Efeu - Die Kulturrundschau

Ultimativ herzlos

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28.12.2017. Die Welt wirft zwei Blicke in das Laboratorium der Moderne, bevor Verwertungsindustrie und Kuratoren sich über die Künstler setzten. Die Filmkritiker frösteln in Yorgos Lanthimos' Filmdrama "The Killing of a Sacred Deer" und wärmen sich an den Farben van Goghs im Animationsfilm "Loving Vincent". Im Freitext-Blog schildert Norbert Niemann seine Eindrücke von New York. Die NZZ feiert den Illustrator Celestino Piatti. Und Zeit online aalt sich im Eklektizismus des Musikproduzenten Jack Antonof.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.12.2017 finden Sie hier

Kunst


Adolf Hölzel, Komposition (Legende der Heiligen Ursula), 1914, Landratsamt/Kreisarchiv Zollernalbkreis, Balingen, Foto: Sammlung Bunte

Inspiriert kommt Welt-Kritiker Hans-Joachim Müller aus einer Ausstellung des Malers Adolf Hölzels und seines Kreises, die das Freiburger Museum für Neue Kunst nicht unter den Oberbegriff "Abstraktion", sondern viel treffender, wie er findet, unter den Titel "Laboratorium der Moderne" gestellt hat: "Das gibt der Ausstellung ihr besonderes Gewicht, wie sie verwischte Spuren aufnimmt und dabei einen Auftritt des Hölzel-Kreises in Erinnerung ruft, der vor rund hundert Jahren in Freiburg stattfand. Auch das hat man ja längst vergessen, dass die Pioniere im 'Laboratorium der Moderne' noch ohne urbane Zentren auskommen mussten. Man ging in die Provinz, in den deutschen Südwesten, wo keine Sammler, Händler und Kritiker schon am Vorabend der Eröffnung die Sache unter sich ausgemacht haben. Und man zeigte einem genuin kunstungläubigen Publikum, wie aus glühendem Rot eine 'Anbetung' und eine 'Komposition' entstehen kann und es der Rot-Empfindung bald einmal egal ist, was unter dem Bild steht." Von Freiburg reist Müller weiter nach Ludwigshafen, wo er in der Ausstellung "Stimme des Lichts - Delaunay, Apollinaire und der Orphismus" einen weiteren Blick in das unabhängige und stolze Laboratorium der Moderne werfen darf.

Weitere Artikel: Daniele Muscionico trauert in der NZZ um die Kunstzeitschrift Parkett, die nach 33 Jahren eingestellt wird. Immerhin kann man jederzeit feststellen, was damit verloren geht: "Die Website bleibt bestehen und wird ausgebaut; in nächster Zukunft können dort 1500 Texte der letzten 33 Jahre abgerufen werden. Die Künstlereditionen wiederum werden in Museumsausstellungen rund um den Globus zu sehen sein." Die Zeit druckt einen Auszug aus einem Buch von Botho Strauss, der sich 121 Druckgrafiken von Matisse ansehen durfte, die das Münsteraner Kunstmuseum Pablo Picasso seit 60 Jahren in einem Safe bunkert.

Besprochen werden die Thomas-Struth-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst (FR), Ausstellung "Picasso 1932" im Pariser Musée Picasso (FAZ), die Ausstellung "Jakub Nepraš. Invisible Outer Space" im Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg (FAZ), die Ausstellung "Der Meister von Meßkirch. Katholische Pracht in der Reformationszeit" in der Staatsgalerie Stuttgart (SZ) und die überarbeitete Dauerausstellung im Bonner Haus der Geschichte (FR).
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Design

Für Felix Graf bilden Celestino Piattis Buchgestaltungen für dtv "ein kleines Weltkulturerbe", wie er in der NZZ schreibt: "Ein Erbe am Schnittpunkt von Literatur und Kunst aus der fast schon versunkenen Zeit der Gestaltung mit Bleistift, Tinte, Tusche, Fett- und Pastellkreide, Deck- und Wasserfarbe oder dem damals neuen Filzstift auf Papier; ein Erbe aus der Zeit des Filmsatzes und aus der Zeit, als das Taschenbuch der ideale Reisebegleiter war."

Archiv: Design

Film


Colin Farrell in Yorgos Lanthimos' "The Killing of a Sacred Deer" (Alamode)

In seinem ersten US-Film "The Killing of a Sacred Deer" lässt der griechische Auteur Yorgos Lanthimos Nicole Kidman und Colin Farrell als Ehepaar auf den Iphigenie-Mythos treffen: Ein Kind muss geopfert werden. Die Kritik reagiert gespalten auf die wie unter einer Betäubung stehende Familiengeschichte: Für Hanns-Georg Rodek von der Welt ist Lanthimos "ein neuer Auteur vom Kaliber eines Haneke oder Polanski." Von "irritierend großem Spaß" in Lanthimos' steril-künstlichem Realismus berichtet Barbara Schweizerhof in der taz. Das liege daran, dass "Lanthimos das Gemachte, Fiktive seiner Schöpfung mit ironischer Überhöhung immer wieder ausstellt", sowie an den Schauspielern, an denen man "tatsächlich ungesehene Seiten entdecken" könne. Andreas Kilb lobt in der FAZ insbesondere Thimios Bakatakis' Kameraarbeit, die das Geschehen ziemlich unbehaglich gestalten: "Die Flure im Krankenhaus öffnen sich bei ihm wie klaffende Wunden. Die dämmrigen Räume im Haus des Chirurgen wirken wie Grabkammern." Auf Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche wirken "Lanthimos' ungerührte Provokationen" dagegen mittlerweile "ein wenig kalkuliert. ... Seine Filme funktionieren wie Artauds Theater der Grausamkeit, viszeral, von chirurgischer Präzision, aber ultimativ herzlos."


Europäisches Kulturerbe, niedrigschwellig vermittelt: Der Animationsfilm "Loving Vincent" (Bild: Weltkino)

65.000 Ölgemälde wurden erstellt, um Dorota Kobielas und Hugh Welchmans Animationsfilm "Loving Vincent" und die Bildwelten Vincent van Goghs zum Leben zu erwecken. Im Tagesspiegel ist Kerstin Decker absolut hingerissen: "Plötzlich fahren wir an dem Baum vorbei, der unter allen todunglücklichen van-Gogh-Bäumen nur ein einziger sein kann: der arme, schiefe Stamm mit seinen wenigen Blättern im 'Sämann', und richtig, neben ihm steht die sinkende Sonne. Und eben diesen Baum streift der junge Armand Roulin, im Ohr die Stimme des Malers: 'Was bin ich in den Augen der meisten Menschen, ein Nichts, ein Niemand.' Einer, 'der in der Gesellschaft keine Stellung hat und auch nie eine haben wird. Kurz, der Niederste der Niederen.' Und dann folgt das große Aber, folgt die Selbstauskunft des Malers, was er der Welt noch zu beweisen gedenke, und genau in diesem Augenblick ist der Wagen vorüber und gibt den Blick frei auf van Goghs Figur des Sämanns, des großen Bürgen des neuen Anfangs in allem Ende, des großen 'Stirb und Werde!' Das ist Präzision."

SZ-Kritikerin Anke Sterneborg sah "einen Film, der ein wenig anmutet, als wäre er im Museum geträumt worden." Bei diesem Kraftakt herausgekommen sind nur "90 tendenziell harmlose Filmminuten", kritisiert Felix Stephan in der Welt. Im Grunde handle es sich um eine "niedrigschwellige Einführung in das ohnehin weltweit kanonisierte europäische Kulturerbe." NZZ-Kritiker Philipp Meier "wird den Eindruck nicht los, als hätte sich hier bloß eine bunte Schicht Ölfarbe über die Wirklichkeit gelegt." Für den Standard hat sich Anne Katrin Fessler mit Regisseur Hugh Welchman unterhalten. Daniel Kothenschulte befasst sich im Filmdienst allgemein mit der Liebe des Kinos zu Van Gogh.

Außerdem: Im Freitag geht Matthias Dell dem von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommenem Erfolg des Dokumentarfilms "Die Geschichte von einem Weg um die Welt" von Gwen Weisser und Patrick Allgaier nach, den für einen dokumentarischen Film sehr respektable 350.000 Leute gesehen haben: Der Weltenbummler-Film "bedient eskapistische Vorstellungen, aber er integriert sie in familiäre Formen des Zusammenlebens." Für die SZ porträtiert Philipp Bovermann den professionell enthusiastischen Kino-Youtuber Robert Hofmann. Im Politikteil der FAZ spricht Alexander Haneke mit "Heimat"-Regisseur Edgar Reitz über Heimatbegriffe und Rechtspopulismus.

Besprochen werden Naomi Kawases "Hakari" (NZZ), Sou Abadis Komödie "Voll verschleiert", der taz-Kritiker Fabian Tietke einige "Dümmlichkeiten" bescheinigt, und Jonas Carpignanos "Pio" (NZZ).
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Literatur

Im Freitext-Blog auf ZeitOnline schildert der Schriftsteller Norbert Niemann seine Eindrücke von New York: Dort ist er in einer Ecke untergebracht, die man immer noch als Schmelztiegel der amerikanischen Kultur bezeichnen kann: Wirkungsstätten von Mark Twain, Andy Warhol und Proto-Punk sind fußläufig ohne weiteres erreichbar. Indessen: Kaum der Hauch einer Ahnung davon im Stadtbild. "Nur weniges ist in Relikten erhalten (auf Mark Twain zum Beispiel weist immerhin ausnahmsweise eine Bronzeplakette hin, der Klamottenladen benutzt die alten Plakate des CBGB als Deko), das meiste ist spurlos verschwunden. Hätte ich nichts gelesen, keine Hinweise erhalten, wäre mir kaum etwas aufgefallen. Die Ursache für New Yorks Trend zur Auslöschung der eigenen Geschichte ist simpel und plausibel in dieser superteuren Stadt: Es geht ums Geschäft. Läden müssen dicht machen, ältere Häuser neuen, größeren, höheren weichen. Die Betreiber des CBGB konnten sich irgendwann in den Nullerjahren einfach die steigenden Mietkosten nicht mehr leisten. Aber als Reklame-Accessoire sind ihre Poster immer noch gut."

"Ich glaube, die Linke hat die Arbeiterklasse aufgegeben", sagt Zadie Smith im NZZ-Interview gegenüber Tobias Sedlmaier. Für einen exponierten Intellektuellen wie Teju Cole hält sie sich unterdessen nicht: "Vielleicht wäre ich so eine Figur, wenn ich keine Kinder hätte und reisen und all die Einladungen annehmen könnte. Ich gehe einfach jeden Tag in die Bibliothek und habe meinen häuslichen Lebensstil. Ich bin nicht in einem Mass mitten in der Welt, wie es für einen Public Intellectual nötig wäre."

Außerdem: Jürgen Ritte wirft für die NZZ einen Blick ins neukonzipierte Magazine Litréraire unter dem neuen Chefredakteur Raphaël Glucksmann. Marc-Oliver Frisch gratuliert Marvel-Comic-Mastermind Stan Lee zum 95. Geburtstag.

Besprochen werden Manja Präkels' "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" (taz), Matthew Weiners "Alles über Heather" (Tagesspiegel), Julia Enckes "Wer ist Michel Houellebecq?" (Freitag), Rodrigo Hasbúns "Die Affekte" (NZZ), Emily Wilsons "Odyssee"-Übersetzung ins Englische (FR), Eugen Helmlés Übersetzung von Georges Perecs "La Disparation", in dem Autor (wie Übersetzer) auf den Buchstaben E verzichtet haben (Berliner Zeitung), Manuela Di Francos "Der Himmel ist grün" (Standard), Mark Twains "Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben" (SZ) und Elisabeth Mayers "Am Himmel" (FAZ).
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Bühne

Besprochen werden Korngolds "Die tote Stadt" an der Dresdner Semperoper (FR), die Uraufführung von Katja Brunners Stück "Den Schlächtern ist kalt" am Schauspielhaus Zürich (Deutschlandfunk Kultur, SZ), Wagners "Ring des Nibelungen" und Verdis "Maskenball" an der Oper Chemnitz (FAZ).
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Musik

Auf ZeitOnline stellt Daniel Gerhardt Jack Antonof vor, der in den letzten Jahren so ziemlich jeden großen weißen Pop-Act produziert und nach vorne gebracht hat. Dessen eklektizistische, stark um Verdichtung bemühte Methode umschreibt Gerhardt so: "Allem Achtzigerjahre-Design zum Trotz steckt in den überkochenden Emotionen seiner Co-Kompositionen, in ihrem hohen Tempo und dem Übermaß an Informationen etwas sehr Modernes. Jeder Song ist eine Popgeschichtsplaylist für sich. Manchmal glaubt man sogar, dass die Retourkutschen für potenzielle Social-Media-Angriffe bereits im Quellcode der Lieder enthalten sind. Die erste Strophe eines Tracks beklaut Elton John? Schon bevor sich jemand darüber aufregen kann, guckt die zweite noch dreister, was es bei Phil Collins zu holen gibt."

Außerdem: Für die taz porträtiert Andreas Hartmann den Elektro-Musiker Erik Wiegand, der zuletzt unter dem Projektnamen Errorsmith produziert hat. In der Zeit erzählt Ulrich Stock die Geschichte des deutschen Jazzlabels MPS (Musik Produktion Schwarzwald). In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen der Folk-Sängerin June Tabor zum Siebzigsten. Die Spex hat für den Jahresrückblick auf die Lieblinge der Redaktion Georg Seeßlens Essay über "Pegida-Pop" online nachgereicht.

Besprochen wird Martin Gecks Buch "Beethoven. Der Schöpfer und sein Universum" (NZZ).
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