Efeu - Die Kulturrundschau

Alles ist sagbar

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03.01.2018. Auf ZeitOnline ruft die Kunsthistorikerin Julia Pelta Feldman den Verteidigern von Balthus und Dana Schutz zu: Ihr sagt Kunstfreiheit und Ihr meint den Status Quo weißer Maler. Die taz erinnert an die magische Schlichtheit der Lyrikerin Rose Ausländer. epd Medien fragt, warum es eigentlich keinen digitalen Archivkanal gibt. Die FAZ besichtigt hektarweise verglaste Parkett-Flächen der neuen Luxus-Wohnhochhäuser. Und der Standard erlebte in Wien einen Beethoven auf Speed.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.01.2018 finden Sie hier

Kunst

Kunstfreiheit, tolles Prinzip, leider immer dann beschworen, wenn Minderheiten auf ihre Ausbeutung hinweisen, ätzt die amerikanische Kunsthistorikerin Julia Pelta Feldman auf Zeit online. Bei Debatten um die Gemälde von Dana Schutz oder Balthus etwa. Doch nicht, wenn weniger als 4 Prozent der Künstler in der Abteilung Moderne Kunst Frauen sind, aber 76 Prozent bei den Akte, wie wir dank der Guerilla Girls wissen: "Warum also erregen sich unsere Kunstkritiker so viel mehr über die potenzielle Einschränkung der Kunstfreiheit eines weißen männlichen Malers als über den sehr wirklichen Mangel an Kunstfreiheit, unter dem unzählige marginalisierte Kunstschaffende leiden? Ist die fortgesetzte Abwesenheit von Frauen - nicht nur nach #MeToo, sondern nach Jahrzehnten des feministischen Aktivismus - nicht ein viel skandalöserer Akt des Auschlusses als der von Merrill vorgeschlagene? Wenn diese Kritiker - zufällig überwiegend weiß und männlich - die Kunstfreiheit verteidigen, dann verteidigen sie in Wirklichkeit jenen Status Quo, nach dem diese Freiheit verteilt ist."

Weiteres: Amely Deiss, Leiterin des Kunstpalais Erlangen, plädiert in der Welt für mehr Spaß im Museum: "Warum  denken  so  viele, Kunst müsse man unbedingt und zuallererst  verstehen?" Die taz meldet, dass Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle ein wenig zurückrudert und der Documenta nun doch einen zweiten Standort erlauben will: "Das ist nicht eine Frage des Ob, sondern eine Frage des Wie und des Wieviel", zitiert ihn das [k] Kulturmagazin.

Besprochen werden die große Schau des barocken Universalkünstlers Gianlorenzo Bernini Galleria Borghese in Rom (Tagesspiegel), eine Georg-Eisler-Ausstellung im Rupertinum in Salzburg (Standard) und die Ausstellung "Monet collectionneur", mit Monets Kunstsammlung im Pariser Musée Marmottan (SZ).
Archiv: Kunst

Architektur

In der FAZ erzählt Ulf Meyer, wie die Architektin Jeanne Gang jetzt auch aufsehenerregende Hochhäuser in Chicago baut, das sich nun auch etwas mehr für seine Skyline einfallen lassen will als Sears- und Trump-Tower. Das Problem: Die Wohnungen darin sind so teuer, dass nur Superreiche sie sich leisten können, oft als Zweitwohnsitz. "Die kleine Anzahl von noch dazu oft absenten Besitzern bekommen damit großen Einfluss auf die Skylines: Als 'hektarweise verglaste Parkett-Flächen' hat Justin Davidson die neuen Hochhäuser der Reichen genannt. In New York formierte sich erstmals Widerstand gegen die neuen superhohen Condo-Spargel, aber Chicago meint, die Condo-Käufer als Neubürger zu brauchen, denn es ist derzeit die einzige amerikanische Großstadt, die Einwohner verliert." (Foto: Aqua Tower in Chicago / Studio Gang)
Archiv: Architektur

Film

In den Fernseharchiven schlummern zahlreiche Schätze - doch ihr Programm bestücken die öffentlich-rechtlichen Sender weitgehend mit den öden Produktionen der letzten zehn Jahre. Eine Art digitaler Archivkanal, der die Schätze von früher wieder ans Tageslicht bringt, zeichnet sich nirgends ab. In einer so epischen wie lesenswerten Reportage für epdMedien hat Christian Bartels die Gründe dafür gesucht und zusammengestellt. Tatsächlich hatte das Kartellamt 2013 einen Versuch der Sender, ein solches Online-Archiv einzurichten, "in grotesker Fehleinschätzung der digitalen Medienentwicklung" zerschlagen. Dabei wäre "der einzige Konkurrent, der unter so einem Sender leiden würde, freilich weit unterhalb seiner global täglich Milliarden Aufrufe messenden Wahrnehmungsgrenze, Youtube. Wer sich derzeit Fernsehklassiker integral ansehen möchte - zum Beispiel den Mehrteiler 'Ein Kapitel für sich' von Eberhard Fechner - wird oft dort fündig. Dass solche Produktionen im Zweifel nach einiger Zeit verschwinden, da Rechtefragen nicht geklärt sind, versteht sich. Dass ein öffentlich-rechtlicher Sender, der für die Gegenwart aufbereitet, was die Anstalten schon seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Formen leisten, dazu beitragen würde, ihr angekratztes Image aufzupolieren, verstünde sich erst recht."

Außerdem: In der Berliner Zeitung beschreibt Thomas Klein den Aufstieg Disneys zum mächtigsten Entertainment-Konzern. Insa van den Berg porträtiert in der Berliner Zeitung die blinde Filmkritikerin Barbara Fickert, die die Hörbeschreibungen aktueller Kinofilme bespricht.

Besprochen werden Robert Sigls auf BluRay wiederentdeckter deutscher Horrorfilm "Laurin" ("ein wunderschöner, einzigartiger Film", urteilt Oliver Nöding auf critic.de), Agnieszka Hollands Öko- und Rachethriller "Die Spur" (Welt) und Paolo Virzìs "Das Leuchten der Erinnerung" mit Donald Sutherland und Helen Mirren (Standard).
Archiv: Film

Literatur

In der taz erinnert Katja Nau an die vor 30 Jahren gestorbene Lyrikerin und Schoah-Überlebende Rose Ausländer, für die die deutsche Sprache im Exil erst allmählich wieder zugänglich wurde: "Nach und nach gelingt ihr die lyrische Bewältigung der quälenden Erinnerungen an den 'gelben Stern/ auf dem wir stündlich starben'. Alles ist sagbar. Auch nach unsäglichem Grauen. Diese Überzeugung unterscheidet Ausländer von anderen Dichtern, die die Schoah überlebten. Aber die Erfahrungen verändern ihren Stil. Sie löst sich vom Reim, streicht immer mehr Zeilen. Ihre Gedichte entwickeln die für sie typische magische Schlichtheit, geformt von Ur- und Wurzelworten wie Atem und Erde, Rose und Luft, Mutter, Geburt, Traum, Nacht, Stern und Mond."

In der FR stellt der Schriftsteller Oleg Jurjew den Autor Ilja Sdanewitsch und dessen in den 20ern entstandenen, 2008 erstmals in Russland veröffentlichten und jetzt auch auf Deutsch vorliegenden, in Konstantinopel spielenden Roman "Philosophia" vor: "Die besten Seiten dieses Buchs sind die über die Stadt, die Ilja Sdanewitsch unermüdlich zu Fuß begangen hat", schreibt Jurjew. "Ihre Konditoreien, russischen Läden und Kakerlakenrennen, ihre großartigen Paläste, Straßen und Plätze. Ihre Gerüche, ihre Geheimnisse, ihre Dummheiten ... Der deutsche Leser muss sich glücklich schätzen, dass er als erster nach den Russen dieses Buch in die Hände kriegt!"

Weiteres: Für die FR spricht Michael Hesse mit dem Philologen Kurt Steinmann über dessen Neuübersetzung der Ilias. Lyriker Jürg Halter ist mit dem Diskussionsverhalten seiner Mitmenschen auf den Sozialen Medien sehr unzufrieden, erklärt er im NZZ-Gespräch gegenüber Nora Zukker. Für die Welt trifft sich Dirk Schümer mit dem Schriftsteller Claudio Magris im Café. Nicht TV-Serien sind die neuen Romane, sondern Romane sind die neuen TV-Serien, schreibt Astrid Herbold im Tagesspiegel angesichts dessen, dass jüngere Romane sich mit gewiefteren Pageturner-Strategien gegenüber dem neuen Konkurrenzdruck durch Zeitfresser wie Netflix und Co.zu behaupten versuchen. Max Frischs "Stiller" ist bis heute eine lohnenswerte Lektüre, schreibt Ralf Klausnitzer im Freitag. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf die Krimi-Autorin Sue Grafton.

Besprochen werden unter anderem die von Lena Schall illustrierte Ausgabe von Italo Calvinos "Das schwarze Schaf" (NZZ), Rüdiger Bertrams Jugendroman "Der Pfad. Die Geschichte einer Flucht in die Freiheit" (Tagesspiegel), Peter Keglevics "Ich war Hitlers Trauzeuge" (Standard), Mark Douglas-Homes neuer Krimi "Sea Detective - Der Sog der Tiefe" (FR), Durs Grünbeins Gedichtband "Zündkerzen" (SZ) und Karl Friedrich Borées "Frühling 45" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Besprochen werden Peter Konwitschnys Inszenierung von Cherubinis "Medea" an der Oper Stuttgart (SZ) und Stephen Karams Stück "The Humans" in Bochum (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Restlos glücklich berichtet Stefan Ender im Standard vom Beethoven-Konzert der Wiener Philharmoniker unter Phillipe Jordan am Silvester-Vorabend: Beim der 2. Sinfonie zeigte sich ihm, welche neue Qualitäten das Orchester unter dem Chefdirigenten mittlerweile entwickelt habe. Der Dirigent "nahm sowohl die Erkenntnisse des historisch informierten Musizierens als auch die irrwitzig schnellen Metronomangaben des eigensinnigen Komponisten ernst und präsentierte einen agilen Beethoven ohne Speck, dafür auf Speed. Die Sechzehntelläufe der Streicher waren wirbelwindschnell, die unvermittelten Fortissimo-Ausbrüche hatten die körperliche Wucht exakt platzierter Leberhaken. Elastizität und Eleganz blieben trotzdem nicht auf der Strecke."

Die Compilation "Diggin' In The Carts" untersucht den musikalischen Fundus japanischer Videospiele auf ihren Einfluss auf die moderne elektronische Musik von heute hin und das sehr zum Gefallen von taz-Kritiker Steffen Greiner: "Tatsächlich erklingen in den Tracks häufig Bezugspunkte einer Musik, die sich, wie Prog, zwischen Hoch- und Trivialkultur verortete: Michiharu Hasuyas Soundtrack zum Puzzlespiel 'Solomon's Key' (1986) etwa gräbt süßlich in barocken Fantasien und polyphonen Arpeggios, während sich 'Mister Diviner', ein Stück von Soshi Hosoi aus dem Spiel 'The Majhong Touhaiden' (1993) überraschend nah an der Minimal-Music eines Steve Reich bewegt. Andere Tracks sind einfach wunderschöner elektronischer Schmelz." Auf Bandcamp kann man die Compilation hören:



Außerdem: Eric Facon schreibt in der NZZ zum Tod des Mundart-Rockers Hanery Amman. Hansgeorg Hermann besucht für die FAZ den Komponisten Mikis Theodorakis, um sich mit ihm über Asteris Koutoulas' filmisches Porträt "Dance, Fight Love - With Mikis on the Road" zu unterhalten.

Besprochen werden Robert Finleys neues Southern-Soul-Album "Goin' Platinum" (SZ),das neue Album "The Nature Of The Blues" von Matthias Spillmann und seinem Quintett Mats-Up (NZZ) und das Neujahrskonzert der Berliner Philharmoniker unter René Jacobs mit dem RIAS Kammerchor (FAZ).
Archiv: Musik