Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Klangwelt wie eine Gummizelle

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11.12.2017. Im Bolschoi-Theater wurde nun doch noch Kirill Serebrennikows Nurejew-Ballett aufgeführt: Selbst unter den dicken Moskauer Schichten von Macht, Pelz und Botox ist niemand in Ohnmacht gefallen, berichtet die SZ. Die Welt fragt, wie die Berliner Staatsoper mit ihrer Rentnerregieriege internationalen Anspruch erheben will. Nach der Verleihung des Europäischen Filmpreis an Ruben Östlunds Kunstbetriebssatire "The Square" hadern FR und taz mit dem europäischen Konsens. Im Guardian stellt Jonathan Jones klar: Ein Bild ist kein Angriff.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.12.2017 finden Sie hier

Bühne

Im Bolschoi-Theater wurde nun doch noch Kirill Serebrennikows Nurejew-Ballett aufgeführt, und wie Sonja Zekri in der SZ berichtet, hat selbst die "Moskauer Mischung aus Macht, Pelzen und Botox" so viel Nacktheit und Homosexualität durchaus verkraftet: "Niemand ist am Samstag im Moskauer Bolschoi-Theater in Ohnmacht gefallen, niemand hat Glasscherben auf die Bühne geworfen, wie einst Kommunisten in Paris, die Rudolf Nurejew die Flucht aus der Sowjetunion nicht verziehen. Wohlwollend verfolgte das Publikum das Ballett aus glatzköpfigen französischen Transen in Stilettos und Schlitzkleidern, applaudierte dem Pas de Deux Nurejews mit seiner großen Liebe, dem dänischen Tänzer Erik Bruhn. Beifall begleitete die Auftritte halb nackter junger Männer, mal in trashiger Camp-, mal in Village-People-Optik mit Lederkappe und Fingerhandschuhen." Serebrennikow war natülich nicht anwesend, er steht immer noch unter Hausarrest, berichtet Zekri von der angespannten Stimmung: "Bei der Pressekonferenz vor der Premiere wirkten die Künstler, als erwarte sie ein sibirisches Lager."

In der FAZ jubelt Wiebke Hüster über die Aufführung: "Es gibt im Bolschoi mehr als einen Tänzer, der das Charisma und die Virtuosität besitzt, den Erwartungen standzuhalten. Aber man muss erst einmal die Nervenstärke aufbringen, gegen eine Legende wie Nurejew anzutreten. Nicht nur liegen dessen Auftritte jahrzehntelang zurück, Nurejews Todestag jährt sich am 6. Januar zum fünfundzwanzigsten Mal. Er ist ein Mythos. Das Wundervolle an Serebrennikows Ballett ist, dass er diesen Mythos weder bedienen noch zerstören will."

Wenig Poesie und keine Erkenntnis hat Welt-Kritiker Manuel Brug in den beiden Premieren erlebt, mit denen die Berliner Staatsoper nun wieder Unter den Linden ihren Betrieb aufnimmt: "Man spielt wieder Unter den Linden. Endlich. Das freilich wird für die Zukunft einer Staatsoper mit internationalem Anspruch nicht reichen. Der scheidende Intendant Jürgen Flimm fährt in dieser Spielzeit weitgehend eine Rentnerregieriege auf. Über die Oper von morgen mag er nicht mehr nachdenken." In der NZZ sehnt sich Georg-Friedrich Kühn nach frischem Wind. "Musiktheater von Spitzenrang" erlebte dagegen Jan Brachmann in der FAZ. Weitere Berichte in taz, Berliner Zeitung und Tagesspiegel.

Besprochen werden Davide Bombanas Ballett "Roméo et Juliette" an der Wiener Volksoper (Standard), Michael Thalheimers Shakespeare-Inszenierung "Richard III." am Münchner Residenztheater (SZ), Wagners "Ring" in Tatjana Gürbacas "auf drei Abende eingedampften, radikal dekonstruierten" Inszenierung am Theater an der Wien (taz), Stefan Bachmanns Inszenierung von Ibrahim Amirs neuem Stück "Heimwärts" am Schauspiel Köln (NZZ) und Ibsens "Stützen der Gesellschaft" im Düsseldorfer Central (FAZ).
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Film

Mit insgesamt sechs Auszeichnungen wurde Ruben Östlunds Kunstbetriebs-Sezierung "The Square" (hier unsere Kritik) am Samstag beim Europäischen Filmpreis überhäuft - soviele wie 2014 der große Abräumer "Ida" von Paweł Pawlikowski. Bei der Vergabe in Berlin "spürte man das erste Mal ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein aus wachsendem Leidensdruck geborenes Gefühl", schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt. Was auch damit zu tun hat, dass ein Film wie "The Square" mit Mitteln aus insgesamt fünf Nationen produziert wurde - notwendigerweise, denn "ab einem bestimmten Budget und Niveau lassen sich europäische Filme in den kleineren Ländern nicht mehr finanzieren. Das ist erschreckend, erzwingt aber auch das Überwinden von Grenzen. Nationalistischen Egoismus können sich Filmprojekte nicht mehr leisten, was aber - im Gegensatz zu früher - nicht zu dem berüchtigten 'Europudding' führt, diesen Filmen ohne Charakter. 2017 war ein gutes europäisches Filmjahr, und aus 'The Square' spricht die distinktive Stimme seines Regisseurs." Wozu Frank Junghänel in der FR leise Skepsis anmeldet: Ist "The Square" tatsächlich "der beste Film, den Europa in diesem Jahr zu bieten hat? Eine Koproduktion, die auch in Toronto oder Boston hätte spielen können, mit den US-Serienstars Elisabeth Moss ('Mad Men') und Dominic West ('The Wire') in Gastrollen."

Immerhin: "Was den Geschmack angeht, sind die EuropäerInnen anscheinend tatsächlich erstaunlich oft einer Meinung", notiert Jenni Zylka in der taz, nachdem sich in den letzten Jahren die Konsens-Filme und Preisabräumer merklich häufen. Neben "The Square" waren vor allem die osteuropäischen Filme erfolgreich, vermerkt Christiane Peitz im Tagesspiegel, die sich außerdem darüber ärgert, dass die Frauen mal wieder deutlich das Nachsehen haben.

Szenenwechsel vom europäischen Autoren-, zum kommerziellen Unterhaltungskino: In der Welt trauert Elmar Krekeler nämlich der romantischen Komödie hinterher. Früher polierte sie - insbesondere im Advent - die Kinobilanz ordentlich auf, heute führt sie ein Schattendasein. Und wer ist dran schuld? Die Online-Partnerbörsen! "Wir leben in postromantischen Zeiten. ... Wie nämlich das Automobil dem Urwestern den Garaus machte, macht die moderne Massenkommunikation, das Tindern, das WhatsAppen, die RomCom unmöglich. Die lebt von der direkten, menschlichen Auseinandersetzung. Vom Ineinanderhineinlaufen, vom Übereinanderstolpern. Daten, Posten, Übereinanderherfallen ist das Gegenteil davon."

Weiteres: Im Standard denkt Bert Rebhandl über die Star-Wars-Industrie nach und zählt die Stunden, bis irgendwann auch Jesus einmal in die Jedi-Mythologie eingebaut wird. Dazu passend plaudert Markus Tschieder in der Berliner Zeitung mit Luke-Skywalker-Darsteller Mark Hamill, der soweit ganz gut damit leben kann, wenn mit seinem Konterfei Cornflakes verkauft werden. Besprochen wird eine Box mit den Filmen von Paolo Sorrentino (SZ).
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Architektur

In der Berliner Zeitung freut sich Nikolaus Bernau über die Entscheidung, die berühmte West-Berliner Schlange als Paradebeispiel sozialen Wohnungsbaus unter Denkmalschutz zu stellen: "Terrassenwohnberge waren eines der großen Themen utopischer Architektur in den 60er-Jahren. Gebaut wurden sie eher selten, in Japan, in Wien oder München finden sich grandiose Beispiele. Und dann eben in West-Berlin. Diese Anlage der Superlative entstand seit 1976 über dem nach Steglitz führenden Abzweig der Autobahn."
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Literatur

Für das Zeitmagazin unterhält sich Louis Lewitan mit Zadie Smith.

Besprochen werden Marie Luise Knotts "Dazwischenzeiten: 1930. Wege in der Erschöpfung der Moderne" (Freitag), Ina Hartwigs Biografie über Ingeborg Bachmann (Freitag), Manja Präkels' "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" (SZ), die nunmehr abgeschlossene deutsche Ausgabe von J.J. Voskuils Romanzyklus "Das Büro" (FR), Nell Leyshons "Die Farbe von Milch" (FR), Viet Thanh Nguyens "Der Sympathisant" (Tagesspiegel) und neue Bände aus Frédéric Pajaks "Ungewisses Manifest" (online nachgereicht von der NZZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Im Guardian reagiert Jonathan Jones ziemlich erbost auf die Petition, die Balthus' Bild der "Träumenden Therese" aus dem Metropolitan Museum zu bannen versuchte: "Throughout history people have found reasons, which seemed perfectly good to them at the time, to condemn works of art. In Reformation Europe works of art were destroyed for being Catholic. In Nazi Germany modernist art was classed as 'degenerate' and museums were ordered to take it off view. Do we really want modern liberalism to ape such illiberal precedents? ... Merril's petition confuses acts and images in a way that is deeply dangerous. Art and life are related, but they are not the same. A painting is not an assault. It's just a painting - even when the content and style seem utterly offensive, you can walk away, leaving it to gather dust on the museum wall."
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Stichwörter: Balthus, Metropolitan Museum

Musik

Thomas Hengelbrock, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, verlässt seinen Posten früher als bislang geplant - nämlich nicht im Sommer 2019, wie noch vor wenigen Monaten angekündigt, sondern schon im kommenden Jahr. Ein vorgezogener Abschied im Groll, wie sich dem Interview entnehmen lässt, das Helmut Peters für die Welt am Sonntag mit dem Dirigenten geführt hat: So hatte Hengelbrock den NDR "frühzeitig darüber informiert, dass ich meinen Vertrag nicht noch ein weiteres Mal verlängern werde. Sehr unerfreulich war dann das Vorgehen des NDR, unmittelbar nach der öffentlichen Ankündigung dieses Schrittes, meinen Nachfolger zu benennen und noch in derselben Woche, in der ich zehn Konzerte zu dirigieren hatte, vorzustellen. Das ist vollkommen unüblich und hat nach außen einen ganz falschen Zungenschlag in diese Sache gebracht."

Mit diesem Schritt gehe es Hengelbrock "ganz offensichtlich" darum, das Gesicht zu wahren und den eigenen Marktwerkt zu sichern, schreibt dazu Helmut Mauró. Den SZ-Musikkritiker wundert es daher nicht, dass der Dirigent,  "nun sowohl die Akustik der Elbphilharmonie als mitunter problematisch bezeichnet wie auch die Qualität des Orchesters, das seiner Meinung nach nicht genügend Eigeninitiative ergriffen habe."

Geradezu terrorisiert fühlt sich Konstantin Nowotny von Taylor Swifts Perfektions-Pop, wie er in einem vergnüglichen Verriss im Freitag schreibt: Zu hören gibt es auf dem neuen Album der Sängerin "poliertes Zeug, peinlich genau sitzende Refrains, im Reinraum gefertigte Ohrwürmer. Eine Klangwelt wie eine Gummizelle: Wehr dich nicht, du entkommst sowieso nicht. ...  Ihre säuselnde Stimme, aus der spätestens auf ihrem nun neuesten Album Reputation der letzte Rest Menschlichkeit digital herausgefiltert wurde, massakriert das Glückszentrum des Hörers erbarmungslos wie ein Vollrausch."

Weiteres: In der Jungle World porträtiert Nils Neuneier-Quak die Komponistin Limpe Fuchs, die mit selbstgebauten Instrumenten experimentiert. Für die taz unterhält sich Lena Kaiser mit dem Bassisten John Hughes. Die NZZ bringt eine Fotostrecke zum staatsakt-artigen Begräbnis von Johnny Hallyday.

Besprochen werden die (hier online hörbare) Compilation "Habibi Funk" mit unter anderem ägyptischer Discomusik und Funk aus Marokko (Pitchfork), das von Daniel Barenboim dirigierte Jubiläumskonzert zum 275-jährigen Bestehen der Staatsoper Unter den Linden (Tagesspiegel), ein Auftritt des 93-jährigen Chansonniers Charles Aznavour in Wien (Standard), ein Haydn- und Bruckner-Konzert der Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti (Standard), ein von Mirga Grazinyte-Tyla dirgiertes Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters (Tagesspiegel), das John-Lee-Hooker-Boxset "King of the Boogie" (FAZ) und diverse Aufnahmen weihnachtlicher klassischer Musik (FAZ).

Außerdem präsentiert Pitchfork die 100 besten Songs von 2017. Auf der Spitzenposition: "Bodak Yellow" von Cardi B.

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