Efeu - Die Kulturrundschau

Aus dem Bauhaus ausgebüxt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.12.2017. In der taz verrät die iranische Musiklehrerin Charuk Revan, wie sie sich mit Black Metal emanzipiert hat. Die FAZ sehnt sich nach einer neuen Künstlergruppe, die der Kunst zur Emanzipation vom Markt verhilft. Die Kritiker werfen mit Regisseur Ersan Mondtag einen düsteren Blick in die Altenpflege. Welt und Deutschlandfunk Kultur erproben neue Wohnmöglichkeiten. Und die Literarische Welt fragt: Was bleibt übrig von Heinrich Böll?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.12.2017 finden Sie hier

Musik

In der SZ kämpft Helmut Mauró um die Ehre der Jahrhunderte alten Tradition der Knabenchöre, die nach Missbrauchsskandalen arg angeknackst ist: "In der außerordentlichen, in ihrer Anstrengung kaum hörbaren Kunstfertigkeit dieser Musik, die in ihrer Entstehungszeit ja als Wissenschaft galt, unterscheidet sich die alte Sakralmusik nicht von der Komplexität einer gotischen Kathedrale. Beides gehörte einst eng zusammen. Allein um diese hohe Kunst erleben zu können, brauchen wir Knabenchöre: idealistisch gesinnte Kinder, Eltern, kundige, genialische Musikpädagogen. Oder auch Pädagoginnen."

Im Iran wurde die Musiklehrerin Charuk Revan von der Obrigkeit gegängelt, in Berlin hat sie nun Black Metal für sich als neue Ausdrucksform entdeckt. Die religionsskritische Facette der drastischen, in den frühen 90ern in Norwegen wegen Morden und Brandstiftungn ziemlich berüchtigt gewordenen Musik nutzt die Musikerin als Mittel zur Emanzipation, wie sie taz-Autor Pablo Rohner verraten hat: "Revan erzählt ihre Geschichte mit Black Metal als eine von Befreiung und Selbstermächtigung - als Musikerin, aber auch als Frau. 'Ich will eine Stimme der Menschen sein, die unter dem Vorwand der Religion unterdrückt werden. ...  Sie erinnert sich an den Moment, als sie in einem Proberaum den für diesen Stil typischen hohen Kreischgesang zum ersten Mal hörte: 'Mein ganzer Körper vibrierte, ich spürte die kathartische Wirkung, die in dieser Art zu singen liegt.'" Eine Hörprobe:



Die NZZ blickt in der Beilage "Literatur und Kunst" aufs Musikjahr 2017 zurück und präsentiert ihre Lieblinge in Form von Porträts und Kurzbesprechungen. Eine Auswahl: Bei der belgischen Sängerin Melanie De Biasio wird "seelische Intimität zum großen Kino", schreibt Ueli Bernays. Christian Wildhagen schwärmt von Krystian Zimermans Einspielung der Schubert-Sonaten und deren "trockenem und transparent abgemischtem Bassregister, der herrlich singenden Mittellage und dem glockenhellen Diskant."

Und Marianne Zelger-Vogt wirft sich der Sopranistin Rachel Harnisch zu Füßen: Die "Synthese von intellektueller Durchdringung und emotionaler Gestaltung macht die Aufnahme des 'Marienlebens' zum Ereignis. Harnischs Sopran, makellos, schwebend leicht, ohne Druck in höchste Regionen steigend, dabei durchaus körperhaft, verleiht der erzählenden Stimme mit kunstvoller Schlichtheit in feinsten Farbschattierungen Ausdruck und bewegt sich traumwandlerisch sicher auf dem schmalen Grat zwischen Empathie und Distanz gegenüber dem Geschehen."

Außerdem: Peter Unfried hat sich für die taz auf ein Gespräch mit Marcus Wiebusch von Kettcar getroffen, der mit seinem Punkrock einst den Schwarzen Block belieferte, heute aber nachdenklichen Indierock für Sozialpädagogen spielt. Arne Löffel plaudert für die FR mit Lars Eidinger über die Wiederveröffentlichung dessen instrumentellen Hiphop-Albums aus den 90ern. Erik Wenk plaudert für den Tagesspiegel mit dem Duo Gurr. Ljubisa Tosic spricht im Standard mit Jazztropmeter Thomas Gansch. In der SZ legt Andrian Kreye allen Jazzfans den von Quincy Jones zu Wege gebrachten VoD-Service Qwest.tv ans Herz: Das erlesene Programm dort sei "sehr hip im ursprünglichen Sinne." Frederik Hanssen gratuliert der Sopranistin Hilde Zadek im Tagesspiegel zum 90. Geburtstag. Das ZeitMagazin wirft einen Blick in die Domizile von Popstars.

Besprochen werden die Aufsatzsammlung "Das Seltsame und das Gespenstische" des Poptheoretikers Mark Fisher (taz), das neue Album von Eminem ("unzumutbar", meint die Welt, "erstaunlich lieblos", sagt der Tagesspiegel),Kinan Azmehs Eröffnungskonzert der Berliner Arab Music Days (Tagesspiegel), ein Monteverdi-Konzert des Pariser Ensembles Les Arts Florissants unter William Christie (Tagesspiegel) und Aidan Bakers Berliner Konzert (taz).
Archiv: Musik

Literatur

Der Geburtstag von Heinrich Böll jährt sich zum 100. Mal. Richard Kämmerlings fragt sich da in der Literarischen Welt, was heute noch übrigbleibt vom großen Zeitkritiker und Nobelpreisträger. Sein Fazit fällt ernüchternd aus: "Die Kämpfe der 70er und 80er, in denen Böll die rasch zum Klischee geronnene Rolle des engagierten Schriftstellers spielte, sind in weite Ferne gerückt. Auch wenn es Autoren gibt, die unverdrossen an der politischen Wirkmacht von Literatur festhalten, Juli Zeh oder Robert Menasse etwa, so waren andere Autoren für die Gegenwart stilbildender als Böll, Christa Wolf oder Uwe Johnson etwa. Für eine Klangprobe der Adenauer-Ära greift man doch lieber zu Arno Schmidt, mit dem Böll rein politisch viel verbindet, der aber um vieles abgedrehter und witziger ist." In der taz bespricht Markus Joch Ralf Schnells Buch "Heinrich Böll und die Deutschen", über das sich der WDR mit dem Autor unterhalten hat. Deutschlandfunk Kultur bringt dazu ein Feature von Andi Hörmann über Bölls Verhältnis zu Köln und außerdem eine von Terry Albrecht konzipierte Lange Nacht über Böll.

Im Freitag zerpflückt Jan C. Behmann die aktuelle Folge des Literarischen Quartetts und lässt dabei kein gutes Haar an der Sendung. "Betreutes Lesen", lautet sein Verdacht. Es gehe "um die Entgrenzung statt der Integration der Leser. Wenn selbst das Team sich inhomogen fühlt, sich zu beweisen bedarf gegenüber scheinbar schlaueren Kollegen, wie sollen sie geschlossen für das stehen, für das wir alle brennen: die Literatur? Ich rufe zu mehr Selbstbestimmung der Leserinnen und Leser auf! Leserschaft, hört die Signale!"

Außerdem: Der in Kamerun inhaftierte Schriftsteller Patrice Nganang hat sich mit einem Schreiben aus dem Gefängnis an die Öffentlichkeit gewandt, berichtet Dominic Johnson in der taz.
Beate Tröger spricht im Freitag mit Sonja Finck über deren Übersetzung von Annie Ernaux' "Die Jahre". In der Literarischen Welt begeistert sich Schriftsteller Peter Schneider für japanische High-Tech-Toiletten. In der FAZ spricht Thomas David mit Zadie Smith.

Besprochen werden unter anderem Ina Hartwigs Biografie über Ingeborg Bachmann (SZ), Nicola Denis' Neuübersetzuung von Balzacs "Ursule Mirouet" (Literarische Welt), die Hermann-Hesse-Ausstellung im Literaturhaus Berlin (Tagesspiegel), neue Sammelbände über Stefan George (FAZ) und Julia Enckes "Wer ist Michel Houellebecq" (Literarische Welt).
Archiv: Literatur

Bühne

Bild: Szene aus: "Die Letzte Station" Foto: Armin Smailovic

Nicht mehr als "gefühlsmaues Abschilderungstheater" hat Dirk Pilz in der Nachtkritik bei Ersan Mondtags Stück "Die letzte Station" am Berliner Ensemble gesehen, dass sich mit grandiosen Darstellern an den Themen Sterben, Alter, Demenz und Pflege versucht: "Manches scheint nur zu geschehen, weil es sich in der Situation anbietet, manches, weil man es eben gern zeigen wollte: Constanze Becker hackt Holz, Judith Engel schaut unter ihrer Silberdauerlockenfrisur gespenstisch ins Publikum. Einmal sitzen alle in einer Reihe und wackeln mit den Händen, Armen, Köpfen, einmal laufen sie im Kreis und singen 'lalala'." 

In der Welt verdrückt Hannah Lühmann durchaus gerührt das ein oder andere Tränchen, lacht und wird aus einem "existentiellen Erlebnis" gerissen, wenn das Publikum mit "Betet, ihr Säue!" beschimpft wird. Aber: "So ehrenwert das Anliegen ist, den gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen zu problematisieren, so merkwürdig pathetisch steht die politische Agenda in diesem Stück; das existenzielle Drama des Sterbens, das auf der Bühne in der Hüttensituation so genial zum Ausdruck kommt, verträgt seine eigene Politisierung nicht." Und in der Berliner Zeitung meint Ulrich Seidler: "Als quälende Geduldsprobe und mithin als Vorgriff auf Lebensabend-Finsternisse hat er erbarmungslos funktioniert."

Bild: Szene aus "Radetzkymarsch". Foto: Marcella Ruiz Cruz

Wenig begeistert berichten die Kritiker auch von Johan Simons' Inszenierung von Joseph Roths Generationen-Untergangssaga "Radetzkymarsch" am Wiener Burgtheater. Im Standard erlebt Ronald Pohl eine mit quietschbunten Riesenluftballons aufgebauschte "theatralische Buß- und Andachtsübung", die trotz des großartigen Ensembles ermüde: "Es hält sich, wollig warm gekleidet, die Scherben der in tausend Teile zerspringenden Monarchie vom Leibe. Man könnte auch sagen: Die Trauer über den Untergang des Kaiserreichs ist knapp hundert Jahre später noch immer so groß, dass man alle Anwandlungen von Spiellust von vornherein unterdrückt." In der Nachtkritik meint Leo Lippert: "differenziertes Spiel und ein detailreicher Handlungsverlauf machen noch keinen Roth."

Besprochen wird Christopher Marthalers Stück "Mir nämeds uf öis" am Schauspielhaus Zürich (taz, Nachtkritik, NZZ, FAZ), Christopher Rüpings Inszenierung von Bertolt Brechts "Trommeln in der Nacht" an den Münchner Kammerspielen (Nachtkritik), das Stück "Die neue syrische Regierung. Wer sonst" (taz) und Ulrike Rufs dokumentarisches Musiktheater "Volk unter Verdacht" im Radialsystem (taz).

Archiv: Bühne

Architektur

Für die Welt hat Marcus Woeller die von der Architekturzeitschrift Bauwelt veranstaltete Konferenz "Zukunft Wohnhochhaus" besucht. Während der Soziologe Heinz Bude im Eröffnungsvortrag bemerkte, die Gesellschaft sei noch nicht bereit für eine "Idee kollektiver Identität", hörte Woeller hier zugleich unkonventionelle Vorschläge wie jenen des niederländischen Architekturbüros MVRDV: "Also stapelte deren Vertreter Gijs Rikken einfach eine Reihe der beliebten Einfamilienhäuser samt Garten übereinander. Das launige, aber lediglich statisch wacklige Beispiel war nicht nur zur Auflockerung gedacht. So macht Hochhausleben nämlich Sinn: komplexe Grundrisse über mehrere Stockwerke - verschachtelte Häuser im Haus brechen nebenbei die fast unumgängliche Hierarchie der Etagen auf. Gärten auch in der Höhe - die Grünräume werden zum Gestaltungselement in der Fassade und verbessern das (Wohn)Klima."

Nikolaus Bernau erprobt auf Deutschlandfunkkultur bei der Ausstellung "Willst du wirklich wohnen wie deine Mutter?" im Berliner Aedes Architekturforum derweil das Wohnen in 50 Quadratmeter-Schachteln: "Ein zentraler Raum dient dem Zusammensein, dem Spielen, Herumsitzen, Essen und den Hausarbeiten. Es ist der einzige polygonale Raum. Rund um ihn herum sind acht rechteckige Kammern angeordnet. Man könnte auch Kabinen sagen. Wobei Schiffskabinen, diese Muster räumlicher Effizienz, im Vergleich fast verschwenderisch groß wirken. Drei Kabinen davon sind funktional festgelegt: Die Küche, sonst doch inzwischen zum Wohnraum geworden, erlebt hier ein Comeback als reiner Funktionsraum, in dem man sich kaum drehen kann, aber kochen soll; das Bad, knapp und effizient, und, viel zu oft vergessen im Stockwerksbau, ein anständiger Abstellraum."
Archiv: Architektur

Kunst

Was sich hinter der Oberfläche der amerikanischen medialen Illusionsmaschine verbirgt, erfährt Alexandra Wach im art-magazin bei der Ausstellung "America! America! How real is real?" im Museum Frieder Burda. Vor allem Trump geistert als "Hintergrundgespenst" durch die rund siebzig Werke aus den vergangenen sechs Jahrzehnten, meint sie: "Selbst beim Triptychon 'VB 55-01' von Vanessa Beecroft kommt man nicht umhin, direkt an die Sexismus-Debatte anzuknüpfen. Ging es der Künstlerin 2005 eigentlich um die Fragwürdigkeit von Körpernormen, sieht man jetzt in den nach Haarfarbe sortierten, bis auf eine durchsichtige Strumpfhose nackten Frauengruppen potentielle Objekte männlicher Übergriffe. Das gilt auch für Cindy Shermans Rollenwechsel in die Gestalt einer mittelalterlichen Madonnenfigur oder in den Plastikkörper einer die Geschlechtsmerkmale grotesk betonenden Sexpuppe." Bild: Cindy Sherman, Untitled Marilyn, 1982. Fotografie, 50,8 x 40,6 cm. Sammlung Lothar Schirmer, München

In der FAZ pflichtet Simon Strauß dem polnischen Schriftsteller, Regisseur und Übersetzer Antoni Libera bei, der in einem Beitrag in der Zeitschrift Tumult der Kunst Abhängigkeit von Markt und Tagespolitik vorwarf. Auch Strauß fordert die Emanzipation der Kunst, die "Renaissance des Ästhetischen" und die Gründung einer neuer Künstlergruppe: "Wo ist die künstlerische Lust am Befremdenden, am Gegensätzlichen, Geheimnisvollen, Unerklärlichen hin? Warum lässt sich die Kultur ihr 'Alleinstellungsmerkmal' so einfach aus der Hand nehmen - dass sie sich eben gerade nicht an Wahlprogrammen, Tagesmoral oder Profitraten orientieren muss? Die Kunst ist frei, heißt es doch immer. Aber frei, um eigentlich was zu tun? Die Leitartikel und Gesinnungsmoden einfach in ihrem jeweiligen Medium nachzubuchstabieren?"

Weiteres: In der Ausstellung "Zeitgenössische Kunst - Katar" im Berliner Kraftwerk, die Werke des nationalen Museumsverbundes Qatar Museums zeigt, lernt Rolf Brockschmidt im Tagesspiegel ein Land im Umbruch kennen: "Mehr als die Hälfte der Künstler sind junge Frauen, bei der Eröffnung waren auch so gut wie keine Kopftücher zu sehen."

Besprochen wird die dem 150jährigen Jubiläum der Wiener Universität für angewandte Kunst gewidmete Ausstellung "Ästhetik der Veränderung" im Museum für angewandte Kunst (Standard)


Archiv: Kunst

Film

SZ-Kritiker David Steinitz steht das synthetische Blockbuster-Einerlei bis hierhin. In Analogie zum Bechdel-Test, der ermitteln soll, ob in einem Film die Frauenrollen nur Beiwerk sind, fordert er einen Homo-Sapiens-Test: "Auf der Leinwand geht es fast nur noch um Maschinen, mutierte Überwesen und Zeichentrickfiguren. Unter den erfolgreichsten Filmen findet man keine einzige Geschichte ohne Superheld, Superauto oder Supermonster." Fragen sollte man sich also: "Gibt es mindestens zwei Menschenrollen? Sprechen sie miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als Maschinen oder Fabelwesen?"

Besprochen werden Claire Denis' "Meine schöne innere Sonne" mit Juliette Binoche (Freitag, unsere Kritik hier) und die Amazon-Serie "Jean Claude Van Johnson" mit Jean-Claude Van Damme (FAZ).
Archiv: Film

Design

In der Literarischen Welt erinnert Philipp Haibach an den vor zehn Jahren gestorbenen Grafiker Celestino Piatti, der den dtv-Taschenbüchern ihr lange Zeit charakteristisches Erscheinungsbild verliehen hatte: Damit "hat er die bundesrepublikanische Bücherwirklichkeit wie kaum ein anderer ästhetisch geprägt und dabei Genossen und Konservative gleichermaßen für sich gewinnen können. ... Für sein gestalterisches Mammutprojekt griff Piatti auf einen simplen Effekt zurück: Das Weiß des Umschlags diente dem Ausnahmekünstler als Minileinwand. Begrenzt wurde sie vom dtv-Schriftzug unten rechts und von den Titelzeilen oben - stets waren diese rechtsbündig und in der Akzidenz-Grotesk-Schrift gesetzt, die so aussah, als sei sie direkt aus dem Bauhaus ausgebüxt. Im weißen Zwischenraum zeichnete Piatti dann mit der Feder, dem Blei- oder Filzstift, tuschte mit dem Pinsel Aquarelle oder klebte Collagen. Die Grafiken wurden meist von markanten tiefschwarzen Konturen umrissen. Das hatte etwas sinnbildlich Sakrales, Kirchenfensterhaftes."
Archiv: Design