Efeu - Die Kulturrundschau

Es eskaliert so vor sich hin

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.03.2018. taz und FAZ bewundert im Kunstmuseum Wolfsburg die Bilder des Fotoreporters Robert Lebeck, die der Stern nicht zeigte, wahrscheinlich weil sie zu komplex waren: Zum Beispiel Rudi Dutscke 1968 in Prag. Der Guardian gerät in Nottingham Bann von Linder Sterlings magischen Punk-Masken. Bei der MaerzMusik schaudert die SZ Komposition unter den schroffen Gesten in Georges Aperghis' Komposition "Migrants". Außerdem stellt sie das feministische Theaterkollektiv Henrike Iglesias vor. In der Jungle World sucht  der Konzertveranstalter Berthold Seliger vergeblich nach jungen Opernbesuchern im Silbersee.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2018 finden Sie hier

Kunst


Rudi Dutschke bei einer Rede in der Prager Karls-Universität, 3. April 1968 © Archiv Robert Lebeck

Ziemlich aufregend findet Brigitte Werneburg in der taz die Ausstellung "Robert Lebeck 1968" im Kunstmuseum Wolfsburg, und zwar auch weil sie all die atmosphärischen Bilder des großen Fotojournalisten zeigt, die der Stern für eine Veröffentlichung zu komplex fand: "Robert Lebecks Aufnahmen zeigen ihn als 'Maler des modernen Lebens', als den Baudelaire den großen Künstler definierte. Und er ist es besonders dort, wo er sagt: 'Als in Paris die Barrikaden brannten, arbeitete ich in Florida an einer Serie über zwei ermordete Studentinnen; während Studenten vor dem Springer-Hochhaus demonstrierten, fotografierte ich die Taufe von Hildegard Knefs Kind; und als die Russen in Prag einmarschierten, begleitet ich gerade den Papst nach Bogotá.' Nur im Kunstmuseum kann Lebecks hinreißendes Porträt von Rudi Dutschke und seiner Frau Gretchen, wie sie auf der Rückbank eines schicken Cabriolets durch Prag gefahren werden, verstanden werden: als ein Bild aus dem Roman der jungen BRD, in den Tagen einer neuen, noch unbegriffenen internationalen Solidarität."

FAZ-Kritiker Andreas Kilb nimmt eine beunruhigende Erkenntnis aus der Ausstellung mit: "Dass ein Bild, das kein Ereignis, sondern einen Zustand zeigt, immer neu beschrieben und benutzt werden kann." 


Linder Sterling, Pythia, 2017. Courtesy the artist and Stuart Shave/Modern Art. Devonshire Collection, Chatsworth.

Das Kunsthaus Nottigham Contemporary zeigt die surrealen, bedrohlichen Träume, die Linder Sterling in Szene setzt, seit sie 1977 zum ersten Mal ihre Freunde von der Punkband Buzzcocks mit erotischen Masken ausstattete. Im Guardian ist Jonathan Jones einfach hingerissen von Sterlings wilder Kunst: "Linder will kein Kunststar sein. Stellen Sie sich diese Zeile zu einer Gitarre und wummernden Drums vor. Sie will kein kulturelles Totem sein. Statt einer Ausstellung über sich selbst, hat sie ihre Retrospektive als eine Erkundung aufgebaut: Wer hat sie beeinflusst? Wer hat sie begeistert? Sie teilt die Bühne mit ihren Helden, Geistern und - so scheint es - jedem, den sie bewundert. Es funktioniert auf magische Weise. Ihre Punk-Masken von 1977 sind durch und durch fremd und unheimlich. Es vergrößert ihre Macht, dass sie neben Zeichnungen von Feuergeistern und Wassergöttern  gezeigt werden. Inigo Jones hat sie im frühen 17. Jahrhundert als Kostüme und Masken am Hofe James I entworfen."  

Weitere Artikel: SZ-Kritiker Peter Richter versichert: Die große Irving-Penn-Retrospektive ist im Berliner C/O "noch besser, noch schöner, noch großzügiger und dadurch noch zwingender" als im New Yorker Metropolitan Museum. Ziemlich konfus, lückenhaft und überhaupt nicht überzeugend findet Alexander Menden die Schau "All Too Human" in der Londoner Tate, die Francis Bacon, Lucian Freud, Frank Auerbach, Michael Andrews und Kitaj zu einer britischen Bewegung neuer Porträtkunst zusammenschließen will.

Besprochen werden die große Keith-Haring-Schau in der Wiener Albertina (FR), die Ausstellung zu Paul Klee in der Münchner Pinakothek der Moderne (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne


Henrike Iglesias mit "1968" an den Münchner Kammerspielen. Foto: Julian Baumann

In der SZ stellt Tatjana Michel das feministische Theaterkollektiv Henrike Iglesias vor, das Pop und digitale Kultur mit antidramatischer Subjektivität verbindet, wie zum Beispiel beim Episoden-Abend "1968" in den Münchner Kammerspielen: "Die Umstände, über die sie sprechen, sind deprimierend: Nur 22 Prozent der Intendanzen am Theater haben Frauen inne, 70 Prozent der Stücke, die auf die Bühnen kommen, stammen von Männern. Doch die Inszenierung selbst ist alles andere als deprimierend. Die Superheldinnenkostüme von Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan und Sophia Schroth sind aus knallbunten Pailletten, Netz, Tüll und Samt. Sie tragen ausladende Perücken, viel Schminke und zwei von ihnen Hahnenkämme auf dem Kopf. Im Laufe der Performance fangen die Brüste von Anna Fries an zu blinken, und alle vier lassen regenbogenfarbene Sprungfedern von ihrem Schritt aus nach unten baumeln. Viel Disco-Nebel wabert um sie herum, Schweinwerfer strahlen sie von hinten an."

Besprochen werden Peter Arps düsteres Dokumentarstück "Srebrenica" im Salzburger Schauspielhaus (Standard), Stück von Paulus Hochgatterer und dem Puppen-Virtuosen Nikolaus Habjan über den Dirigenten Karl Böhm im Schauspielhaus Graz (Standard), Wagners "Parsifal" von Dieter Dorn und Simon Rattle in Baden-Baden (SZ), Puccinis "Tosca" von Michael Sturminger und Christian Thielemann bei den Osterfestspielen in Salzburg (FAZ), Verdis "Falstaff" an der Staatsoper (taz, Tagesspiegel).
Archiv: Bühne

Film


Wie aus einem Gemälde von William Turner: Die AMC-Serie "The Terror"

Am Ende der neuen, auf dem gleichnamigen Roman von Dan Simmons basierender AMC-Serie "The Terror" sind alle tot - das ist kein Spoiler, sondern historischer Fakt, es geht nämlich um die britischen Polarexpeditionen der Schiffe HMS Erebus und HMS Terror im Jahr 1845, die in einer grausamen Tragödie endeten. Trotzdem kommt Spannung auf, versichert Dirk Peitz auf ZeitOnline, denn "das Lustige ist, dass man im Fall von 'The Terror' nach dem Betrachten von vier Folgen zu dem Ergebnis kommt: Fast jede konkrete Antwort wäre ein Spoiler. Es eskaliert so vor sich hin in den ersten Episoden, die Seeleute frieren nicht nur unheimlich, es wird ihnen auch unheimlich." Denn "das Dräuen funktioniert anfänglich gut, doch ist in diesem Augenblick noch nicht klar, ob die Unendlichkeit des Eises ein filmisches oder ein dramaturgisches Problem von 'The Terror' werden könnte." In der FAZ lobt Claudia Reinard die visuellen Qualitäten der Serie: "Kameramann Florian Hoffmeister findet in den ersten beiden Folgen Bilder, die einer albtraumhaften Version eines Gemäldes von William Turner gleichen."

Weiteres: Peter von Becker (Tagesspiegel) und Simon Strauss (FAZ) gratulieren dem Schauspieler Edgar Selge zum 70. Geburtstag.
Archiv: Film

Literatur

Harry Nutt war für die Berliner Zeitung bei einer Veranstaltung, bei der Eugen Gomringer und Vertreter der Alice-Salomon-Hochschule miteinander sprachen - "neue Argumente" waren jedoch "nicht zu hören", schreibt er. Ihm stieß vor allem die Haltung der Hochschulleitung auf: "Die Vertreterinnen der Hochschule verschanzen sich hinter einem nachträglich konstruierten demokratischen Verfahren, das nun eine Art Verteilungsgerechtigkeit unter künftig zu wählenden Gedichten herstellen soll. Man habe nichts gegen Herrn Gomringer, von Zensur könne keine Rede sein. Die Debatte stelle einen Bildungsprozess dar, der schließlich zu einem guten Ergebnis geführt habe. Dem widersprach die im Publikum anwesende Ehefrau Eugen Gomringers vehement: 'Sie wissen gar nicht, was Sie für ein Feuer entfacht haben.' Frau Roth rang sich eine verdruckste Entschuldigung ab".

Am schlimmsten fand Gregor Dotzauer im Tagesspiegel die Vertreterin des Asta, die sich hinter einem Pseudonym verschanzte: "Niemand wird gezwungen, auf Panels seinen Kopf hinzuhalten, aber wer es ohne Namen tut und zugleich volles Rederecht beansprucht, hat die Struktur demokratischer Prozesse von Grund auf missverstanden."

Weiteres: Sabine Kebir berichtet im Freitag von einem Fundstück aus der DDR, als Christa Wolf sich für psychosomatische Phänomene interessierte und die Wissenschaft das Gespräch mit ihr suchte. Claudia Mäder (NZZ) und Jan Wiele (FAZ) berichten vom Schweizer Literaturfestival "Eventi letterari" auf dem Monte Verità, bei dem sich Schriftsteller und Philosophen über das Thema "Utopie von der Natur" austauschten. In der taz stellt Frank Keil das von Jörg Meyer kuratierte Kieler Lyriktelefon (0431/901-1156) vor, bei dem Autoren ihre Gedichte vorlesen und dessen Dienste man auch online nutzen kann. Gegründet hat es 1978 der heutige Radioredakteur Michael Augustin, mit dem Frank Keil zusätzlich ein Gespräch geführt hat.

Besprochen werden unter anderem Martin Walsers "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte" (NZZ), Hansjörg Schneiders Autobiografie "Kind der Aare" (NZZ), Rétif de la Bretonnes Ende des 18. Jahrhunderts verfasstes Buch "Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz" (SZ), Joan Didions "Süden und Westen. Notizen" (ZeitOnline) und John Darnielles "Rekorder" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Architektur

In der SZ berichtet Joseph Hanimann von Plänen in Paris, von privaten Investoren Brücken über die Seine oder den Boulevard péripherique bauen zu lassen.
Archiv: Architektur

Musik


Georges Aperghis (Bild: Kai Bienert/Berliner Festspiele)

Seine bei der Berliner Maerzmusik aufgeführte Komposition "Migrants" hat Georges Aperghis nicht nur den an den Küsten Europas tot angeschwemmten Flüchtlingen gewidmet, sondern auch jenen, die mit unsicherem Aufenthaltsstatus durch Europa geistern, berichtet ein von dem Werk sehr überzeugter Wolfgang Schreiber in der SZ: "Es sind die schroffsten musikalischen Gesten, die selbst den geübten Hörer der Gegenwartsmusik überraschen. Es entsteht ein Klangraum der Ausweglosigkeit und Angst, der unvermittelt in die Ohren dringt. Was Aperghis den tiefen Streichern an brachialen, fetzenden Wendungen abverlangt, was er den Geigen an stranguliertem Ausdruck, Schrei oder Wimmern in höchsten Lagen abfordert, lässt schaudern, ohne dass die kaum zu verstehenden Texte vermisst würden."

Deprimierende und erstaunlich selten thematisierte Fakten über den klassischen Musikbetrieb nennt Berthold Seliger (Autor des Buchs "Klassikkampf") im Gespräch mit Reinhard Jellen von der Jungen Welt: "Die Zahl der Konzertbesucher der klassischen Orchester steigt seit Jahren nicht und kann überhaupt nur durch eine höhere Anzahl von Konzerten auf gleichem Niveau gehalten werden. Die Zahl der Opernbesucher sinkt dramatisch, verglichen mit 1991 haben die Opern fast die Hälfte ihres Publikums verloren. Vor allem aber: Die jungen Leute bleiben weg. Vierundneunzig Prozent der unter 25-Jährigen haben im letzten Jahr weder Opernaufführungen noch Klassikkonzerte besucht. Was bleibt, ist der 'Silbersee' in den Klassikkonzerten."

Weitere Artikel: Über den matten Skandal, dass Heino CDU-Politikerin Ina Scharrenbach eine alte LP als Geschenk übergeben hat, auf dem der Sänger einige Stücke singt, die auch bei der SS populär waren, kann Jens Balzer auf ZeitOnline nur müde mit den Achseln zucken: Wo bleibt der Nachrichtenwert? Heino war schon immer ein rechter Heimatpfleger - und damit phasenweise immens populär, ob nun beim Stammpublikum oder ironischen Punks. Pitchfork informiert uns, welche großartigen neuen Platten wir im letzten Winter verpasst haben. Im vergangenen Jahr erzielte die US-Musikindustrie erstmals seit 2011 wieder höhere Umsätze mit dem Verkauf physischer Tonträger als mit Downloads, meldet The Quietus.

Besprochen werden das CD-Debüt der Violinistin Eldbjørg Hemsing (Zeit), eine Box zum Schaffen Holger Czukays (Pitchfork), der Abschluss des Lucerne Festivals mit Riccardo Chailly, Matthias Pintscher und Mariss Jansons dirigierten Konzerten (NZZ)
und neue Afropop-Veröffentlichungen, darunter Oumou Sangarés "Mogoya Remixed" (SZ). Daraus eine Hörprobe:


Archiv: Musik