich hätten sie auch wie besessen gearbeitet. Vom Arzt habe er, so gestand er bei anderer Gelegenheit, Amphetamine erhalten, um diesen verrückten Lebensstil durchzuhalten. 'Es war eine wahnsinnige Lebensgier in mir.' Das sagt er nun im Dämmerlicht." Eine Auswahl der damals entstandenen Texte erscheint im übrigen demnächst bei Suhrkamp.

Weiteres: Ein sehr schönes, angenehm lustvolles taz-Gespräch hat Katja Kullmann mit den Schriftstellerinnen Simone Meier und Patricia Hempel über lesbische Sexualität, deren literarische Darstellung und den Kontrast zur Hetero-Beziehung geführt. Die FAZ hat Verena Luekens Bericht von ihrem Besuch an James Baldwins Grab online nachgereicht. Frank Walter Steinmeier diskutierte mit Daniel Kehlmann, Eva Menasse und Salman Rushdie, berichtet Andreas Fanizadeh in der taz. Schriftstellerin Gila Lustiger wähnt sich auf der Suche nach dem Gemüsemarkt von Marxloh bald in Istanbul, wie sie im literarischen Wochenendessay der FAZ berichtet. Roman Bucheli schreibt in der NZZ zum Tod der Schriftstellerin Verena Stefan.

Besprochen werden Marie Luise Knotts "Dazwischenzeiten. 1930. Wege in der Erschöpfung der Moderne" (Tagesspiegel), Joachim Meyerhoffs "Die Zweisamkeit der Einzelgänger" (taz), Thomas Kunsts Gedichtband "Kolonien und Manschettenknöpfe" (NZZ), Daniel Kehlmanns "Tyll" (Freitag), Dorothy Bakers "Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft" (NZZ), Durs Grünbeins Lyrikband "Zündkerzen" (ZeitOnline), der Gesprächsband "Das Leben wortwörtlich" von Martin Walser und Jakob Augstein (Standard, FAZ), Joanne K. Rowlings "Was wichtig ist" (FR), Thomas von Steinaeckers und Barbara Yelins Comic "Der Sommer ihres Lebens" (taz) sowie Attila Bartis' "Das Ende" (SZ).
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Kunst


Foto aus Jürgen Hohmuths Band "Graustufen. Leben in der DDR in Fotografien und Texten". Edition Brauns, Berlin 2017.

Wie fröhlich war es denn in der Ostzone, fragt Birgit Walter noch einmal in der Berliner Zeitung, beim Blättern in Jürgen Hohmuths DDR-Band "Graustufen", der Bilder der Tristestt mit Texten von Ingo Schulze, Jutta Voigt, Flake, Kathrin Schmidt, Christoph Dieckmann und Jochen Schmidt paart: "Es dominiert klar das Unschöne, Unfrohe. Christian Kunert, den man von Renft und von Pannach & Kunert kennt, nennt seine Betrachtung 'Gottverlassenheit' und schreibt über die Bilder: 'Sogar bei den Hinterhoffesten hat man das Gefühl, die Lebensfreude stand nicht mit auf der Gästeliste. Dabei waren wir doch fröhlich in unserer Ostzone wie gewöhnliche Menschen und lachten, wie schallender nirgendwo im Universum gelacht wird! Oder bilde ich mir das nur ein, fand das nicht auf den Straßen statt, dem bevorzugten Motiv des Fotografen?' Na, das muss bezweifelt werden. Wiederum ist nichts so trügerisch wie die Erinnerung. Und angesichts heute allgegenwärtiger Buntheit vergisst sich das Leere, Kaputte und Verfallende schnell."

Weiteres: Für durchaus erfolgreich hält Carmela Thiele in der taz, den Versuch des Essener Folkwang-Museums, mit vorübergehendem freien Eintritt das Stammpublikum zu erweitern.

Besprochen werden die Ausstellung "Rodin - Rilke - Hofmannsthal" in der Alten Nationalgalerie Berlin (FAZ) und die Ausstellung "Material Traces" in der Wiener Galerie Charim (Standard).
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Musik

Für die taz hat sich Jens Uthoff zum langen Gespräch mit Konzertveranstalter Scumeck Sabottka getroffen. Andreas Hartmann stellt im Tagesspiegel die finnische Musikerin Islaja vor. Der Tatsache, dass immer häufiger namhafte und gefeierte Pianisten die Rolle von Liedbegleitern einnehmen, kann Helmut Mauró einiges abgewinnen, wie er in der SZ anhand einiger neuer Schubert-Einspielungen darlegt.

Besprochen werden Konzerte von Yello (FR, NZZ), Hannes Waders Berliner Abschiedskonzert (Tagesspiegel) und die Arte-Doku "Das ABC der Rock-Tabus" (FR).
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Stichwörter: Wade, Yello, Konzertveranstalter

Film

Auf Artechock plaudert Rüdiger Suchsland ausführlich aus dem Betriebs-Flurfunk, was die Debatte um den Berlinale-Brief 79 deutscher Filmschaffende betrifft (hier die ganze Debatte im Überblick): Die Petition sei bereits in Cannes abseits der Öffentlichkeit aufgesetzt worden, habe damals noch rund 60 Unterzeichner gehabt und sei Festivalleiter Dieter Kosslick auch seit geraumer Zeit bekannt, sagt Suchsland. Er glaubt vor diesem Hintergrund nun, dass die Berufung Tom Tykwers am Anfang November zum Jury-Präsidenten des kommenden Festivaljahrgangs ein für "Kosslick typischer Schachzug ist. Er suchte eine Weg, die Regis­seurs-Gruppe zu spalten, einen promi­nenten Namen aus der Liste heraus­zu­bre­chen, und hat ihn gefunden. ... Politisch naiv war es, den Brief nicht gleich im Mai öffent­lich zu machen. Da gab es bereits eine Debatte um die Neube­set­zung der Leitung, da wäre der Zeitpunkt richtig gewesen. Statt­dessen der Irrglaube, mit Hinter­zim­mer­di­plo­matie bei der Kultur­staats­mi­nis­terin mehr erreichen zu können. Die Selbstüber­schät­zung von ein paar Westen­ta­schen­ma­chia­vellis, die glauben, mit Grütters kungeln zu können. Statt­dessen wurden sie von der Minis­terin hinge­halten."

Weiteres: Wladek Flakin ärgert sich im Freitag über die schiefe Darstellung der trotzkistischen Bewegung in der Serie "Babylon Berlin". Esther Buss empfiehlt in der Jungle World Filme aus der Französischen Filmwoche, die in Berlin stattfindet. Karl Gedlicka führt im Standard durch das Programm der Wiener Retrospektive "Bigelow & Co".

Besprochen werden Robin Campillos "120 BPM" (Freitag, Jungle World), Martin Koolhovens Rachewestern "Brimstone" (Tagesspiegel), der Pixar-Animationsfilm "Coco" (Tagesspiegel) und Niels Lauperts romantische Komödie "Whatever Happens" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Architektur


Heinz Buchmann / Josef Rikus: Johannes XXIII, Köln, Deutschland, 1965-1968 \\ © Foto: Raimond Spekking (CC BY-SA 3.0)

Bahnbrechend findet auch Laura Weiss in der SZ die Schau "SOS Brutalismus" im Frankfurter Architekturmuseum, die den Gigantismus aus Beton rehabilitieren und vor allem vor der Abrissbirne retten will: "Die Ausstellung beschäftigt sich jedoch weniger mit den Gründungsbauten als mit dem, was ab Mitte der Sechziger folgte: eine wahre Betonwelle, die sich über die ganze Welt brach. Und das ist die erste Entdeckung der Schau: Der Brutalismus war eine globale Bewegung. Afrika baute sich genauso enthusiastisch seine Betonmonster wie Japan oder Indien. Nur China gab den Spielverderber. Dem Staat waren die Gebäude zu kapriziös, zu individualistisch. Was zeigt, wie lustvoll hier die Zeitgeschichte in Beton abgegossen wurde. Das Gegenteil vom Dogma heute, das von der Gestaltung ewige Zeitlosigkeit einfordert. Der Brutalismus sollte die Rolle des Botschafters übernehmen, wo das Land stand, was es wollte, wie es sich selbst sah, all das lässt sich in den Entwürfen bis heute ablesen. So feierten Indien, afrikanische Länder wie Marokko oder Sambia, aber auch südostasiatische wie Kambodscha und die Philippinen mit den Gebäuden dieser Zeit laut- und formstark ihre Unabhängigkeit von den Kolonialherren."

Wegweisend nennt Katharina Rudolph in der FAZ die Bauten, mit denen die Berliner Architekten Heide & von Beckerath günstigen Wohnraum schaffen, am Stadtrand oder mittendrin am Gleidreieck: "So sind die eher kleinen, aber dennoch lichten Räume der auf mehreren Ebenen verlaufenden und meist etwa neunzig Quadratmeter großen Wohnungen des Gebäudes am Gleisdreieck-Park etwa mit mehrteiligen raumhohen Schiebeelementen ausgestattet, die als Türen und Wände zugleich funktionieren. Kommen Gäste, können zwei Räume sich in einen verwandeln; kommt ein neuer Mitbewohner, ein Kind, ein Partner, können aus einem Raum zwei werden. Das Haus passt sich seinen Bewohnern und ihren wandelbaren Lebensumständen an, nicht, wie meist üblich, umgekehrt."
Archiv: Architektur