Efeu - Die Kulturrundschau

Wahrhaft königliche Renitenz

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12.03.2018. Der Standard erlebt Tobias Moretti im Burgtheater als einen der großen Verweigerer der Moderne. Außerdem lernt er von Francesca Woodman, wie das weibliche Selbstbild im Auge des Betrachters zersplittert. Die SZ nimmt im Musée du Quai Branly kolonialistische Kunst in den Blick. NZZ und Welt wünschen sich, dass Uwe Tellkamp noch viel mehr Debatten anstößt. Die FAZ staunt über Tellkamps Ost-Nationalismus. Und Tatort-Macher Dietrich Brüggemann wütet auf seinem Blog d-trick gegen die öffentlich-rechtliche Monokultur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.03.2018 finden Sie hier

Kunst


Francesca Woodman: Aus der "Eel Series", 1978. Galerie Winter

Bereits mit 22 Jahren nahm sich die feministische Künstlerin Francesca Woodman das Leben. Aber wie Roman Gerold im Standard erzählt, blickt sie da schon auf neun Schaffensjahre zurück. Die Wiener Galerie Winter zeigt ihre Bilder, und der Kritiker ist ganz fasziniert, wie sie männliche Ästhetik dekonstruierte: "Was Woodmans melancholische Selbstporträts zusammenhält - und wovon auch die schöne Auswahl bei Winter einen Eindruck zu geben vermag -, ist, dass sie Frauenbildtypen durchspielen: Ein und dieselbe Protagonistin verwandelt sich, indem sie sich verschiedene männliche Blickpunkte aneignet. Um ganzheitliche Schönheit geht es in diesem Spiegelkabinett freilich nicht. Was Woodman in ihren bestrickenden Fotografien verdeutlicht, ist die Zersplitterung des weiblichen Selbstbilds im Auge männlicher Betrachter."

In der NZZ nimmt Philipp Meier passend dazu die Schau "Women" im Kunstmuseum Winterthur in den Blick, die Frauenbilder in der Kunst untersucht: "Wie schön, anmutig, lieblich, sinnlich, ja erotisch und lasziv sie auch immer dargestellt sein mag - das Bild der Frau in der Kunst scheint vorab das Bild des Mannes von der Frau zu sein." Aber mit den künstlerischen Gegenpositionen von Pippilotta Rist, Sylvie Fleury, Nan Goldin oder Candice Breitz kann er wenig anfangen: "Sie wirken allerdings genau deswegen bloß frech, weil sie sich lediglich rebellisch gebärden oder parodistisch auflehnen gegen den vermeintlichen Primat eines männlichen Blicks."


Jeanne Thils "Afrique-Équatoriale française". Bild: Enguerran Ouvray/Musée du Quai Branly.

Das Pariser Musée du Quai Branly zeigt in einer selbstkritischen Schau seine Bildersammlung, die es eigentlich in den Keller verbannt hatte, seit es nicht mehr Musée des Colonies heißt. Ausgesprochen aufschlussreich findet Joseph Hanimann die Schau, die damit auch ihren eigenen Blick auf Exotik und Ästhetik revidierte: "Der Blick auf das Ferne und Fremde unter europäischer Herrschaft hat sich zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg stark gewandelt. Der Wechsel von rousseauistischer Verklärung zu vordergründiger Exotik, schmachtender Erotik, ethnografischer Neugier, klassifizierender Obsession und technikgläubigem Zivilisierungswahn lässt sich in den Bildern dieser Ausstellung anschaulich verfolgen."

Besprochen werden außerdem die Schau "High Society" im Amsterdamer Rjksmuseum, die Ganzkörperporträts aus vier Jahrhunderten zeigt (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Die erste Generation" zu Bildhauerinnen der Berliner Moderne im Georg Kolbe Museum (Tagesspiegel), eine Schau von Rembrandts Radierungen im Musée Condé bei Paris (FAZ).
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Bühne


Tobias Moretti in "Rosa oder die barmherzige Erde" am Wiener Akademietheater. Foto: Reinhard Werner/Burgtheater

Die "verschmockteste Bugtheater-Produktion seit Menschgedenken" nennt Ronald Pohl im Standard Luk Percevals "Rosa oder Die barmherzige Erde". Perceval verschränkt darin einen Roman von Dimitri Verhulsts über Demenz mit Shakespeares "Romeo und Julia". Tobias Moretti spielt einen Mann, der freiwillig in ein Heim für Vergessliche geht, um der Erinnerung an seine frühere Geliebte zu entgehen. Das Drama findet Pohl arg ausgedacht, aber Moretti gibt einen der großen Verweigerer in der Moderne: "Er schlurft in dicken Wollsocken über die Drehbühne, während die Pfleger sozusagen erste Reihe fußfrei über ihn zu Gericht sitzen. Das Haar steht ihm zu Berge wie einem noch nicht gar so alten König Lear auf der Heide. Vor allem aber entwickelt er eine wahrhaft königliche Renitenz, die noch das Entgleiten der eigenen Vernunft in stummer Erhabenheit hinnimmt." Ähnlich sieht das Martin Lhotzky in der FAZ. In der Nachtkritik vermisst Andrea Heinz Dringlichkeit.

Besprochen werden Amir Reza Koohestanis Adaption von Yasmina Khadras "Attentäterin" über eine palästinensische Selbstmordattentäterin für die Münschner Kammerspiele (SZ), Malte Lachmanns Inszenierung "Quality Land" nach dem Roman von Marc-Uwe Kling am Schauspiel Hannover (taz) Pınar Karabuluts Travestie "The Great Tragedy of Female Power" im Theater Neumarkt (NZZ), Opern von Prokofjew und Dai Fujikura am Theater Basel (NZZ), Michael McCarthys Inszenierung von Händels Löwenherz-Oper "Ricardo Primo" in Magdeburg (FAZ).
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Literatur

95 Prozent aller Flüchtlinge wandern in Sozialsysteme ein. Als politische Opposition bestehen nur noch AfD und Linke. Die Mainstream-Medien sind links, brennende Autos hingegen nicht und alle hassen Ost-Deutschland - mit diesen in einem Gespräch mit Durs Grünbein vorgetragenen Positionen sorgte Uwe Tellkamp am Wochenende für eine Kontroverse, die sich durch eine Distanzierung seines Verlages Suhrkamp zum Eklat auswuchs (hier unser Resümee), der die Feuilletons auch heute beschäftigt. In der NZZ wünscht sich Roman Bucheli mehr Debatten solcher Art. "Es muss nicht weniger, sondern mehr gestritten werden", fordert auch Ulf Poschardt in der Welt. Hilmar Klute ärgert sich in der SZ über das seiner Ansicht nach Tellkamp voreilig aufgedrückte "Brandzeichen AfD". Den Dresdner Abend hält er für einen Glücksfall: Genau so eine Diskussion, in dieser Form benötige "dieses intellektuell lahmarschig gewordene Land dringend: Zwei wortmächtige Schriftsteller tragen jenen Kampf aus, der sonst von Protagonisten des deutschen Geistes mit heruntergeklapptem Visier begleitet wird oder gleich den halbanonymen 280-Zeichen-Adornos überlassen bleibt. Was kann den Zorn, der auf diesem Land liegt, eindrucksvoller abbilden als zwei Antipoden, die mit ihren jeweiligen Leidenschaften auf offener Bühne versuchen, die Sachlage zuzuspitzen, wie Tellkamp es tat, und zu ordnen, wie es sich Grünbein vornahm?"

Simon Strauß staunt in der FAZ Bauklötze über Tellkamps hervorgekehrten Ost-Patriotismus - war doch sonst das Erkennungsmerkmal des nationalen Konservatismus der "positive Bezug" auf das wiedervereinigte Deutschland. Tellkamp hingegen "zieht einen gewissen Stolz aus der Segregation, dem Verachtet-Sein, sein Patriotismus versteht sich ganz selbstverständlich rein regional und nicht national. ... Ist dafür vor neunundzwanzig Jahren die Mauer gefallen, wurde dafür das symbolische Risiko eingegangen, den Bundestag nach Berlin zu verlegen, dass wir jetzt wieder von 'Ostdeutschland' sprechen, als wäre nichts weiter dabei, als gäbe es keine gemeinsame Zukunft?"

Kurz vor der Leipziger Buchmesse, bei der Rumänien Gastland sein wird, hat sich Bert Rebhandl für den Standard eingehender mit rumänischen Neuveröffentlichungen befasst: Ein allgemeines Fazit kann er kaum ziehen, schreibt er, doch "ein gewisser Hang zum anarchischen Erzählen scheint in der rumänischen Sprache ganz gute Voraussetzungen vorzufinden."

Weitere Artikel: Reinhard Wolff porträtiert in der taz die norwegische Journalistin Åsne Seierstad, die bei der Leipziger Buchmesse den Preis zur Europäischen Verständigung erhält. In der Berliner Zeitung spricht Cornelia Geißler ausführlich mit Bernhard Schlink. In der Welt empfiehlt Hannes Stein die drei "Liebe Fanatiker" überschriebenen, bei Suhrkamp erschienenen Plädoyers von Amos Oz. Der Tagesspiegel bringt einen Auszug aus Rüdiger Schapers Biografie über Alexander von Humboldt.

Besprochen werden Esther Kinskys "Hain" (taz), Isabel Fargo Coles "Die Grüne Grenze" (SZ, Standard), Margaret Atwoods "Aus Neugier und Leidenschaft: Gesammelte Essays" (online nachgereicht von der NZZ), Joshua Cohens "Buch der Zahlen" (Standard), Clemens J. Setz' "Bot. Gespräch ohne Autor" (online nachgereicht von der NZZ), Matthias Senkels "Dunkle Zahlen" (Standard), Georg Kleins "Miakro" (online nachgereicht von der NZZ), Scott Andersons Reportage "Zerbrochene Länder. Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet" (Freitag) und Ian McGuires "Nordwasser" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Norbert Hummelt über Nancy Hüngers Der Abschied ist gemacht":

"wer weiß schon wie es sich ausnimmt
wenn es vorbei ist auch das Warten auf Züge
..."
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Film

Für seinen "Tatort"-Krimi "Stau" wurde Filmemacher Dietrich Brüggemann am Freitag mit dem deutschen Fernsehkrimipreis ausgezeichnet. Paradox daran: Preiswürdige Filme wie "Stau" werde es künftig - da der "Tatort" nicht mehr in Cinemascope gedreht werden darf und die Zahl "experimenteller" Episoden auf zwei pro Jahr beschränkt wurde - nicht mehr ohne weiteres geben. In seiner (für sein Blog ausgearbeiteten) Dankesrede ist dem Filmmacher der Hut hochgegangen: "Was für Vollidioten. ...  Wir stehen in der Blüte eines goldenen TV-Zeitalters, überall auf der Welt entstehen Aufsehen erregende Seriengesamtkunstwerke, und der Boom ist endlich auch in Deutschland angekommen, nach Jahrzehnten der öffentlich-rechtlichen Monokultur kommt endlich Leben in die Bude, auf einmal entstehen hier wirklich tolle Sachen, alle freuen sich, nur die ARD-Programmdirektion hält es für eine gute Idee, den experimentellen Tatort, was immer das sein soll, auf zwei Stück pro Jahr zu beschränken und Cinemascope zu verbieten. Haben die eigentlich den Schuss nicht gehört? Haben die aus dem Untergang der DDR nichts gelernt?"

Weitere Artikel: Dieter Osswald spricht für den Standard mit Drehbuchautor Aaron Sorkin über dessen neuen Film "Molly's Game".

Besprochen werden Luca Guadagninos "Call me by your Name" (Freitag), die von Carrie Brownstein konzipierte Sketch-Serie "Portlandia" (Jungle World), Adrian Goigingers auf Heimmedien veröffentlichter Film "Die beste aller Welten" (SZ) und Alex Garlands auf Netflix veröffentlichter Science-Fiction-Film "Annihilation" (online nachgereicht von der FAZ).
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Musik

Jan Paersch hat für die taz das Hamburger Bandprojekt Station 17 besucht, bei dem Menschen mit Behinderung in Festanstellung musizieren. Gerade hat die Band ihr neues Album "Blink" veröffentlicht, dessen gemeinsam mit der Krautrock-Band Faust eingespielter Opener den Kritiker baff zurücklässt: Die Grundelemente sind ziemlich "spacig", doch "was Marc Huntenburg, ein Künstler mit Down-Syndrom, darüber legt, ist schlicht sensationell. Ein dunkel gemurmelter, gesäuselter Sprechgesang voller Fantasieworte, mal nasal, mal abgründig und basslastig. Wie es sonst nur frühe Songs der deutschen Rocklegende Can mit Sänger Damo Suzuki vermochten, beschwört der Track eine surreale Voodoo-Atmosphäre herauf." Ein kleiner Ausschnitt daraus ist auf Soundcloud zu hören:



Weitere Artikel: Im NZZ-Gespräch mit Ueli Bernays gibt der Schlagzeuger Lucas Niggli Auskunft über das von ihm zusammengestellte Programm des Züricher Taktlos-Festivals. Thomas Schacher stellt in der NZZ das Programm des Mondnacht-Ensembles vor. Im Zündfunk-Feature für den Bayerischen Rundfunk verneigt sich Florian Fricke vor Holger CzukayThe Quietus führt anlässlich der Veröffentlichung von Daniel Spicers Buch "The Turkish Psychedelic Music Explosion: Anadolu Psych (1965-1980)" durch die Welt türkischer Psychedelic-Musik.

Besprochen werden Palmbomen IIs "Memories of Cindy" (Skug), ein Konzert von Bernd Begemann (FR), ein Schubert-Konzert mit Mitsuko Uchida (Tagesspiegel), ein Calexico-Auftritt (Tagesspiegel), ein Auftritt der Kelly Family (Standard) und das Album "Both Sides of the Sky" mit bislang unveröffentlichtem Material von Jimmi Hendrix (FAZ). Auf Pitchfork erinnert Andy Beta außerdem an das 1974 erschienene Album "Get Up With it" von Miles Davis.
Archiv: Musik