15.03.2018. Im Interview mit der Zeit ist Durs Grünbein genervt vom Alarmismus heutiger Debatten. Im Freitag empfiehlt Per Leo im Umgang mit rechten Verlagen: einfach mal taoistisch klug ignorieren. Dass Filme über die Ränder der Gesellschaft nicht grau sein müssen, lernt die begeisterte SZ in Sean Bakers knallbuntem Film "The Florida Project". Die taz sieht mit Andrei Swjaginzews "Loveless" eine postmoderne Variante von Bergmans "Szenen einer Ehe". Die NZZ erliegt dem Zauber der Hyperrealität von Magritte, Dietrich, Rousseau und Co.
Film, 15.03.2018
SeanBaker ist auf "Low-Budget-Geschichten von den Rändern der amerikanischen Gesellschaft" spezialisiert, schreibt Annett Scheffel heute in der SZ in ihrem Porträt des Regisseurs, dessen neuer Film "The Florida Project" heute anläuft. Darin geht es um die verarmten Leute ohne festen Wohnsitz, die in der Nähe von Disney World in Billighotels untergekommen sind: WillemDafoe spielt hier den Vermieter, der versucht eine Horde Kids in den Griff zu kriegen. "The Florida Project" ist gleichermaßen behutsam wie farbenfroh, hältTagesspiegel-Kritiker Andreas Busche fest. Damit bricht der Film mit dem Klischee, "dass Filme über abgehängte soziale Milieus immer mit der Ästhetik des Miserabilismus spielen müssen. Bakers Film sprüht vor Leben, die Farben knallen. ... Die Schönheit dieser Lebenswelten liegt in den Bildern selbst, der Regisseur und sein Kameramann AlexisZabe, der schon mit Carlos Reygadas gearbeitet hat, zwingen sie ihnen nicht auf."
Baker "geht es um die Spannung zwischen der Unverwüstlichkeit der Kinder und den schwierigen sozialen Umständen", erklärt Bert Rebhandl in der FAZ und entdeckt im Kontext von Bakers vorangegangenem Film "Tangerine L.A." (unsere Kritik) ein filmpolitisches Projekt: Der Filmemacher "misst die sozialen Umstände nicht an einem irgendwie anzunehmenden Normalzustand, sondern an den maßgeblichen künstlichen Paradiesen, die Amerika hervorgebracht hat." Für die tazbespricht Jenni Zylka den Film. Martin Schwickert hat sich für ZeitOnline mit Sean Baker unterhalten. Außerdem werden im Berliner Lichtblick-Kino ältere Filme des Regisseurs gezeigt, schreibt Andreas Hartmann in der taz.
Mit "Loveless" ist dem russischen Regisseur Andrei Swjaginzew eine "postmoderne Variante von Bergmans 'Szenen einer Ehe'" geglückt, erklärt Barbara Wurm in der taz, nicht ohne Hinweis darauf, dass bereits der russische Originaltitel - wörtlich: "Nicht-Liebe" - eine wichtige Bedeutungsebene einführt: "Eine Welt ohne Liebe ist etwas, das einem zustoßen kann. Für die Nicht-Liebe ist man selbstverantwortlich." SZ-Kritikerin Martina Knoben bescheinigt dem Film "Endzeitstimmung".
Bereits zum Berliner "Around the World in 14 Films" hat Jochen Werner den Film für den Perlentaucherbesprochen und fand es "frappierend, welch ein Virtuose der filmischen Form der russische Regisseur inzwischen ist. "Loveless" ist ein Schlag in die Magengrube, gezielt und kraftvoll. ..Was auch immer Zvyagintsev im weiten Feld des Gegenwartskinos sein mag: ein Humanist ist er nicht."
Weitere Artikel: Jan Küveler plaudert in der Welt mit AliciaVikander, die in der neuen "Tomb Raider"-Verfilmung Lara Croft spielt. Dominik Kamalzadeh und Michael Pekler berichten im Standard von der Diagonale in Graz, wo sie auf "ungewöhnlicheFrauenbilder" treffen.
Besprochen werden der Bibelfilm "Maria Magdalena" mit JoaquinPhoenix und RooneyMara (Welt, NZZ), RobertSchwentkes Weltkriegs-Actionfilm "Der Hauptmann" (taz), TarikSalehs auf DVD veröffentlichter Thriller "Die Nile Hilton Affäre" (taz), CesareFuresis "Für dich soll's ewig Rosen geben" (SZ), die Serie "Liar" (FAZ) und XavierBeauvois' "Les Gardiennes" (NZZ).
Literatur, 15.03.2018
Die Journalistin und Autorin ÅsneSeierstad wurde gestern Abend für ihr Buch "Einer von uns" über den rechtsradikalen Terroristen AndersBreivik mit dem Europäischen Verständigungspreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Im Tagesspiegelmacht Gerrit Bartels hier Vorbehalte stark: Der Erkenntniswert des Buches bleibe überschaubar, die Rhetorik gerade mitunter zu "reißerisch". Wenn Seierstad über Breiviks politische Enthemmungen schreibt, wirke das "irrlichternd" und werde "von Seierstad zurückhaltend, nüchtern oder auch gar nicht kommentiert. Umso irritierender ist, wenn sie dann die Ereignisse auf Utøya wie einen Thriller erzählt." Die FAZ dokumentiert Verena Luekens (hier auch als PDF-Datei erhältliche) Laudatio auf Seierstad, in deren Breivik-Buch sie "Mosaiksteine eines unschönen Lebens" erblickt. "Reichen sie zur Begründung eines Massenmords?" Hier Seierstads Dankesrede als PDF.
Schade findet es Mladen Gladic im Freitag, dass im Tellkamp-Streit die Position DursGrünbeins bisher so unterbelichtet geblieben ist. - dabei habe der Autor in der Dresdner Debatte doch "die bessere, klügere, sympathischereFigur abgegeben" - und zwar gerade, weil er sich nicht einer zwar medienwirksamen, aber bloß der "Befriedigung" eigener Peer-Groups dienenden Rabauken-Rhetorik bedient hat.
Natürlich haben wir in Deutschland Meinungsfreiheit, meint er im Interview mit der Zeit. Aber es gebe auch "eine geistige Prüderie, einen Alarmismus", die manchmal den Anschein erwecken, man nehme es damit nicht so ernst: "Die Ursünde war 2010 der Umgang mit Thilo Sarrazins Streitschrift 'Deutschland schafft sich ab'. Statt sich mit dem Buch, in dem es viel Diskriminierendes gab, auseinanderzusetzen, wurde der Autor dämonisiert. Ein langgedienter Berufspolitiker, Muster an Staatstreue und bürokratischer Pedanterie wurde über Nacht zur Persona non grata erklärt. Der Vorgang hat mich damals fassungslos gemacht." Auch dass Suhrkamp sich von seinem Autor Tellkamp distanziert hat, findet er nicht unbedingt hilfreich.
Im Freitaggibt Per Leo Tipps zum Umgang mit rechtenVerlagen auf der Leipziger Buchmesse: Linkes Aktivistentum wie auf der Frankfurter Buchmesse führe bloß zu einem weiteren aufmerksamkeitsökonomischen Debakel, sagt er. Die Rechten einfach mal geflissentlich ignorieren, lautet sein Ratschlag: "Würden all jene, die jetzt wort- und gestenreich die 'Gefahr von rechts' beschwören, einfach gar nichts tun, wäre in bester taoistischer Manier alles getan. Ohne ihre Feinde wären die Rechten schließlichauf sich selbst zurückgeworfen. Wie das aussähe, ließ sich in den ruhigeren Momenten der Frankfurter Buchmesse erahnen."
Der Soziologe und Journalist Thomas Wagner, der jüngst "Die Angstmacher" veröffentlichte, ärgert sich in der Welt über die kostenlose PR für rechte Verlage durch Protestaktionen auf der Buchmesse und plädiert dafür, mit Rechten zu reden: "Ich glaube, dass es falsch ist, auf der rechten Seite alles in einen Topf zu schmeißen und keine Unterschiede zu machen zwischen nationalkonservativ, nationalbolschewistisch, faschistisch und so weiter. Ich glaube, dass es für die linke und antifaschistische Seite sehr wohl wichtig wäre, den Gegner kennenzulernen."
Weitere Artikel: Im online nachgereichtenFAS-Interview erklärt Science-Fiction-AutorKimStanleyRobinson Gregor Quack unter anderem die feinen Unterschiede zwischen "climate fiction", "near future science fiction" und "future history". Paul Wrusch resümiert in der taz die Lit.Cologne. Die FAZ hat DietmarDaths Dankesrede zum erstmals verliehenen Günther-Anders-Preis online nachgereicht. Für die SZ stattet Jens Bisky dem Dresdner VerlagVoland & Quist einen Besuch ab. Angela Schrader schreibt in der NZZ zum Tod der Schriftstellerin Emily Nasrallah. Tilman Spreckelsen gratuliert dem SchriftstellerDavidAlbahari in der FAZ zum 70. Geburtstag. Der Freitagbringt eine Leseprobe aus CarryUlreichs während des Zweiten Weltkriegs entstandenem Tagebuch "Nachts träum ich vom Frieden", das Jana Volkmann als Zeitdokument einordnet.
Besprochen werden unter anderem GeorgKleins "Miakro" (Standard), EstherKinskys "Hain" (Standard), Olga Martynovas Essayband "Über die Dummheit der Stunde" (Freitag), der zweite Teil aus VirginieDespentes' "Subutex"-Reihe (Freitag), AnjaKampmanns "Wie hoch die Wasser steigen" (Standard), eine Aristophanes-Neuübersetzung (NZZ), das autobiografische Fragment "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt" der Suhrkamp-Lektorin ElisabethBorchers (SZ) und "Mutterland" von PaulTheroux (FAZ).
Bühne, 15.03.2018
Im Interview mit der SZ erklärt Kuratorin Joanna Warsza ihr Programm für die heute beginnende Performance-Biennale in München.
Besprochen werden Claudia Bossards Grazer Inszenierung von Thomas Melles Stück "Bilder von uns" (nachtkritik), Wagners "Götterdämmerung" in Kiel (nmz), Gottfried von Einems Oper "Der Besuch der alten Dame" am Theater an der Wien (Standard) und die Strauss-Oper "Arabella" in Wiesbaden (FR).
Musik, 15.03.2018
Für TheQuietusholt Michael Hann das vor 30 Jahren erschienene Pixies-Debüt "Surfer Rosa" wieder aus dem Plattenschrank. Hier der Opener daraus:
Besprochen werden das neue Album von YoLaTengo (Skug), ein Auftritt von FranzFerdinand (DiePresse) und ein Jean-Sibelius-Konzert des FinnischenRadio-Symphonieorchesters (FAZ).
Kunst, 15.03.2018
Staunend steht Maria Becker (NZZ) in einer Ausstellung des Kunsthauses Zürich, "die das andere Gesicht der Moderne zeigt. Nicht die Abstrakten, keine Kubisten und Futuristen, sondern Maler, die an der Welt der Dinge festhielten. In einer Zeit, in der es zunehmend schwer wurde, die eigene Existenz in ein stabiles Weltbild einzuordnen, suchten sie Ganzheit, indem sie eine Art Hyperrealität schufen." Eins der Bilder dieser visionären Sachlichkeit, die sie faszinieren, ist André Bauchants "Selbstporträt unter den Dahlien" von 1922: "Die Dahlien, das Laub der Stauden und Bäume sind mit botanischer Akribie ins Bild gesetzt. Auf dem Gesicht des Künstlers liegt ein Ausdruck von Zufriedenheit, der keinen Zweifel kennt. Es ist ein merkwürdiges Bildnis. Ohne eine Spur von Selbstdarstellung überlässt Bauchant den Blumen die Hauptrolle. Er ist der Diener dieses Reichtums."
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