Efeu - Die Kulturrundschau

Lichtgestalt des Röck en Röll

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2017. Die taz bewundert das Timing für Transplantation, Skalpell, Säge, Nadel, Faden, schlagendes und nicht mehr schlagendes Herz in Katell Quillévérés Film "Die Lebenden reparieren". Der Standard beobachtet das Verschwinden der Gletscher in einer Ausstellung des Fotografen Michel Comte. Die NZZ besucht eine Ausstellung der Dame en noir Christa de Carouge, Schweizer Schwester im Geiste von Rei Kawakubo und Yohji Yamamoto. Die Musikkritiker sind baff, mit welcher Intensität die Franzosen um Johnny Hallyday trauern.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.12.2017 finden Sie hier

Film


Bewegt und bewegend: Szene aus "Die Liebenden reparieren"

Begeistert sind die Kritiker von Katell Quillévérés "Die Lebenden reparieren", eine Adaption von Maylis de Kerangals gleichnamigem Roman, in dem es um Leben, Tod und Organtransplantion geht. Er "ist von einer großzügigen, lebensbejahenden, aufmerksamen, berückend schönen und analytisch klaren Perspektive beseelt", schwärmt Frédéric Jaeger in der Berliner Zeitung. Und weiter: "Die Inszenierung ist daran interessiert, Fragmente dessen vibrieren zu lassen, was an Schauspielern und ihren Rollen nicht durchdringbar ist." Auch Ekkehard Knörer sah einen fantastischen Film, wie er in der taz versichert: "Mit großer Aufmerksamkeit setzt der Film noch die kleinste seiner Nebenfiguren ins Bild; aber auch die medizinischen Dinge, das Timing für die Transplantation, Skalpell, Säge, Nadel, Faden, schlagendes und nicht mehr schlagendes Herz: All das ist von großem Gewicht. Weil er an die Grenze zum Tod führt, liebt dieser Film alles, was lebt. ... Quillévéré erzählt mit sicherer Hand und am offenen Herzen, bewegt und bewegend." Die Berliner Zeitung hat sich mit der Regisseurin unterhalten.

Nach der Sichtung des mit Sinti- und Roma-Klischees hantierenden ARD-Fernsehfilms "Eine Braut kommt selten allein" hält es der (nicht am Film beteiligte) Schauspieler Hamze Bytyci für "höchste Zeit, dass wir unsere Geschichten erzählen", wie er gegenüber Matthias Dell im Freitag-Interview erklärt. Der Film zeigt "Möglichkeiten und märchenhafte Möglichkeiten" auf, versichert unterdessen Joachim Huber auf ZeitOnline.

Außerdem: Andreas Hartmann empfiehlt in der taz eine im Berliner Kino Arsenal gezeigte Reihe mit Filmen aus Los Angeles.

Besprochen werden Jane Campions zweite Staffel der Serie "Top of the Lake" (NZZ), David Lowerys "A Ghost Story" mit Casey Affleck und Rooney Mara (taz, SZ, Welt), Alexandra Balteanus "Vânătoare" (taz, Tagesspiegel), Hany Abu-Assads "The Mountain Between Us" mit Kate Winslet und Idris Elba (Standard), Margarethe von Trottas "Forget about Nick" mit Katja Riemann (Welt, Tagesspiegel), Ildikó Enyedis Berlinale-Gewinnerfilm "On Body and Soul" (NZZ), Yeşim Ustaoğlus "Clair Obscur" und Christian Pasquariellos "Sum 1" (Perlentaucher) sowie der deutsch-französische TV-Krimi "Über die Grenze", den Heike Hupertz in der FAZ für sehr gelungen hält: "Ein gro­ßer, vor al­lem aber ein har­ter Wurf, den man auf dem Donners­tags­kri­mi-Sen­de­platz im Ers­ten nicht ver­mu­ten wür­de."
Archiv: Film

Literatur

Die Zeit publiziert erstmals einen Brief Heinrich Bölls von 1972 an den RAF-Mitbegründer Horst Mahler, in dem er Gewalttaten eindeutig ablehnt. Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um Kleists "Michael Kohlhaas". Dirk Pilz gratuliert Peter Handke in der FR zum (gestrigen) Fünfundsiebzigsten. Gunnar Cynybulk schreibt im Freitag einen Nachruf auf den Verleger Elmar Faber. Besprochen wird unter anderem die Werkausgabe Irmgard Keum (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Kunst


Michel Comte, Light. Requiem, 2017. Mountain in black granite, HD video projection, 3D mapping, stereo 19 minutes, looped. Maxxi, Rome

Anne Katrin Feßler hat für den Standard den Schweizer Fotografen und Bergsteiger Michel Comte getroffen, dessen Ausstellungen im Maxxi in Rom und auf der Triennale di Milano vom langsamen Verschwinden der Gletscher als Folge des Klimawandels erzählen: "In Rom hat Comte nun einen intensiven Moment der Andacht und Stille geschaffen: Im tiefen Dunkel eines verschwenderisch großen Saals wirkt sein Szenario von Erhabenheit und Verlust besonders intensiv. In der Düsternis scheint man allein mit der Erfahrung, mit dem Anblick des schimmernden, von Eis bedeckten Bergmassivs, das mittels 3D-Mapping-Technik auf einen schwarzen Granitbrocken projiziert ist. Der Gletscher zieht sich jedoch vor den Augen des Betrachters rasant zurück. Übrig bleibt tiefgrauer Fels und ein trauriges Unbehagen, das auch vom Grollen und Knacksen des Soundteppichs genährt wird, ein Mix (Maurizio Argentieri) von am Gletscher aufgenommenen Geräuschen. Der Titel antwortet dem Gefühl: Requiem."

Weitere Artikel: In der NZZ feiert Dirk Baecker Kunst, die "das Böse" als Oberflächenphänomen oder als Material ausstellt und dabei die "Eindeutigkeit des subjektiven Standpunkts"  meidet. Etwas ähnliches versucht wohl gerade die Märtyrer-Ausstellung in Berlin, die islamistische Attentäter neben Maximilian Kolbe und Jeanne d'Arc stellt. Das offenbart höchstens Denkfaulheit, meint im Standard Bert Rebhandl über "ein Kunstprojekt, das sich die historisch teuer erkaufte, inzwischen aber oft leichthin beanspruchte Freiheit nimmt, 'mehr Fragen als Antworten' zu präsentieren". Und Marion Löhndorf freut sich in der NZZ über den Turner-Preis für Lubaina Himid.

Besprochen werden eine Ausstellung von Emeka Ogboh in der Kunsthalle Baden-Baden (Zeit),die 16mm-Film-Installationen "Slow Down!" in der Wiener Kunsthalle Exnergasse (Standard) und eine Ausstellung mit Tierporträts des Fotografen Balthasar Burkhard in der Zürcher Galerie Walter (NZZ).
Archiv: Kunst

Design

Christa de Carouge. Foto © Christian Lanz, Zürich
Man nennt sie "La Dame en Noir" - ihrer schwarzen Kleidung und Arbeiten wegen. Jetzt widmet das Schweizer Kunsthaus Zug der Modedesignerin Christa de Carouge eine Ausstellung, die Jürg Zbinden für die NZZ besucht hat. Ihre Arbeiten "bieten Platz zum Atmen. In ihrer Kleidung soll man wohnen können, und zur Wohnlichkeit gehört nun einmal Platz. Einschneidende Enge ist dem Freigeist zuwider. Sexy? Nein danke! Da kennt sie kein Pardon. ...  Christa de Carouge gehört zu den Pionieren der Avantgarde- oder, wie man will, Anti-Mode, in die Reihe der früh aufbegehrenden Japaner: allen voran ihre Schwester im Geiste, Rei Kawakubo von Comme des Garçons, Yohji Yamamoto und Issey Miyake. "
Archiv: Design

Bühne

Besprochen werden Tatjana Gürbacas Inszenierung von Wagners "Ring des Nibelungen" am Theater an der Wien (nmz, SZ, FAZ), Sara Ostertags Inszenierung von Sasha Marianna Salzmanns Stück "Muttersprache Mameloschn" mit Musik und Tanz am Kosmostheater Wien (nachtkritik), eine "Lulu" an der Wiener Staatsoper (Standard) und Karin Henkels Inszenierung "Beute Frauen Krieg" nach Euripides in Zürich (anders als kürzlich in Stuttgart, wo nur Frauen besetzt waren, stehen in Zürich auch ein paar Männer auf der Bühne, murrt FAZ-Kritiker Martin Halter, "aber hauptsächlich als hochdekorierte Lügner, Schweine und Idioten. Die Heroisierung der weiblichen Opfer auf Kosten der männlichen Täter ist dann aber doch ein zu leicht errungener Sieg im trojanisch gegenderten Krieg."
Archiv: Bühne

Musik

Ziemlich beeindruckt blicken die Musikkritiker nach Frankreich, wo der Tod des Rock'n'Roll- und Pop-Musikers Johnny Hallyday das Land in einen "Schock" versetzt hat, wie Axel Veiel in der FR meldet. Das Land "verehrte ihn als einen Nationalheiligen, dem kein Skandal etwas anzuhaben vermochte", schreibt Karl Fluch im Standard über die Exzesse des Stars. "Nichts schien diese Lichtgestalt des Röck en Röll zu überschatten." Hallydays "Markenzeichen (...) waren Chansons voller Tränen und Testosteron, die er mit röhrenden Tremoli und breiig angelsächsischem Akzent ins Mikrofon schmetterte", erklärt Marc Zitzmann in der NZZ. Angesichts des Ausnahmezustands, den Hallydays Tod in den französischen Medien ausgelöst hat, ist sich Jörg Altwegg in der FAZ sicher, "dass der nationale Kult" um den Sänger "auch Jahrzehnte nach dem Tod noch anhalten wird."

Der Fernsehmoderator Michel Drucker ist in Tränen ausgebrochen, als er die Sondersendung von France 2 über Hallyday abmoderierte:

Christian Schröder erinnert im Tagesspiegel daran, dass Hallyday vor einigen Jahren mit all seiner abgebrühten Coolness auch für den Hongkong-Regisseur Johnnie To vor der Kamera stand. Hier einige Ausschnitte aus dem Film, der im übrigen in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember im BR läuft:



In der NZZ zerpflückt Frank Schäfer den "Messiaskomplex" von Bono und U2: Bono "zog einen Handel mit moralinsaurer Symbolpolitik auf, die ihn zum Milliardär machte. ...     Dass er mittlerweile vom eigenen Gottesgnadentum überzeugt ist, zeigte schon das Sonnenkönig-Gebaren der Band auf ihrer spektakulären '360° Tour'. Die Konzerte folgten überdeutlich absolutistischer Herrschaftsinszenierung - mit der Bühne im Zentrum. Ihre Untertanen kamen zuhauf."

Außerdem: Udo Badelt stellt im Tagesspiegel den Nachwuchs-Dirigenten Lahav Shani vor. The Quietus kürt die besten 100 Alben des Jahres. Auf Platz Nummer Eins: Richard Dawsons "Peasant" - daraus ein Video:



Besprochen werden Misha Asters Buch "Staatsoper. Die bewegte Geschichte der Lindenoper im 20.Jahrhundert." (SZ), Konzerte von King Krule (Tagesspiegel), Asaf Avidan (Tagesspiegel) und FM Belfast (FR) sowie die Wiederveröffentlichung von Minnie Ripertons Soulklassiker "Perfect Angel" (Pitchfork). Hier das wunderbare erste Stück daraus:

Archiv: Musik