Efeu - Die Kulturrundschau

Der tollste Trennungssong der Saison

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16.03.2018. Die Literaturkritiker sind zufrieden mit den Leipziger Buchpreisen für Esther Kinsky und Karl Schlögel. Derweil geht die Tellkamp- Debatte weiter: Die Rechte war immer Teil des intellektuellen Lebens in Deutschland, erinnert die Welt. Im Deutschlandfunk findet Monika Maron Suhrkamps Distanzierungsversuch von seinem Autor Tellkamp ungeheuerlich. Spon unterzieht Tellkamps Äußerungen einem Faktencheck. Außerdem: Der Freitag feiert eine Filmsensation: Robert Schwentkes "Der Hauptmann". Und Zeit online hört Schizorock von Lucy Dacus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2018 finden Sie hier

Literatur

Die Leipziger Buchmesse hat ihre Preise vergeben: Esther Kinskys "Hain" ist der beste Roman, Karl Schlögels "Das sowjetische Jahrhundert" das beste Sachbuch und Sabine Stöhrs und Juri Durkots Übertragung von Serhij Zhadans Roman "Internat" die beste Übersetzung. Insbesondere Kinskys Auszeichnung freut Gerrit Bartels vom Tagesspiegel: "So reif, mitunter formvollendet dieses Buch ist, kann man diese Wahl nur gutheißen." Auch FR-Kritikerin Judith von Sternburg ist sehr zufrieden: Ausgezeichnet wurde "ein poetischer Wahrnehmungsselbstversuch, eine Art Langessay, in dem es um italienische Landschaften (Gelände!) geht und um das Weitermachen nach dem Tod eines geschätzten Menschen, was im Leben einer Schriftstellerin vor allem das Weiterschreiben meinen muss." Für Deutschlandfunk Kultur hat sich Sigrid Brinkmann mit der Preisträgerin unterhalten.

Andreas Fanizadeh ärgert sich in der taz unterdessen über Sachsens Ministerpräsident Kretschmer, der beim Auftakt der Leipziger Buchmesse Uwe Tellkamp als "kritische Stimme willkommen" geheißen hatte: "Seine demonstrativ zur Schau gestellte Gelassenheit wirft dann doch Fragen auf. Immerhin stigmatisiert Tellkamp in seinen Äußerungen 95 Prozent der Flüchtlinge und Migranten. Vorurteile wird er nicht bekämpfen können, indem er den zurückgelehnten Landesvater mimt und die törichten unter seinen Landeskindern in Schutz nimmt." Auch Judith von Sternburg wundert sich in der FR über Kretschmers Auftritt, der die jüngsten Wallungen in einem "unterlassenen Diskurs" begründet sieht. Doch "welcher Diskurs wurde eigentlich unterlassen", fragt sich Sternburg.

In der FR sieht Harry Nutt die Offenheit der Debatte in Gefahr: Tellkamps und Grünbeins Dresdner Gespräch "treibt seit Tagen eine Erregungsspirale an." Suhrkamps eilige Distanzierung auf Twitter sieht er als Beleg für seine These: "Das souveräne Abwägen von Gedanken, das doch die Königsdisziplin von Intellektuellen, Schriftstellern und ihren Verbreitern sein sollte, ist zu einem knappen Gut geworden. ...Auf Spruch und Widerspruch folgt immer häufiger die mutwillige Flucht in die Opferrolle, die doch ein fester Bestandteil des kindlichen Streitrepertoires ist." Rückendeckung erfährt Tellkamp währenddessen von der Schriftstellerin Monika Maron, die Suhrkamps Verhalten im Dlf für "eine Ungeheuerlichkeit" hält.

Informiert euch bei den Rechten, vielleicht erlebt ihr ja positive Überraschungen, ruft Tilman Krause in der Welt jenen zu, die er als "vermufftes Gesinnungsprüfertum von links" bezeichnet: "Die Rechten gehörten immer zum intellektuellen Leben in diesem Land. Dass sie einige Jahrzehnte wenig daran Teil hatten, war kein Zeichen von Normalität, sondern das Gegenteil davon. (...) Interesse an rechter Literatur und Publizistik aufzubringen, ist geradezu eine Bringschuld der Linken." In einem weiteren Welt-Artikel plädiert Krause für ein "modernes Nationalbewusstsein", das "geteilte Erfahrungen und Erinnerungen, das Gelungene wie auch das nicht Gelungene" beinhaltet.

Almut Cieschinger unterzieht Tellkamps Dresdner Äußerungen unterdessen für SpiegelOnline einem Faktencheck. Ihr Fazit insbesondere zu Tellkamps Äußerungen über Flüchtlinge: "Tellkamp ermahnt zwar seinen Kollegen Durs Grünbein, bei den Fakten zu bleiben, nimmt es damit aber selbst nicht genau."

Andreas Breitenstein hat sich für die NZZ mit dem serbischen Schriftsteller David Albahari getroffen, der gerade seinen 70. Geburstag feiert. Das Älterwerden schlägt sich auch ganz konkret in der Arbeit nieder, bekennt Albahari im Gespräch: "Man ist zwangsläufig mit einer Erfahrung konfrontiert, welche die Schönheit des Schreibens zu beschädigen droht. Denn das Schreiben ist ein Prozess des Entdeckens." Doch "wenn der Entdeckerehrgeiz schwindet, beginnt das Schreiben an Kraft zu verlieren. ... Die Bücher werden kürzer, denn es ist vom Gedächtnis her schwieriger, die Regie über große Stoffvolumen zu behalten." Passend dazu bringt die NZZ Albaharis Kürzest-Geschichte "Peter Handke".

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel besucht Katrin Hillgruber den rumänischen Schriftsteller Cătălin Mihuleac, dessen Roman "Oxenberg & Bernstein" in Leipzig für die beste Übersetzung nominiert war (ein Gespräch mit dem Übersetzer, dem Lyriker Ernest Wichner, führte Susanne Führer für Deutschlandfunk Kultur). Barbi Marković schreibt im Freitext-Blog auf ZeitOnline eine Geschichte über das neue Belgrader Luxusviertel Eagle Hills. Die FR bringt Wilhelm Sternburgs Kapitel über Erich Maria Remarque aus dessen neuem Porträtband "Über Geist und Macht". Online nachgereicht erinnert sich Theo Stemmler in der FAZ an Mickey Spillanes Ermittlerfigur Mike Hammer. Hans Magnus Enzensberger widmet sich in der NZZ der Frühgeschichte des Zahnarzt-Berufs. Andreas Platthaus (FAZ) und Lars von Törne (Tagesspiegel) gratulieren Comiczeichner Gerhard Seyfried zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Monika Marons "Munin oder Chaos im Kopf" (Tagesspiegel), Julia Schochs "Schöne Seelen und Komplizen" (SZ), Anja Kampmanns "Wie hoch die Wasser steigen" (FAZ), Georg Kleins "Miakro" (Zeit), Ayelet Gundar-Goshens "Die Lügnerin" (NZZ), Andreas Maiers "Die Universität" (NZZ) und Claudia Rankines Langgedicht "Citizen" (ZeitOnline).
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Bühne

Dirigent Michael Boder, der gerade am Theater an der Wien Gottfried von Einems Oper "Der Besuch der alten Dame" leitet, erklärt im Gespräch mit dem Standard, warum er, wenn schon historisch, lieber im 20. als im 18. Jahrhundert Stücke ausgräbt: "Denn das 20. Jahrhundert scheint ja nicht so recht vergehen zu wollen, wie man allerorten feststellen kann. Also ist auch dieses Werk überaus aktuell. Was seinen Stil betrifft: Man hat ihm Eklektizismus vorgeworfen. Wenn man es Polystilistik nennt, dann klingt es schon eher wie die Vorwegnahme der Postmoderne. Und so wie die Bilder von Mark Rothko neben jenen von Andy Warhol im Museum hängen dürften, so dürfen auch von Einem und Pierre Boulez zur gleichen Zeit Musik machen ..."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel freut sich Frederik Hanssen auf das ehrgeizige neue Programm der Berliner Staatsoper, das der frisch gebackene Intendant Matthias Schulz und Daniel Barenboim vorstellten.  

Besprochen werden Hans Werner Henzes "Floß der Medusa" in Amsterdam (nmz) und die Uraufführung von Julia Haennis Stück "Frau im Wald" am Theater Marie in Aarau (nachtkritik).
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Film



Angesichts der "Zeitgeschichtsverwurstung", auf die sich das deutsche Kino spezialisiert hat, wenn es darum geht, historische Stoffe auf die Leinwand zu bringen, hält Freitag-Kritiker Matthias Dell Robert Schwentkes "Der Hauptmann" für eine "Sensation": Erzählt wird darin von einem jungen Gefreiten (Max Hubacher) im Zweiten Weltkrieg, der eine Uniform findet, sie sich überstreift und als vermeintlicher Befehlshaber immer brutaler Gefangene exekutieren lässt: "Es mag absurd erscheinen angesichts der hackenschlagenden Historienfestspiele mit blank gewichsten Nazi-Uniformen vor schreienden Führerfiguren, die das deutsche Kino so häufig und schematisch aufführt, aber 'Der Hauptmann' erzählt tatsächlich etwas Neues. Der Film will sich aus dem Sumpf der deutschen Geschichte nicht an den Haaren des vermeintlich Heldenhaften ziehen. Die entlastende Trennung, die das (west-)deutsche Nachkriegskino geprägt hat, den fiesen SS-Schergen im Film immer auch 'gute Nazis' gegenüberzustellen, entfällt hier."

Auch Christian Schröder vom Tagesspiegel zeigt sich beeindruckt: "Warum viele deutsche Soldaten noch bis über Hitlers Selbstmord hinaus für den Endsieg in einem längst verlorenen Krieg kämpften, ist eine Frage, die bis heute nicht überzeugend beantwortet wurde. Aus Angst, Opportunismus, Überzeugung? 'Der Hauptmann' zeigt, warum Männer wie Willi Herold gemordet haben: weil sie es konnten."

Besprochen werden Sean Bakers "The Florida Project" (für den sich FR-Kritiker Daniel Kothenschulte genauso begeistert wie seine Kollegen in den ersten Besprechungen gestern und Nicolai Bühnemann im Perlentaucher heute) Andrei Swjaginzews "Loveless" (Tagesspiegel, Zeit, mehr dazu im gestrigen Efeu), der neue "Tomb Raider"-Film um die Vidoespielfigur Lara Croft (FR, critic.de, Perlentaucher), Philipp Eichholtz' Coming-of-Age-Drama "Rückenwind von vorn" (Tagesspiegel), der Bibelfilm "Maria Magdalena" mit Rooney Mara und Joaquin Phoenix (Tagesspiegel) und die Arte-Serie "Ende einer Legende" (FR).
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Musik

Sehr zwiegespalten ist Detlef Diederichsen in der taz das neue Album des Jazzpianisten Brad Mehldau, der sich mit der Musik Johann Sebastian Bachs auseinanderstetzt: Er hört "unerwartete, überzeugende Wendungen neben Clustern der Banalität, des Abgeschmackten" und originelle "harmonische Lösungen" neben "neoimpressionistischem Kitsch", während "gedankliche Sackgassen mit chromatischem Pipifax" verdeckt würden. "Eine verdammenswerte, aus musikalischer Unsensibilität geborene Marketing-Mistidee? Ja, aber voller hinreißender, höchst charmant über die Rampe gebrachter spontaner musikalischer Genieblitze - zu Bach, zu Jazz, zur Harmonielehre, zur Welt."

"Über alle Maßen berührt" zeigt sich Jens Balzer in der ZeitOnline-Popkolumne von Lucy Dacus' zweitem Album "Historian", das unter anderem den "tollsten Trennungssong der Saison" beinhaltet. Dacus' stimmlicher Wohlklang führt dabei auf eine falsche Fährte: "Ihre Songs sind wie Tagebucheinträge aus einem beschädigten Leben, doch zu dem zornigen, sich gleichsam nie in den Vordergrund drängenden Spiel ihres Gitarristen Jacob Blizzard singt sie von Schmerz, Verlust, Verzweiflung und Abscheu. ... Dieser Schizorock ist die aufregendste Gitarrenmusik der Stunde."



Die ursprünglich nur wegen Restaurationsbetrieb als Ausweichort nötig gewordene Tonhalle Maag erfreut sich zunehmender Beliebtheit, berichtet Christian Wildhagen in der NZZ aus Zürich: Schon werden Wünsche laut, das Haus doch auch nach 2020 noch zu nutzen: "Wie in Hamburg hat man in einer ehedem abgewirtschafteten Stadtregion eine Hardware geschaffen, die einerseits nach intelligenter Software verlangt, die andrerseits aber auch selbst, darin prinzipiell der Elbphilharmonie vergleichbar, so attraktiv ist, dass sie das Musikleben der Stadt unerwartet öffnet und verändert. ...  Die Tonhalle Maag empfängt (und umfängt) jeden sofort mit ihrem postindustriellen Charme."

Weitere Artikel: Christopher Warmuth spricht für den Tagesspiegel mit Berno Odo Polzer, dem Leiter des Berliner MaerzMusik-Festivals. Lilli Heinemann trifft sich für die SZ mit der Sängerin Dillon. Für die FAZ führt Jürgen Kesting ein großes Gespräch mit der Sängerin Christa Ludwig, die heute 90 Jahre alt wird.

Besprochen werden Sam Vance-Laws "Homotopia" (taz), das neue Album "Cocoa Sugar" der Young Fathers (taz), eine Ausstellung zu 90 Jahren Popmusik in Deutschland im Museum für Kommunikation in Berlin (Berliner Zeitung) und ein Konzert des Houston Symphony Orchestra unter Andrés Orozco-Estradá (Tagesspiegel).
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Kunst


Bruce Nauman, One Hundred Live and Die, 1984. © Bruce Nauman

Der Künstler als Scharlatan, als Lügner? Auch so kann man Kunst machen, lernt Philipp Meier (NZZ) in der großen Retrospektive von Bruce Nauman im Schaulager Basel: "Der Künstler, will er das Unmögliche fassen, kann nur Scharlatan und Lügner sein. Und so erinnert Naumans eigene Tätigkeit manchmal an das aus der Antike bekannte Paradoxon: Sagt ein Lügner, wenn er sich selbst als Lügner bezeichnet, die Wahrheit? In Lügen hat sich Nauman ganz bewusst versucht: Seine psychedelisch gleißende, falsche Erleuchtung verheißende Neonspirale 'The true artist helps the world by revealing magic truths' etwa ist eine solche. Nauman glaubt wohl selber nicht, was er da aussagt. Er bezeichnet damit vielmehr die Unmöglichkeit aller Kunst, eine solche Aufgabe zu erfüllen. Nur wer die metaphysische Sehnsucht als Mangel kultiviert, kann folglich Kunst machen, die einen solchen Namen verdient."

Weitere Artikel: In Manhattan ist ein neuer Banksy aufgetaucht, meldet die Presse. Das Berliner Käthe-Kollwitz-Museum, das einem Exil-Museum weichen muss, hat ein neues Haus gefunden, meldet der Tagesspiegel.

Besprochen werden eine Ausstellung zu 90 Jahren Popmusik in Deutschland im Berliner Museum für Kommunikation (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "In ganzer Größe. Porträts von Tizian bis Tischbein" im Kasseler Schloß Wilhelmshöhe (FAZ).
Archiv: Kunst