Efeu - Die Kulturrundschau

Die Erfindung des Senfs

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20.01.2018. Georg Baselitz schafft es in der Welt mit seinen achtzig Jahren noch einmal, das Physische und Psychische in Einklang zu bringen. Die NZZ hört ein radikal entrümpeltes Requiem von Verdi. Die neue musikzeitung staunt beim ersten Konzert des fusionierten SWR Symphonieorchesters mit dem Dirigenten Teodor Currentzis über einen höchst emanzipierten Bruckner. In der FAZ berichtet die niederländisch-jüdische Schriftstellerin Ariëlla Kornmehl von Lesungen in Ostdeutschland vor ehemaligen SS-Mitgliedern. Die nachtkritik amüsiert sich prächtig in der Zürcher Theateradaption von  Robert Menasses EU-Roman "Die Hauptstadt".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.01.2018 finden Sie hier

Kunst

Zum Achtzigsten von Georg Baselitz schreiben Philipp Meier in der NZZ und Gottfried Knapp in der SZ. In der Welt gibts ein Interview mit ihm, das auch auf sein Spätwerk eingeht: Akte zumeist, von ihm und seiner Frau, die Interviewer Cornelius Tittel an Picassos Spätwerk erinnern. Damit hat Baselitz kein Problem: "Das waren exakt die Bilder, die als Beleg für seinen Zusammenbruch galten. Diese merkwürdige Serie von satirischen, flott gemalten Clowns, die in die Möse gucken. Und ich fand die so überraschend, dass ich sagen musste: Mein Lieber, da funktioniert beides, da ist das Physische und Psychische noch in einem guten Einklang. Spätestens seitdem ich diese Picassos gesehen hatte, hat mich das interessiert: Wie ist das bei meinen Helden gewesen?"

Weiteres: Mit Stiftungsgeldern konnte in New Orleans eine Ausstellung auf die Beine gestellt werden, die die Sammlung afroamerikanischer Kunst des Ehepaars Pamela J. Joyner und ihres Ehemanns Alfred J. Giuffrida zeigt, berichtet Lorina Speder im Tagesspiegel.

Besprochen werden die Ausstellung "Wien um 1900" im Wiener Leopold-Museum (Standard), eine Ausstellung des Fotografen Andreas Gursky in der Londoner Hayward Gallery (Guardian), eine Ausstellung des Fotografen Mike Chick im Tempelhof Museum (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Sick! Kranksein im Comic" im Medizinhistorischen Museum der Charité in Berlin (FAZ).
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Musik

"Eine ungeheure Geschmeidigkeit im Leisen" bescheinigt FAZ-Kritiker Jan Brachmann Teodor Currentzis, der erstmals das SWR Symphonieorchester dirigierte. Gegeben wurden Ligeti und Bruckner und Currentzis gönnte sich laut Brachmann viel Spaß: "Wo andere Interpreten (...) die Musik Bruckners als Andeutung von Undarstellbarem begriffen, als etwas, das nicht menschliche Handlung, sondern Widerfahrnis ist, da wird sie bei Currentzis ganz und gar Tat und Muskelspiel des beherzten Zugriffs, aus dem Metaphysischen also restlos ins Physische geholt."

Von einem "denkwürdigen Abend" berichtet auch Götz Thieme in der nmz: "Currentzis emanzipierte Bruckner von einer Interpretationsgeschichte, dass man nur staunte. Das erinnerte weder an Wands Strenge, noch an Celibidaches Versenkung in die Breite, sondern war von einem durchgehenden sprechenden Fluss - Resultat einer meisterhaften Zeitgestaltung, nämlich Verdichtung des Geschehens, so dass die erlebte Zeit gegenüber der messbaren verkürzt erschien. Freiheit der Gestaltung innerhalb der Strenge der Architektur ist nur ein Aspekt, aber ein wesentlicher." Neugierig geworden? Gute Nachricht: Bei Arte gibt es einen Mitschnitt des Konzerts.

Absolut umwerfend und "niederschmetternd" war unterdessen John Eliot Gardiners Zürcher Aufführung von Verdis "Messa da Requiem" mit dem Tonhalle-Orchester und dessen Monteverdi Choir, berichtet Christian Wildhagen in der NZZ: Der Maestro hat "die Wiedergabe der Musik radikal entrümpelt" und damit "zu Klangrealismus und einer Unerbittlichkeit des Ausdrucks" gefunden. "Diese Interpretation will erschüttern, und sie tut es in jeder Sekunde. Denn mit ihrer kompromisslos stringenten, jedes Romantisieren vermeidenden Härte konfrontiert sie uns erbarmungslos mit der existenziellen Furcht des Einzelnen vor dem Tod. Und sie eröffnet ebenso keinerlei Ausflüchte in eine wie auch immer geartete Transzendenz."

Weitere Artikel: In der Spex spricht Klaus Walter mit Greg Tate über das neue Interesse am Afrofuturismus. Julian Weber berichtet in der taz von einem Diskussionsabend an der Berliner Volksbühne, wo es um den zunehmend toxischen Einfluss der antisemitischen BDS-Kampagne im Zusammenhang mit zahlreichen Musikveranstaltungen ging. Sehr beeindruckt von den neuen Tocotronic-Musikvideos, die das neue Album "Die Unendlichkeit" kapitelweise aufdröseln (zu sehen hier, hier und hier), wünscht sich Jan Wiele in der FAZ eine Musikvideo-Kritik, die diese Kunstform besser würdigt als dies gemeinhin der Fall ist. Für die taz porträtiert Pablo Rohner den Berliner Musikbastler Theo Kleissiaris, der weltweit Stars mit seinen Effektpedalen für die Gitarre beliefert. Und Christian Eede von The Quietus freut sich auf eine angekündigte Compilation mit südafrikanischem Bubblegum-Soul und Synth-Boogie aus den frühen 80ern. Wir freuen uns mit:

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Literatur

Fatma Aydemir spricht für die taz mit Colson Whitehead, der für sein Sklavereidrama "Underground Railroad" mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde. Im Gespräch geht es um die Kontinuität des Rassismus in den USA und die Herausforderungen, die sich ihm beim Verfassen von "Underground Railroad" stellten. Die Idee der "Game of Thrones"-Macher, mit "Confederate" eine Serie zu drehen, deren Prämisse davon ausgeht, dass die Konföderierten siegreich aus dem US-Bürgerkrieg hervorgegangen sind, kommentiert der Schriftsteller ebenfalls: "Erstens: Viele Amerikaner müssen sich das gar nicht vorstellen. Denn sie glauben ja daran, dass es die Konföderierten immer noch gibt und gehen mit ihrer Flagge stolz auf die Straße. Zweitens: Ich finde, das ist eine sehr dumme Idee. Und nach 'Game of Thrones' kann ich nur sagen, dass die Macher dieser Serie keinerlei Glaubwürdigkeit mehr haben, was die Darstellung von People of Color angeht."

Die niederländisch-jüdische Schriftstellerin Ariëlla Kornmehl, deren Großeltern vor den Nazis fliehen mussten, denkt im literarischen Wochenendessay der FAZ über ihre Erfahrungen bei irritierenden Lesungen in Ostdeutschland nach, bei denen sie unversehens mit ehemaligen SS-Mitgliedern im Publikum konfrontiert war. Sie fragt sich: "Woher kommt der Fremdenhass in Ostdeutschland, obwohl hier nur wenige Flüchtlinge untergebracht werden? Gibt es eventuell einen Zusammenhang zwischen dem einst aufgezwungenen Kommunismus und der Lebenseinstellung eines Teils der heutigen Bevölkerung? Hat es auch damit zu tun, dass nach 1945 in der DDR die Religion unterdrückt wurde? Welche Folgen haben die Schwäche der Kirchen oder ein unfreies Kulturleben mit sich gebracht? Gab es in Ostdeutschland einen Ort, an dem Menschen unbefangen ihre Gewissensfragen äußern konnten?"

Außerdem: In ihrer ersten Wochenend-Kolumne für den Guardian denkt Elena Ferrante über erste Male nach. Die Schriftstellerin Anna Felder erhält den Schweizer Grandprix Literatur, meldet Roman Bucheli in der NZZ. In der Literarischen Welt gestattet der Philosoph Rüdiger Safranski Einblick in seine Lese-Biografie: Unter anderem "Robinson Crusoe" und Henri Alain-Fourniers: "Der grosse Meaulnes" zählen zu seinen ewigen Lieblingsbüchern. Denis Scheck erweitert seinen Welt-Literaturkanon um Gertrude Steins "Autobiographie von Alice B. Toklas". Thomas Schaefer widmet sich in der FAZ dem oft übersehenen literarischen Mikro-Genre der literarischen Widmung. Deutschlandfunk Kultur bringt zum Nachhören eine Lange Nacht von Gaby Mayr über neue Literatur aus Afrika.

Besprochen werden unter anderem Margaret Atwoods Essayband "Aus Neugier und Leidenschaft" (taz), Mark Twains "Reportagen aus dem Reichsrat 1898/1899" (NZZ), Julia Enckes "Wer ist Houellebecq? Porträt eines Provokateurs" (taz), Joshua Cohens "Buch der Zahlen" (Welt), Rebecca Solnits "Die Mutter aller Fragen" (taz), Pierre de Ronsards "Sonette für Hélène" (Tagesspiegel), Mirko Bonnés "Lichter als der erste Tag" (Standard), Ludwig Lugmeiers Tatsachenroman "Die Leben des Käpt'n Bilbo" (ZeitOnline), die Heinrich-Böll-Ausstellung in der Zentralbibliothek in Köln (FR) und der erste Teil aus Haruki Murakamis neuem Roman "Die Ermordung des Commendatore" (SZ) - Peter Praschl hat aus diesem Anlass für die Literarische Welt eine Anleitung zum eigenständigen Verfassen von Murakami-Romanen erstellt.
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Film

Die neue Pimmel- und Kerle-Komödie "Hot Dog" aus dem Schweiger/Schweighöfer-Filmimperium ist so "rückständig", schreibt Jenni Zylka auf ZeitOnline entgeistert angesichts der Männerei, die der Film präsentiert. Ignorieren sollte man den Film dennoch nicht, sondern lieber "versuchen, zu verstehen, wieso solche Filmfiguren immer noch existieren, solche Stoffe immer noch von offizieller Stelle gefördert werden - vor allem, um diese Tatsachen zukünftig zu bekämpfen. Vor dem Hintergrund einer Filmbranche, die gerade verzweifelt versucht, Gendersensibilität zu beweisen, kommt 'Hot Dog' genau zum richtigen Zeitpunkt."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte spricht in der FR mit Ellen M. Harrington über ihre Pläne als neue Direktorin des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt. Mit einer Online-Ausstellung der von Josef Fenneker gestalteten Filmplakate führt das Filmmuseum Berlin "in eine versunkene Welt großer Gesten und melodramatischer Gefühle", schreibt Christian Schröder im Tagesspiegel. Für den Filmdienst hat sich Michael Ranze mit François Ozon zum Gespräch über dessen neuen (in Standard und Freitag besprochenen) Film "Der andere Liebhaber" getroffen. Außerdem hat Ranze für den Filmdienst mit der Schauspielerin Martina Gedeck über deren neuen Film "Wir töten Stella" gesprochen. Claus Löser würdigt im Filmdienst Heinz Emigholz, der am 22. Januar 70 Jahre alt wird. In der taz empfiehlt Peter Nau Ernst Lubitschs Nazi-Satire "To Be Or Not To Be", der heute nochmals im Berliner Kino Arsenal läuft. Michael Schleeh erinnert im Schneeland-Blog an Yoichi Takabayashis 1982 entstandenen Tattoo-Fetisch-Film "Irezumi".

Besprochen werden Trey Edward Shults' Horrorfilm "It Comes At Night" (Tagesspiegel) und Alexander Paynes Minimalisierungs-Satire "Downsizing" mit Matt Damon (Standard, mehr dazu hier).
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Bühne


Szene aus "Die Hauptstadt". Foto: Barbara Braun

Polit-Theater, Figuren-Essay und große Unterhaltung genoss nachtkritiker Maximilian Pahl im Zürcher Theater Neumarkt, wo Tom Kühnels Adaption von Robert Menasses EU-Roman "Die Hauptstadt" Uraufführung hatte: "Auf 'schrullige' Ideen wie die Erfindung des Senfs ('einer Paste, die den Eigengeschmack einer Speise völlig überdeckt, ohne selbst gut zu schmecken') folgen folgerichtig schrullige Regieeinfälle: Jemand krümmt sich in einem Senftubenkostüm. Dann stehen Miro Maurer und Simon Brusis als Beamte auf einem projizierten Tenniscourt und spielen sich trocken, zu synchron eingespielten Tönen, die Bälle zu. Apropos Töne: Auf die bewährte Bühnenpräsenz von Polly Lapkovskaja muss der Abend zwar verzichten, dennoch liefert sie mit ihrer Band Pollyester den Soundtrack ab Band: 'Euro-Trash-Girl' oder 'Airport, Fairport' lautet es in den tieftönig elektronischen Songs, die den Szenen zugeschnitten sind."

Für NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico taugt die Inszenierung zur Nachahmung: "Was hier einem kleinen Theater an Kunst gelingt, ist in Maßeinheiten der Ökonomie nicht aufzurechnen. Es braucht das Team, die Gemeinschaft, und den Glauben an sie, an ein höheres Ziel, ein gemeinsames Drittes - hier auf der Bühne, dort in Brüssel."

Weitere Artikel: Birgit Walter gratuliert in der Berliner Zeitung dem Ballettchef der Komischen Oper, Tom Schilling, zum Neunzigsten.

Besprochen werden Alain Platels Münchner Choreografie "Requiem pour L." (die mit dem Video einer real sterbenden Frau unterlegt ist, was Christiane Peitz im Tagesspiegel als völlig sinnlose Grenzüberschreitung ansieht, SZ), die Uraufführung von Dominik Buschs Stück "Das Recht des Stärkeren" in der Inszenierung von Felicitas Brucker am Theater Basel (nachtkritik), Chris Kondeks und Christiane Kühls Stück "The Hairs Of Your Head Are Numbered" im Berliner HAU (nachtkritik), Mona Kraushaars Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater (nachtkritik), Ibrahim Amirs "Homohalal" im Werk X in Wien (Standard) und Hüseyin Michael Cirpicis Inszenierung von Sartres "Die schmutzigen Hände" im Stadttheater Gießen (FR)
Archiv: Bühne